Werden die großen und wichtigen Probleme der christlichen Theologie in den Blick genommen, über die eingehend gestritten und diskutiert wird, dann richtet sich das Augenmerk rasch auf die Vorstellung einer Stellvertretung Christi für den sündigen Menschen. "Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, daß Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren", so schreibt der Apostel Paulus im fünften Kapitel des Briefes an die Römer (Röm 5,8). Was heißt aber, dass Christus "für uns" gestorben ist? An unserer Stelle? Als Opfer für uns? Als Kompensation für unsere Vergehen? Ist er stellvertretend für uns gestorben? Stephan Schaede geht in seiner Dissertation aus dem Jahr 2002 dieser Frage auf den Grund, indem er den Weg dazu ebnen will, in sachkundiger Weise den Begriff Stellvertretung zu verwenden. Er fragt deshalb nach dessen semantischen Potentialen. Da in der gegenwärtigen theologischen Theoriebildung der Begriff umstritten sei und deshalb der Gedanke der Stellvertretung nicht präzise ausgedrückt werden könne, gilt es für Schaede, der Theologie den ihr wohlbekannten Begriff adäquat bereitzustellen.
Dieses Ziel verfolgt er, indem er zunächst "Einblicke in [die] verwickelte lateinische Vorgeschichte" des Begriffs Stellvertretung ermöglicht. Diese bilden den ersten Teil seines Buches, der sich über knapp 270 Seiten erstreckt. Darin bespricht er die Begriffe "Vicariatio", "Vicariatus", "Substitutio", "Subrogatio", "Procuratio", "Repraesentatio", "Lociservatura", "Locitenentia" und "Intercessio" und fragt nach deren "semantischen Entwicklungen und Dimensionen" (S. 7). Dabei untersucht Schaede die Verwendung dieser Ausdrücke im antiken Schrifttum und verfolgt anschließend deren Gebrauch durch die altkirchliche und mittelalterliche theologische Literatur. Abgerundet wird der Teil durch "Eine teminologische Zwischenbemerkung" (S. 268ff.). Er kommt zu dem Ergebnis, dass der Begriff Stellvertretung "bei seiner Einführung [nicht] mit einer bestimmten, eindeutig bestimmbaren Semantik verknüpft" (S. 268) war. Deshalb müsse jeder, der sich des Ausdrucks bediene, zunächst Rechenschaft darüber ablegen, was damit bezeichnet werden soll. Allerdings sollte eine moderne Verwendung die semantischen Merkmale beachten, die die Vorgeschichte des Begriffs bereitstelle (Wechsel einer Stelle, eines Ortes; Vertretungsmotiv).
Im zweiten Hauptteil des Buches ("Abschied von Anselm. Studien zur Anbahnung, Etablierung und Krise des Ausdrucks Stellvertretung in soteriologischem Zusammenhang", S. 271-624) untersucht Schaede, "wie das Stellvertretungsmotiv allmählich über die lateinischen Vorläufer des Ausdrucks Stellvertretung in soteriologischem Zusammenhang adaptiert wurde, wie sich dann der Ausdruck Stellvertretung selbst etablieren konnte und was die qualifizierte Krise kennzeichnet und für die Soteriologie bedeutsam macht, in die der Ausdruck Stellvertretung der Sache nach in der Religionsschrift Kants geriet" (S. 271). Da laut Schaede die "Geschichte und Vorgeschichte der Etablierung des Ausdrucks Stellvertretung in soteriologischem Kontext […] im Grunde die Geschichte einer selten intendierten, in der Regel gar nicht bewußt vollzogenen Distanzierung vom Satisfaktionsmotiv [also] ein langwieriger Abschied von Anselm" (S. 273) ist, setzt die Untersuchung in ihrem zweiten Teil mit einer auf den Beitrag des Bischofs von Canterbury zum Begriff Stellvertretung zielenden Darstellung seiner Soteriologie ein. Allerdings weise Anselms Satisfaktionslehre nur das "Stellvertretungsmotiv anbahnende Momente" (S. 308) auf, kämpfe im Grunde jedoch latent gegen es an (S. 309).
Den Abschied von Anselm sieht Schaede im weiteren Verlauf der Untersuchung durch Martin Luther und Johannes Calvin vorangetrieben. Allerdings erkennt er bei beiden hinsichtlich des Stellvertretungsmotivs Defizite. Immerhin zeige Luthers Gedanke des fröhlichen Wechsels trotz aller Divergenzen eine gewisse Affinität zum Stellvertretungsmotiv (S. 346f.), während Calvins "Gerechtigskeitshygiene" (S. 392), es verhindere, dass dieser "die Überlegenheit Christi […] als die eines Stellvertreters [denkt], in welchem Gott und Mensch sich wechselseitig neu entdecken" (S. 393). In den folgenden Kapiteln des Buches führt Schaede die weitere Geschichte des Motivs vor, indem er die lutherische Bekenntnisbildung (Melanchthon, Chemnitz, Konkordienformel) und die "Defensio fidei catholicae de satisfactione" des Hugo Grotius bespricht. Dieser habe für den Begriff Stellvertretung eine "Pionierleistung" (S. 410) erbracht, indem es "verstanden hat, die theologische Sprache zu bereichern und das Problembewußtsein erheblich zu schärfen" (S. 453). Bei ihm sei besonders gut zu konstatieren, "daß zwischen dem Stellvertretungs- und Strafmotiv in soteriologischem Zusammenhang eine Affinität" bestünde (S. 455).
