Im Rahmen eines Editionsprojekts der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen sind 1996, 2000 und 2003 insgesamt drei Bände einer Dokumentensammlung zur sowjetischen Deutschlandpolitik vom deutschen Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 bis zur Vorbereitung der Berliner Blockade im Juni 1948 erschienen.1 Jetzt folgt eine deutsche Fassung der drei Bände, ebenfalls verantwortet von Jochen Laufer vom Zentrum für Zeithistorische Forschung und Georgij Kynin von der Historisch-Diplomatischen Verwaltung des Moskauer Außenministeriums. Die Einleitungen und der Anmerkungsteil wurden hierfür gegenüber dem russischen Original deutlich erweitert; die Dokumente sind in sorgfältigen, um Verständlichkeit bemühten Übersetzungen wiedergegeben.
Deutlicher als in der russischen Fassung machen die Herausgeber in der Einleitung zu Band 1 auf die schwierigen Entstehungsbedingungen dieser Edition aufmerksam. Die Akten des Moskauer Außenministeriums sind auch für die Kriegs- und Nachkriegsjahre nur zum Teil für die Forschung freigegeben; die Findhilfsmittel des Archivs standen dem deutschen Bearbeiter nicht zur Verfügung. Der russische Bearbeiter steuerte Dokumente aus den weiterhin klassifizierten Akteneinheiten bei. Unklar bleibt, wie weit er dabei gehen konnte: In der deutschen Ausgabe heißt es, dass der Fond 089, in dem chiffrierte Telegramme zwischen den sowjetischen Botschaftern und der Moskauer Zentrale aufbewahrt werden, „in die Edition einbezogen werden“ konnte (Bd. 1, S. XX); in der russischen Ausgabe ist hingegen nur von „einigen in die Edition aufgenommenen Dokumenten“ die Rede, „die aufgrund früher gültiger Regelungen bereits deklassifiziert waren“.2
Der Zugang zu den Archiven des Verteidigungsministeriums, der Geheimdienste und des Außenhandelsministeriums, die jeweils eigenständige Aktenüberlieferungen zur Tätigkeit der sowjetischen Besatzer in Deutschland bergen, blieb den Bearbeitern verwehrt. Aus dem Präsidentenarchiv wurden lediglich zwei Protokolle von Unterredungen der SED-Führung mit Stalin im Januar 1947 und März 1948 übernommen, die allerdings zuvor schon auszugsweise publiziert worden waren.3 Zur Erläuterung der edierten Dokumente konnten Bestände des Staatsarchivs, des Staatlichen Archivs für Wirtschaft und des Staatsarchivs für soziale und politische Geschichte (mit den Parteibeständen) herangezogen werden.
Angesichts der Schwierigkeiten, die mit der Erschließung der Dokumente verbunden waren, ist den Bearbeitern großer Respekt zu zollen. Zu den 489 edierten Dokumenten kommen 800 weitere Schriftstücke, die in den erläuternden Anmerkungen zitiert oder zumindest erwähnt werden. Organisationsschemata informieren über die Struktur des Außenministeriums und der Verwaltung des Politischen Beraters in Deutschland; ein ausführliches Personenregister bietet biografische Abrisse zu den Verfassern der Dokumente und anderer in den edierten Dokumenten erwähnten Personen; Regesten ermöglichen eine rasche Erschließung der einzelnen Dokumente. Verzeichnisse der mit Kurztiteln zitierten Literatur und der Abkürzungen sowie ein Orts- und ein Sachregister erleichtern die Benutzung der Bände. Mit alledem legen die Bearbeiter eine Pionierleistung bei der Erschließung der Akten des sowjetischen Außenministeriums vor. Künftige Archivbenutzer werden ihnen dankbar sein – auch jene, die hoffentlich eines nicht allzu fernen Tages auch Zugang zu den bislang gesperrten Beständen erhalten.
