Die Krise, die wegen der eurostrategischen Raketen - der in der UdSSR seit 1975 gegen Westeuropa dislozierten SS 20 und dem NATO-Beschluss, diese durch eine „Nachrüstung“ mit Pershing 2 und Marschflugkörpern zu kontern - Anfang der 1980er-Jahre ausbrach, ist eines der Schlüsselereignisse des Kalten Krieges, das aber in der Öffentlichkeit Deutschlands, seines Hauptschauplatzes, bisher nur wenig Aufmerksamkeit gefunden hat. Die Untersuchung von Michael Ploetz und Hans-Peter Müller füllt daher eine Lücke. Ihr Schwerpunkt liegt auf der besonderen, dem kommunistischen System eigenen Vorgehensweise des innerstaatlich geführten „Friedenskampfes“ im Westen, vor allem in der Bundesrepublik. In westlicher Sicht war das östliche Verhalten nicht wegen dieser Spezifik unerwartet. Man hatte auch an eine zunehmende Entspannung des Ost-West-Verhältnisses geglaubt, nachdem die NATO 1967 dem sowjetische Verlangen nach „friedlicher Koexistenz“ durch das Doppelkonzept Abschreckung durch Fähigkeit zur Verteidigung einerseits und Entspannung andererseits prinzipiell entsprochen zu haben schien, ab 1969/70 sowohl die USA als auch die Bundesrepublik vertragliches Einvernehmen mit der UdSSR auf der Grundlage des Status quo gesucht und gefunden hatten und die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in den folgenden Jahren Regeln des zwischenstaatlichen Miteinanders festgelegt hatte. Die Lage in Deutschland, vor allem an der Nahtstelle Berlin, wurde durch einen Modus Vivendi stabilisiert; die Gefahr des Wettrüstens schien durch vertragliche Fixierung der global-strategischen Parität von USA und UdSSR gebannt.
Ein erstes Anzeichen, dass Verträge kein friedliches Miteinander gewährleisteten, war 1975 die Eroberung Südvietnams durch den kommunistischen Norden, obwohl sich Washington mit Hanoi auf eine Regelung geeinigt hatte, die den Fortbestand des Südens vorsah. Im gleichen Jahr entdeckte die westliche Aufklärung den beginnenden Anwuchs der gegen Westeuropa gerichteten SS 20-Raketen. Diese unterliefen die global-strategische Parität. Wenn sie wie geplant ohne massive Abstriche disloziert wurden, musste die NATO in Europa strategisch wehrlos erscheinen. Die Westeuropäer befürchteten, sie sollten von der globalen Abschreckung abgekoppelt und danach unwiderstehlichen Pressionen ausgesetzt werden. Mit der Unterstützung des britischen Premierministers Callaghan und des französischen Präsidenten Giscard d'Estaing wandte sich Bundeskanzler Schmidt an Washington, um Carter dazu zu bewegen, das Problem in die amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen über eine Reduzierung der strategischen Rüstungen einzubeziehen. Vergeblich - der Präsident der USA war auf die global-strategische Relation fixiert und nicht bereit, die Gespräche mit dem Kreml durch europäische Fragen zusätzlich zu erschweren. Als Schmidt die Breshnew-Führung in Moskau ansprach, weigerte sich diese, in irgendeiner Weise auf die Sorgen der Westeuropäer einzugehen.
Der Druck der Verbündeten bewog Carter 1979 endlich dazu, die Herausforderung durch die SS 20 ernst zu nehmen. Er war aber nach wie vor nicht bereit, die Sache in den Verhandlungen mit der UdSSR zur Sprache zu bringen. Das müsse separat verhandelt werden. Die Westeuropäer sahen sich genötigt, darauf einzugehen. Ein Nachgeben des Kremls war demnach dadurch zu erreichen, dass man ihn mit dem Beschluss konfrontierte, andernfalls werde man nach Ablauf von vier Jahren gegen die Sowjetunion gerichtete Raketen in Westeuropa stationieren, um damit die Bedrohung zu neutralisieren. Dementsprechend fasste der NATO-Rat im Dezember 1979 den „Doppelbeschluss“, mit Moskau über die SS 20 zu verhandeln und zugleich für den Fall, dass es dabei zu keinem befriedigenden Ergebnis komme, eine „Nachrüstung“ durch die Produktion von Pershing 2 und Marschflugkörper vorzubereiten. Die damit geschaffene Ausgangsposition für die Auseinandersetzung mit der UdSSR war weit weniger günstig, als man glaubte, denn faktisch lag das Interesse an einer Übereinkunft ganz überwiegend auf westlicher Seite. Vor allem Schmidt hoffte dringend darauf, dass die Gegenstationierung nicht erforderlich werden würde. Er setzte auf Abrüstung, die überdies weiten Kreisen seiner Partei als allein akzeptable Option erschien. Da die Aufstellung der NATO-Raketen von der Mitwirkung der Bundesrepublik abhing, kam diese Haltung der hauptsächlichen Regierungspartei dem Kreml sehr zustatten.
