E. Leroy: Konstruktionen des Germanen

Titel
Konstruktionen des Germanen in bildungsbürgerlichen Zeitschriften des deutschen Kaiserreichs.


Autor(en)
Leroy, Esther
Reihe
Imaginatio borealis. Bilder des Nordens 6
Erschienen
Frankfurt am Main 2004: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
271 S.
Preis
€ 45,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gregor Hufenreuter, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Die vor allem im 19. Jahrhundert und im ausgehenden Kaiserreich zu findende Begeisterung für das Germanische und die häufig auf die Gleichung „germanisch-deutsch“ reduzierte (Re-)Konstruktion des Germanen werden bereits seit einigen Jahrzehnten in den Fächern Geschichte, Kulturwissenschaft, Skandinavistik, Germanistik und Archäologie eifrig aufgearbeitet. Nicht selten gehen diese Studien einher mit Untersuchungen zur Lebensreform, der völkischen Bewegung und kreisen um das Krisenbewusstsein und die zentralen Probleme der Moderne um 1900. Immer geht es dabei auch um die Funktionen, die das Konstrukt des Germanen zu erfüllen hatte.

Esther Leroys Dissertation steht ganz in der Tradition dieser Arbeiten, will jedoch nach den Gründen der Popularität des „Germanen“ fragen und hierbei „zeitgenössische Problemfelder“ (S. 12), aber auch die wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen im Kaiserreich einbeziehen. Ziel ihrer Analyse ist es, weniger das erzeugte Bild des Germanen zu beschreiben, als viel mehr dessen Funktion beim Entwurf eines bürgerlich-nationalen Geschichtsbildes im Kaiserreich als Teil einer gesellschaftlichen Selbstkonzeption zu erarbeiten. Um dieser Fragestellung das nötige Gewicht zu verleihen, ruft die Autorin ein Forschungsdesiderat aus, das so nur schwerlich zu halten ist. In aller Kürze die Werke Fritz Sterns und Klaus von Sees streifend, bespricht sie ausführlich vor allem Uwe Puschners Arbeiten zur völkischen Bewegung, um daraufhin festzustellen, dass die Einordnung der Germanenbegeisterung im Kaiserreich in einen spezifisch völkischen Umkreis „allen diesen Forschungen gemeinsam“ (S. 15) sei. Dementsprechend stehe die „nationale und rassenideologische“ Funktionalisierung des Germanenbildes im Vordergrund, was jedoch eine „Verfälschung der tatsächlichen zeitgenössischen Situation“ (S. 16) darstelle. Viel mehr habe das Thema weit über völkische Kreise hinaus Verbreitung gefunden, was aber nur in sehr geringem Maße erforscht sei.

Um sich diesem Problemfeld zu nähern, untersucht die Autorin die Quellen im Sinne einer „volkskundlichen Diskursanalyse“, wobei der Schwerpunkt auf den „Verwerfungen und Widerständen des Diskurses“ liegt, also dem, was sich „unterhalb der Oberfläche der Äußerungen“ befindet. Fernab jeder Generalisierung etablierter Schlagworte und Kategorien, soll nach dem Zufall, dem Diskontinuierlichen, den Zwischenbereichen und Zwischentönen innerhalb des bildungsbürgerlichen Diskurses um die Konstruktion des „Germanen“ gesucht werden. Dieser interessant klingende Ansatz erfährt jedoch bereits bei der Auswahl der Quellen eine empfindliche Begrenzung.