Ein grundsätzlich neues Bild der sowjetischen Deutschlandpolitik während des Zweiten Weltkriegs und in der ersten Nachkriegszeit ergibt sich aus der Dokumentation allerdings nicht. Wesentliche Schlüsseldokumente wie etwa ein Grundsatzmemorandum aus der Feder von Iwan Majskij vom 11. Januar 1944 oder die erwähnten Protokolle der Unterredungen Stalins mit den SED-Führern waren schon zuvor bekannt; einzelne Sachverhalte sind von Alexej Filitov, Michail Narinskij und Jochen Laufer selbst in Aufsätzen geschildert worden. Die Mitschriften Wilhelm Piecks von Gesprächen mit Stalin und den Spitzen der SMAD, deren Erschließung Anfang der 1990er-Jahre wesentlich zur Entwicklung eines neuen Bildes der sowjetischen Deutschlandpolitik beigetragen hat, erweisen sich im Licht der unterdessen aufgefundenen Protokolle und zugehöriger Schriftstücke als äußerst präzis; die Deutung, die ich manchen knappen Eintragungen in den Pieck-Aufzeichnungen gegeben habe4, werden durch die ausführlicheren Überlieferungen bestätigt.
Die Edition zeigt folglich einen Stalin, für den die sozialistische Revolution in Deutschland (wie überhaupt in Europa) noch nicht auf der Tagesordnung steht. Zunächst galt es, eine „umfassende Demokratie“ (Bd. 1, S. 259) durchzusetzen, und das durchaus in Kooperation mit den westlichen Siegermächten. Bis zum März 1945 setzte Stalin dabei auf eine Aufteilung Deutschlands in mehrere Einzelstaaten; als er den Eindruck gewann, dass der Widerstand dagegen in den Reihen der Westmächte zu groß war, schaltete er auf die offene Propagierung eines einheitlichen Nachkriegsdeutschlands um. Eine führende Rolle bei seiner Verwirklichung sollte zunächst die KPD spielen, dann die SED; vom Sommer 1946 an suchte Stalin die öffentliche Meinung in Deutschland gegen Widerstände und vermeintliche „feindliche Tendenzen“ bei den Westmächten zu mobilisieren.
Dieses Bild wird durch eine Reihe aufschlussreicher Details bekräftigt. So wurde gleich nach der Potsdamer Konferenz ein umfassendes Programm zur Umsetzung der Potsdamer Beschlüsse durch die SMAD entwickelt. Die Wiederzulassung der SPD in der sowjetischen Besatzungszone war nicht nur eine momentane Idee Stalins bei der Besprechung mit den SED-Führern am 31. Januar 1947; noch Ende Juli 1947 drängte das Außenministerium darauf, den Widerstand der SED-Führer gegen dieses Vorhaben zu brechen. Bereits im Vorfeld der Moskauer Außenministerratstagung wurden „Grundlinien zur Vorbereitung des Friedensvertrags mit Deutschland“ erarbeitet. Stalin gab sich noch im März 1948 überzeugt, dass die Bestrebungen zur Schaffung eines Weststaates keinen dauerhaften Erfolg haben würden: Wenn die Idee einer Verfassung „in den Köpfen der Menschen verankert sein wird, kann man die Einheit nicht mehr zerstören“ (Bd. 3, S. 555).