Die weitere Geschichte des Begriffs führt über seine Verwendung im Zeitalter der Orthodoxie (Schaede bespricht z.B. Hafenreffer, Calixt, Hutter, Gerhard, Calov, Keckermann, Polanus, Wolleb) zu Siegmund Jacob Baumgarten, bei dem "erstmals der Sache nach und terminologisch von der Stellvertretung Christi die Rede" sei (S. 548). Im § 19 von dessen "Evangelischer Glaubenslehre" "wird das Verbalnomen Stellvertretung zum ersten Mal greifbar" (S. 550), um in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein geteiltes Echo zu finden. So schreibt Schaede die Geschichte des Begriffs zwischen Etablierung und Kritik weiter und illustriert dies an der Haltung von Theologen wie Semler, Teller, Eberhard und anderen. In eine qualifizierte Krise gerät der Begriff allerdings erst durch Immanuel Kant und dessen Religionsschrift. Diese gebe der gegenwärtigen Theologie die bleibende Frage auf, "ob überhaupt und wenn ja, wie denn eigentlich ohne den Stellvertretungsbegriff die soteriologische Bedeutung von Leben, Tod und Auferstehung Christi angemessener zu beschreiben ist" (S. 624).
Seine Untersuchungen schließt Schaede mit einer "Zwischenbilanz in systematischer Perspektive" ab (S. 625-641). Zum einen könne er nur eine "Zwischenbilanz" ziehen, weil er das 19. und das 20. Jahrhundert auslasse, zum anderen bezeichne diese Überschrift des letzten Buchabschnittes den Charakter seiner Studien insgesamt. Denn "sie verstehen sich als begriffsgeschichtlich-systematische Vorbereitung eines noch zu führenden theologischen Diskurses über die Relevanz des Ausdrucks Stellvertretung in soteriologischem Zusammenhang" (S. 5). Insofern bietet Schaede auch abschließend keine Definition des Begriffs, sondern breitet seine semantischen Merkmale aus und untersucht deren soteriologische Bedeutung.
Besonders interessant scheint der Begriff der "Repraesentatio" zu sein, sofern dieser impliziert, dass Christus am Kreuz den Sünder, den Menschen, der gerecht wird, und schließlich auch Gott selbst repräsentiere. Im Tode Christi sei die Sünde abgetan und die durch Christus vertretenen Sünder in abwesender Weise anwesend (S. 630f.). Nur die Identifikation Christi mit dem Sünder könne den "Zusammenhang zwischen der sündigen Person und ihrem Sündersein heilsam" (S. 631) aufheben. In Jesus Christus realisiere Gott "eine neuartige, nie dagewesene Existenzweise. Ziel dieser repraesentatio ist es, die Menschen in sein Leben, seinen Tod und seine Auferstehung zu integrieren und ihnen so zu erkennen zu geben, wer sie vor Gott werden" (S. 634). Soll der Begriff Stellvertretung nun weiterhin verwendet werden, fragt vielleicht der interessierte Leser, der die zuweilen recht mühsame Lektüre bis zum Ende des Buches durchgehalten hat. "Ja und Nein!", antwortet Schaede (S. 641). Zwar bringe er die neue Schöpfung, von der Paulus in 2. Kor 5,17 spreche "gewiß" (S. 641) zur Sprache, doch weise der Begriff keine hinreichende Klarheit auf, weshalb Schaede vorschlägt, ihn lediglich als "Merkposten" im theologischen Fachvokabular zu führen (S. 641).
Ohne Zweifel legt Schaede mit seinen Untersuchungen ein gewaltiges Zwischenergebnis vor, das den Leser allerdings etwas ratlos zurücklässt. Da das theologische Problem, ob Christus stellvertretend für uns gestorben, nicht beantwortet ist, hofft der Leser auf eine Fortsetzung des Buches, die sich dezidiert mit diesem Thema beschäftigt. Auf die Dekonstruktion des Begriffs sollte eine konstruktive Studie zur Soteriologie folgen. Allerdings wurde deutlich, dass die Frage nach der Stellvertretung aufgrund des Begriffs nicht präzise gestellt werden konnte. Sein Ziel, nämlich "auf das differenzierte semantische Potential des Ausdrucks Stellvertretung aufmerksam [zu] machen und so das Gespräch mit systematischen und exegetischen Positionen [zu] eröffnen" (S. 5), hat das Buch also auf äußerst bemerkenswerte Weise erreicht.