Die sowjetische Führung hatte sich zudem seit langem auf eine Situation vorbereitet, die nun im Westen entstand. Wie Ploetz und Müller auf Grund von DDR-Quellen nachweisen, war auf der Konferenz der kommunistischen Parteien von 1969 ein - anschließend vom Moskauer Parteiapparat im Einzelnen ausgearbeitetes und auf mehreren Tagungen ergänztes - Konzept des Kampfes in den westlichen Ländern beschlossen worden, durch das der Westen nach und nach niedergerungen werden sollte. Zunächst fehlten jedoch zündende Parolen, durch die man die Öffentlichkeit gegen die Hauptfeinde USA und NATO hätte mobilisieren können. Die ließen sich nunmehr unter Hinweis auf den Doppelbeschluss formulieren. Demnach galt es, eine Hochrüstung des Westens und die daraus erwachsende Gefahr nuklearer Vernichtung zu verhindern. Den Beweis dafür, dass dieser Appell Wirkung beim westlichen Publikum versprach und Aussicht auf westliches Zurückweichen bot, hatte kurz zuvor die Kampagne gegen die „Neutronenbombe“ geliefert: Carter hatte darauf verzichtet, mit der neu entwickelten Waffe die sowjetische Panzerüberlegenheit zu entwerten.
Die Moskauer Instruktionen für den Kampf gegen den Westen „auf gesellschaftlicher Ebene“ wurden bereits Anfang der 1970er-Jahre veröffentlicht, unter andrem auch in deutscher Sprache.1 Es liegen auch einige Studien vor über die Interaktion der UdSSR und DDR mit Friedensbewegungen in westlichen Ländern.2 Als das besondere Verdienst von Ploetz und Müller ist hervorzuheben, dass sie die einschlägigen östlichen Publikationen nicht einfach verwendet, sondern auch deren operative Bedeutung durch Archivdokumente der DDR im Einzelnen nachgewiesen haben. Die sowjetischen Ausführungen über den im Westen zu führenden politischen Kampf sind nicht, wie man oft gemeint hat, bloß als ideologische Darlegungen zu betrachten, sondern stellten vor allem Anweisungen dar, die in praktisches Handeln umgesetzt wurden, als sich 1980-1983 die Möglichkeit dazu ergab. Ebenso wird deutlich, dass die kommunistische Seite die westlichen Protestgruppen zwar nie beherrschte, wohl aber ihr Vorgehen bei wichtigen Weichenstellungen wesentlich beeinflusste. Auf ihre Einwirkungen geht zurück, dass der Konsens aller beteiligten Gruppen zur alleinigen Richtschnur der Protestaktionen wurde. Damit waren alle Optionen ausgeschaltet, denen die Kommunisten die Zustimmung verweigerten, und diejenigen Kräfte marginalisiert, die mit der Friedensopposition im Osten zusammenarbeiten wollten. Eine einseitige Ausrichtung nahezu des gesamten Vorgehens gegen die NATO war das Ergebnis.
In Italien und Frankreich, wo die Kommunisten wegen grundsätzlicher Differenzen mit Moskau nicht in den Protest gegen den Doppelbeschluss einstimmten und diesen daher nicht organisatorisch und finanziell unterstützten, blieb es bezeichnenderweise ruhig. Dagegen wurde in der Bundesrepublik und in den Niederlanden zu Beginn der 1980er-Jahre ein größerer Erfolg erzielt, als man im Kreml erwartet hatte. Besonders wichtig war es aus sowjetischer Sicht, dass sich die SPD zunehmend gegen ihren eigenen Bundeskanzler wandte. Schmidt sah sich gegen seine eigentliche, auf Verringerung statt Vermehrung der Rüstungen gerichtete Absicht zum Eintreten für die Stationierung der NATO-Raketen genötigt, wenn die UdSSR unnachgiebig blieb. Die Hoffnung, dass ihn der Kreml davon befreien werde, indem er Entgegenkommen zeige, schwand zunehmend - mit der Folge, dass Schmidts Regierung ihren Rückhalt bei der SPD und damit ihre innenpolitische Basis verlor und schließlich einer von der CDU/CSU geführten Regierung Platz machen musste.