Ebenso bietet die Edition neue Beispiele für die Kontraproduktivität des Stalinschen Misstrauens und für die Ineffizienz seiner autokratischen Regierungsweise. Stalin lehnte den amerikanischen Vorschlag eines Pakts zur Demilitarisierung Deutschlands ab, weil er darin eine Entwertung der Bündnisse sah, die die Sowjetunion mit europäischen Staaten geschlossen hatte. Die Teilnahme der ostdeutschen Regierungschefs an der Münchener Ministerpräsidentenkonferenz musste Molotow untersagen, weil dem Kremlchef die Vermeidung antisowjetischer Instrumentalisierung nicht gesichert schien. Die Anweisung zur Wiederzulassung der SPD wurde schlicht nicht befolgt; das Insistieren des Außenministeriums in dieser Frage im Juli 1947 verpuffte ohne erkennbare Folgen.5
Wenig überzeugend ist die Tendenz der Herausgeber, die gesamtdeutsche Dimension der Stalinschen Deutschlandpolitik herunterzuspielen. Zur Potsdamer Konferenz bemerken sie ohne jeden Beleg, die sowjetische Forderung nach Zentralverwaltungen sei nur „verhandlungstaktischen Überlegungen“ entsprungen (Bd. 3, S. LXVI). Zur Moskauer Außenministerratstagung vermuten sie, „dass Stalin eher an einem Misserfolg als an einem Erfolg der Verhandlungen interessiert war“ (Bd. 3, S. LXXIII); bei der Vorbereitung der Londoner Außenministerratstagung bemängeln sie das Fehlen von Kompromissvorschlägen anstelle starrer Verhandlungsdirektiven. Schließlich behaupten sie, „die gesamtdeutsche Propaganda, einschließlich der Propaganda für einen deutschen Friedensvertrag,“ habe „niemals auf eine tatsächliche Verständigung mit den Westmächten“ gezielt; die öffentlich erhobene Forderung nach einem Friedensvertrag habe „im umgekehrten Verhältnis zur tatsächlichen Bereitschaft“ gestanden, „einen solchen Vertrag tatsächlich abzuschließen“ (Bd. 3, S. LXXXIII, LXXIV ).
Der Mangel an Flexibilität in der sowjetischen Verhandlungsführung, die sie für diese Behauptungen ins Feld führen, ist jedoch nicht geeignet, die Fülle der übereinstimmenden internen Absichtserklärungen nicht nur der Funktionäre, sondern auch des Sowjetdiktators selbst zu entkräften, die ihnen entgegenstehen. Das Beharren auf einer Verständigung über Verfahrensfragen, das sie kritisieren, war gerade als Instrument zur Überwindung der Gegensätze in der Sache gemeint.6 Dass Kompromissvorschläge zur Reparationsfrage den Alliierten nicht schriftlich vorgelegt wurden, belegt nicht, dass Stalin sie nicht gebilligt hätte. Die Untersagung eigenständiger Initiativen der sowjetischen Konferenzdelegation ist nicht mit dem Ausschluss jeglicher Kompromisse gleichzusetzen.
Bei der Präsentation der Edition behauptete Jochen Laufer, über die Tendenz der Einleitung noch hinausgehend, sie lasse die Annahme „immer wahrscheinlicher“ werden, „dass Stalin unter der Flagge der Einheit die Gründung seines eigenen deutschen Staates und damit die Aufgliederung Deutschlands anstrebte“.7 Angesichts eines Stalins, der die SED-Führer noch am Ende des von der Edition abgedeckten Zeitraums drängte, „die Massen auf die Vereinigung Deutschlands vorzubereiten“ (Bd. 3, S. 555), ist eine solche Lesart der Quellen nicht nachvollziehbar.
Anmerkungen:
1 Kynin, G. P.; Laufer, J. P. (Bearbeiter), SSSR i germanskij vopros 1941-1949. Dokumenty iz Archiva vneššpolitiki Rossijskoj Federacii, 3 Bände, Moskau 1996, 2000, 2004. Offensichtlich bestand ursprünglich der Plan, die Dokumentation bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten zu führen.
2 Kynin, Laufer, SSSR (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 31.
3 Bei Wolkow, Wladimir K., Die deutsche Frage aus Stalins Sicht (1947-1952), in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 48 (2000), S. 20-49.
4 Vgl. Loth, Wilfried, Einleitung, in: Ders., Badstübner, Rolf (Hgg.), Wilhelm Pieck. Aufzeichnungen zur Deutschlandpolitik 1945-1953, Berlin 1994, S. 13-47; Ders., Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte, Berlin 1994.
5 Für weitere Beispiele vgl. meine Besprechung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 17.2.2005, S. 7.
6 Vgl. die Argumentation von Fedor Gusev in einem Memorandum vom 17.10.1947, Bd. 3, S. 420-425.
7 Sowjetische Quellen zur deutschen Zeitgeschichte – Forschungs- und Editionsprobleme. Podiumsdiskussion am 15. November 2004, Berlin 2005, S. 14.