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Title
Papsttum und Landeskirchen im Spiegel der päpstlichen Urkunden (896-1046).


Author(s)
Johrendt, Jochen
Series
MGH Studien und Texte 33
Published
Extent
305 S.
Price
€ 40,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Harald Müller, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Welche Funktion erfüllten die Päpste des Frühmittelalters in den Augen der Zeitgenossen? Und war diese Rolle in Katalonien dieselbe wie im Reich, in Frankreich verschieden von der in Italien? Es sind keine eng bemessenen Fragen, die sich Jochen Johrendt in seiner Münchener Dissertation erstmals vorgelegt hat. Dass sie in diesen Dimensionen überhaupt Aussicht auf Beantwortung besitzen, liegt am homogenen Aufarbeitungsstand der Papsturkunden. Seit Ende der 1980er-Jahre sind die Texte dieser frühmittelalterlichen Periode in der Edition Harald Zimmermanns bequem erreichbar.1 Umso mehr verwundert es, dass das Material hier erstmals systematisch inhaltlich ausgewertet wurde, nachdem Hans-Henning Kortüm bereits 1995 den sprachlichen Horizont päpstlicher Urkundenproduktion vermessen und damit die Zimmermannsche Edition substanziell ergänzt hatte.2

Johrendt fahndet nach dem Bild des Papstes. Dazu ist die Umkehr der Blickrichtung erforderlich, denn die Texte sind nach dem Provenienzprinzip als Papsturkunden gesammelt, ihre Inhalte betreffen aber fast ausschließlich die Empfänger. Den Erkenntnissen der jüngeren (Herrscher-)Diplomatik folgend, die den Anteil einer kontrollierten Kanzleiproduktion stark reduziert hat 3, nimmt Johrendt für seine Studie konsequent die Empfängerperspektive ein. Aus den Rechtsinhalten der Urkunden will er auf die vorausgehende Nachfrage der Petenten schließen. Diese methodische Ausrichtung nimmt implizit der Papsturkunde den Charakter eines Dokuments „des die Kirche und die mittelalterliche Welt regierenden Papsttums“ 4 und überführt sie in ein Indiz geglückter Kommunikation zwischen dem Aussteller und dem Nutznießer. Die Texte spiegeln als „erfüllter Empfängerwunsch“ (S. 13) zugleich Funktion und Autorität, die dem Papst jeweils zugeschrieben wurde.

Dabei werden die Urkunden nicht als Ganzes betrachtet, sondern in ihre Rechtsinhalte aufgespaltet. Im Zentrum der Untersuchung stehen sechs Themen päpstlicher Privilegierung: die Freiheit der Abtwahl, Pallium-Verleihungen, Besitzbestätigungen, Formen päpstlicher Schutzbestimmungen, unter die Exemtion, Immunität und päpstlicher Schutz gezählt werden, Ehrenrechte sowie schließlich Vikariate und Primate. Das Urkundenkorpus wird für jeden dieser Themenbereiche zunächst quantitativ (Anzahl der entsprechenden Verleihungen, zeitliche Staffelung), dann qualitativ untersucht. Johrendt spürt zunächst getrennt für Deutschland, Frankreich, Italien und Katalonien den Inhalten, Formulierungen und ggf. konkreten Entstehungszusammenhängen der jeweiligen Verfügungen nach. Dieser mit rund 150 Seiten umfangreichste Teil der Arbeit bietet ein minutiöses Sachkompendium der nachgefragten Rechte. Im anschließenden Kapitel versucht der Verfasser, das Papsttum aus dem Blickwinkel der jeweiligen Landeskirchen oder neutraler: von Empfängerregionen zu fassen und ihm jeweils charakteristische Rollen zuzuweisen. Infolge der in Teilen doppelten Materialdurchsicht sind Redundanzen nicht zu vermeiden, die aber dank einer präzisen und dennoch variantenreichen Sprache nie quälend werden.

Das sorgfältig redigierte Buch weist kaum Flüchtigkeiten auf (S. 136 lies Prumiensis statt Prumicensis, zumindest unschön S. 175 „das Kardinalat“). Eine Empfängerliste, die mit Detailkarten korrespondiert, eine Liste der nach 1046 entstandenen Fälschungen aus dem Zimmermannschen Editionsbestand, die folglich nicht berücksichtigt wurden, sowie je ein Personen-, Orts- und Papsturkundenregister bieten dem Leser zuverlässige Orientierungshilfen.