Als Basis ihrer Arbeit wertet die Autorin die drei Zeitschriften „Grenzboten“, „Nord und Süd“ und „Kunstwart“ aus, die sie trotz ihrer fundamentalen Unterschiede in Auflagenzahl, gesellschafts-politischer Verortung und Leserschaft unter der Etikette „Rundschau-Typus“ vereinigt. Als Quellen verwendet sie insgesamt 120 Artikel, die zwischen 1878 und 1914 erschienen, wobei fast 50 Artikel aus den Grenzboten stammen, knapp 40 aus dem Kunstwart und lediglich etwa 30 aus Nord und Süd. Dieser, gemessen am Quellenkorpus, dürftig erscheinende Zugriff, wird durch den Verzicht verstärkt, den größten Teil der Autoren zu identifizieren (oder auch nur die Namenskürzel der Autoren aufzulösen), um sie politisch, gesellschaftlich und ideologisch verortbar zu machen. Zudem nimmt Leroy keine systematische, d.h. inhaltliche und zeitliche Hierarchisierung der Beiträge vor. So werden einige programmatische Artikel regelmäßig über das Buch verteilt herangezogen und nicht selten stehen sich Beiträge gegenüber, zwischen deren Veröffentlichung mitunter 30 Jahren liegen. Neben diesen methodischen Unschärfen, wirken der Aufbau und die Darstellung eindimensional, denn die Befragung der Quellen findet eng an den Vorlagen der bisherigen Forschung statt. Neben „Kategorien der Verständigung“ (Nation, Antike und Germanen, Reformation, Romantik und Befreiungskriege, Volk, Sprache und zeitgenössischen Rassentheorien) nehmen den größten Teil der Arbeit die gesellschaftlich relevanten Diskurse des Kaiserreiches ein, die sich mehr oder minder eng um das Konzept des „Germanen“ ranken (Schlagworte hier: Individuum, Kollektiv, Führer, Masse, Wissenschaft, Religion, Kultur, Weltgeltung und Regionalität Deutschlands). Im dritten und deutlich kürzesten Teil werden Ex- und Inklusionsvarianten dargestellt (Frankreich, England, Skandinavien). Die Darstellung wird hierbei von der rein deskriptiven Wiedergabe verschiedenster Vorstellungen dominiert. Über mehrere Seiten zitiert und referiert die Autorin einzelne Beiträge, denen nach kurzer Zusammenfassung und Analyse, ein weiterer Artikel zur Seite gestellt wird, was sich so lang wiederholt, bis die höchste Meinungsbandbreite der ausgewerteten Zeitschriften für die untersuchte Kategorie wiedergegeben wurde. Was sich dem Leser hierbei eröffnet, ist ein Meer von Ansichten, die sich mehr oder weniger gleichen oder voneinander abweichen, kaum einzuordnen sind und letztlich nur die Pluralität möglicher Betrachtungsweisen abbilden. Auffällig ist darüber hinaus, dass Leroy die angestrebte Darstellung eines ausschließlich bildungsbürgerlichen „Germanenbildes“ in Trennung zu den Völkischen nicht durchhalten kann. Allein vier der von ihr zitierten Autoren gehören der völkischen Bewegung an (Adolf Bartels, Wilhelm Schölermann, Willy Pastor und Arthur Bonus), wobei Bartels und Schölermann sowohl im Kunstwart als auch in den Grenzboten schrieben. Zwar weist sie im Falle von Bartels und Bonus auf deren völkischen Hintergrund hin, problematisiert aber auch hier nicht das schwer zu trennende Verhältnis von völkischen und bildungsbürgerlichen Sphären. Denn die Völkischen rekrutierten sich zu großen Teilen aus den bildungsbürgerlichen Schichten, ohne sich jemals bewusst aus ihnen zu lösen, was ihrer Strategie einer ideologischen und personellen Infiltration aller gesellschaftlichen Fragmente auch widersprochen hätte. Wenn die Autorin somit vom „schichtenspezifischen Blick“ des Bildungsbürgerlichen spricht und hierbei eine Trennung zu radikal-nationalistischen und völkischen Deutungen zu erreichen sucht, versagt letztlich ihr Ansatz, da eine solche Trennung nur bedingt möglich ist. Augenfällig wird dies, sobald sich der bildungsbürgerliche Blick auf rassentheoretische Geschichtsentwürfe (etwa durch die verstärkte Rezeption Darwins, Gobineaus und Chamberlains) richtet und die zeitlich, wie inhaltlich zwar begrenzte aber dennoch vorhandene Nähe zum völkischen Wertehimmel unübersehbar wird (S. 90ff.). Wenn dies auch nicht bedeutet, dass bildungsbürgerliche Schriftsteller dem Völkischen grundsätzlich nahe standen, veranschaulicht es jedoch die gesamtgesellschaftliche Virulenz des Themas, das keineswegs nur in der völkischen Bewegung diskutiert wurde. Interessant wäre hier etwa anhand der Zeitschriften eine Untersuchung zur Abgrenzung bildungsbürgerlicher Meinungsbildner von den Völkischen, nachdem diese ab 1900 verstärkt organisatorisch und ideologisch deutlich wahrnehmbare Strukturen auszuformen begannen.