Das hatte die sowjetische Führung nicht erwartet. Sie hatte geglaubt, nach dem Fall Schmidts würden in Bonn die „Friedenskräfte“ an die Macht kommen. Sie hielt jedoch weiter daran fest, dass die Nachrüstungsgegner den Sieg davontragen müssten. Auch der Wahlsieg Kohls und Genschers im März 1983 ließ daran keine ernstlichen Zweifel aufkommen. Schließlich, so schien es, würde die Bundesregierung angesichts des starken Widerstandes im Lande keine Aufstellung der NATO-Raketen riskieren können. Das erwies sich als Irrtum. Es kam zwar erneut zu Massenprotesten, und die Stationierungsorte sowie das Verteidigungsministerium wurden blockiert. Zwar mussten die ersten Raketen mit Hubschraubern an ihre Standorte gebracht werden, und das Ministerium war eine Zeitlang nur auf dem Luftweg erreichbar, während die Sowjetunion nicht näher spezifizierte „Gegenmaßnahmen“, verbunden mit einer „neuen Eiszeit“, androhte. Aber die Bundesregierung gab nicht nach und bewahrte damit die NATO vor einer möglicherweise tödlichen Krise. Damit war die letzte sowjetische Offensive im Kalten Krieg gescheitert.
Um doch noch militärische Überlegenheit zu gewinnen, verstrickte sich der Kreml in ein Wettrüsten, das die ohnehin überforderte Wirtschaft vollends ruinierte. Gorbatschow sah sich daher ab 1986 zu einer Kurswende bewogen, die das Verhältnis zum Westen von Grund auf veränderte. Ploetz und Müller weisen nach, dass Breshnews „friedliche Koexistenz“ in Theorie und Praxis mit den westlichen Vorstellungen eines dauerhaften Interessenausgleichs von Ost und West unvereinbar war. Es ging der sowjetischen Seite längerfristig nicht um Entspannung auf der Grundlage eines wechselseitig stabilisierten Status quo, sondern um Kampf gegen den Westen, wobei man freilich keinen „großen“ Krieg gegen die NATO-Staaten riskieren wollte. Dementsprechend sollten neben bewaffneten Konflikten in der Dritten Welt vor allem „Friedensoffensiven“ innerhalb westlicher Länder die Macht des Gegners brechen. Der Politik Schmidts und anderer Akteure im Westen lag mithin eine fundamentale Fehlwahrnehmung zu Grunde: Die Erwartung, die Bereitschaft zur Stabilisierung der kommunistischen Besitzstände schaffe ein kooperatives Verhältnis zur UdSSR, stand in Widerspruch zu den Absichten der Breshnew-Führung. Ihr galt Schmidt ausschließlich als Widersacher der SS 20, mit der man sich ein Übergewicht in Europa zu verschaffen hoffte. Er war folglich ein Feind der Sowjetunion, den es auszuschalten galt.3
Vor diesem Hintergrund stellen Ploetz und Müller dar, welche Beschlüsse über das Vorgehen in den westeuropäischen Ländern der Kreml im Warschauer Pakt und auf den Tagungen der ZK-Sekretäre für internationale und ideologische Fragen in den Jahren von 1978 bis 1983 fassen ließ und wie auf dieser Grundlage der „Friedenskampf“ in der Bundesrepublik durch den Friedensrat der DDR und andere Vermittler organisiert wurde. Drei einschlägige Protokolle des SED-Politbüros sind im Wortlaut beigefügt. Insgesamt bietet das Buch einen klaren und zuverlässigen Einblick in das kommunistische Bemühen um Instrumentalisierung der westdeutschen Anti-Raketen-Bewegung und in die dafür maßgeblichen konzeptionellen Vorstellungen. Eine Bibliograpfe weist auf einschlägige Literatur hin.
Anmerkungen:
1 Die grundlegenden Ausführungen sind enthalten in: Sagladin, W. W., Die kommunistische Weltbewegung. Abriß der Strategie und Taktik, Berlin 1973.
2 Baron, Udo, Kalter Krieg und heisser Frieden. Der Einfluss der SED und ihrer westdeutschen Verbündeten auf die Partei „Die Grünen“, Münster 2003; Maruhn, Jürgen; Wilke, Manfred (Hgg.), Die verführte Friedensbewegung. Der Einfluss des Ostens auf die Nachrüstungsdebatte, München 2001; Herf, Jeffrey, War by Other Means. Soviet Power, West German Resistance, and the Battle of the Euromissiles, New York 1991; Wettig, Gerhard, High Road, Low Road. Diplomacy and Public Action in Soviet Foreign Policy, Washington 1989; Haslam, Jonathan, The Soviet Union and the Politics of Nuclear Weapons in Europe, 1969-87. The Problem of the SS-20, Basingstoke 1989.
3 Vgl. Gromyko, A. A., Pamjatnoe, Bd. 1, Moskau 1988, S. 471-474. In der deutschen Ausgabe wird die negative Haltung gegenüber Schmidt verschleiert.