So findet die Autorin letztlich nicht zu einem eigenen Urteil, sondern argumentiert eng entlang an der bisherigen Forschung, ohne grundlegend Originelles bieten zu können. Denn auch ihre Darstellung entgeht letztlich nicht der Verengung einer nationalen und rassenideologischen Funktionalisierung des Germanenbildes.

Ihr Versuch, „Verwerfungen und Widerständen des Diskurses“ darzulegen und dessen Zwischentönen abzubilden, mündet im Referieren zeitgenössischer Einzelmeinungen, deren Intention, Bedeutung, Diskursfähigkeit und gesellschaftliche Reichweite unklar bleiben. Die zusammengetragenen Vorstellungen, Meinungen und Beiträge entziehen sich in ihrer Gesamtheit jedweder Systematisierung. Dies scheint aber auch das Ziel der Autorin gewesen zu sein, die unermüdlich die „Offenheit der Diskursfelder“ (S. 99) betont. Doch stellt sich unweigerlich die Frage, welche Erkenntnis darüber hinaus aus einem solchen Ergebnis zu ziehen ist. Diese Frage kann letztlich auch Leroy nicht beantworten, was sich an ihrem lediglich eine Seite und vier Zeilen umfassenden Fazit deutlich ablesen lässt. Sich auf das eingangs von ihr skizzierte Forschungsproblem beziehend, konstatiert sie einen in der Arbeit erbrachten Befund, der die bisherige Forschung zum Thema „deutlich modifiziert“ (S. 245). Die Interpretation der Germanenideologie vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus und die „eindimensionale Bedeutung“ im Zusammenhang mit der völkischen Bewegung griffen zu kurz. Als Identifikationsangebot, Erklärungsmodell und zur Legitimation des Deutschen Reiches spielten die Germanen für die Deutschen zwar eine herausragende Rolle – was auch für die untersuchten Zeitschriften gelte –, doch zeige sich, dass sie in „verschiedensten Diskursen“ Verwendung fänden. Dem Bild des Germanen wohne eine „prinzipielle Offenheit der Bedeutung“ inne, die zu „unterschiedlichsten Positionen und weltanschaulichen Richtungen“ eingeladen habe. Ein in „erstaunlich viele Facetten aufgegliedertes Germanenbild“ sei sichtbar geworden, das „vielfältige Verwendungsmöglichkeiten“ bedingt habe. Die „prinzipielle Offenheit und die Funktionalisierung“ des „rhetorisch vielseitig verwendbaren Germanenarguments“ führe dazu, dass eine ausschließlich auf den NS bezogene Interpretation des Germanen „wichtige Facetten“ außer Acht lasse. Ansatzpunkt seien die vorgestellten Diskussionen, die „aber nur einen Ausschnitt in einem großen, variantenreichen Feld“ bildeten.

Das ist alles. Die Wiederholung ihrer zu Beginn des Buches gestellten These ist gleichsam das Ergebnis der Arbeit. Und das ist zu wenig. Für künftige Forschungen bietet Esther Leroys Buch nichts Konkretes, keine Zugriffs- oder Aufbaumöglichkeiten. Zudem wird es wenig Interesse daran geben, weiter Blütensammlung verschiedenster Diskursverwendungen anzulegen, „nur“ um zu beweisen, dass es noch andere Facetten eines Untersuchungsgegenstandes gibt. Die gibt es immer und niemand hätte wohl Gegenteiliges behauptet.