Zu einigen Einzelergebnissen: Von besonderem Interesse sind die vom römischen Bischof aus der Ferne verliehenen Rechte, die in Analogie bzw. in Konkurrenz zu solchen regionaler, vorwiegend weltlicher Gewalten stehen, beispielsweise das terminologisch vielfältige Instrumentarium päpstlicher Schutzmechanismen und die oft damit gekoppelten Besitzbestätigungen. Letztere bleiben meist allgemein, werden nicht selten als Alienations- oder Introitusverbots negativ formuliert und kommen damit der von Edmund Ernst Stengel beschriebenen königlichen Immunität nahe. Allerdings ist Johrendt skeptisch, ob Immunität und Königsschutz in ihrer elaborierten Form nicht eher ein Konstrukt der Mediävistik als Realität der frühmittelalterlichen Rechtswelt sind. Er nähert sich der Frage nach den Inhalten päpstlicher Schutzbestimmungen von den gewährten Einzelrechten her und erreicht etwa für die Exemtion wichtige Differenzierungen. Im Reich ist Exemtion meist mit dem Verbot verbunden, in einem Kloster ohne Einladung die Messe zu feiern, während in Italien die Befreiung vom Vorrecht bischöflicher Weihehandlungen im Zentrum zu stehen scheint. Für Katalonien fehlt eine Leitformel, in Frankreich zielt Exemtion dagegen primär auf die Befreiung von der bischöflichen Strafgewalt und die Herauslösung aus dem Diözesanverband. Es zeigen sich also regionale Spezifika, die sich einer terminologischen und inhaltlichen Zusammenführung entziehen. Der Gehalt von ‚Immunität’ erscheint ebenfalls variabel, und ausschließlich für Deutschland ist festzuhalten, dass päpstliche Immunität allein in der Kopplung mit dem Königsschutz Bedeutung erlangt, dem sie sehr ähnelt. Die verschiedenen Formen des päpstlichen Schutzes sind demnach insgesamt (noch) nicht als geschlossenes „Rechtsinstitut“ anzusehen, und wurden kaum wohlbedacht von Rom aus eingesetzt. Mit Recht warnt der Verfasser davor, die vom Dekretalenrecht des 12. Jahrhunderts geprägten Definitionen auf die frühere Zeit zu übertragen.

Aufschlüsse bietet die gewählte Perspektive auch für die innerkirchlich relevanten liturgischen Ehrenrechte wie Pontifikalien, lokale Kardinalats-Nachbildungen oder Sedes-Privilegien für Synoden. Sie sind Indizien einer engeren Rombindung und des Bedürfnisses nach Rangerhöhung. Deutschland sticht hier quantitativ deutlich hervor. Die gegenüber der Gallia junge Reichskirche offenbart einen Drang nach Festigung im Inneren, der sich in der Frage des Palliums auf der Ebene der Metropoliten manifestiert. Dessen Verleihung ad personam durch den Papst war im Regelfall von einer Urkunde begleitet. Während in Frankreich für den Untersuchungszeitraum aber kein einziges Pallien-Privileg erhalten ist 5, sind solche für Deutschland auf die Metropolen verteilt überliefert. Dies ist wohl keine Laune des Zufalls, sondern Folge unterschiedlicher Bedeutungszumessungen: Was für Frankreichs Metropoliten nur mehr eine zusätzliche Betonung ihrer gefestigten Position war, fungierte im frühmittelalterlichen Reich noch als Ausweis der Dignität ihrer jeweiligen Kirche und wurde für den Fall konkurrierender Rangansprüche bewahrt oder notfalls per Fälschung erst geschaffen (S. 67, 220, 231).

Die umfassende Fragestellung des Werks nährt den Wunsch des Lesers nach noch mehr Information, doch ist nur eine wirkliche Unterlassung zu beklagen: Auf die Bekräftigung von einer Florentiner und vier katalonischen Bischofsurkunden durch päpstliche Unterschrift wird als Sonderform hingewiesen (S. 100, 109), ohne die Unterschiede zwischen dieser direkten Approbierung und der weit aufwändigeren durch ein eigenes päpstliches Privileg zu erörtern. Diskussionswürdig bleibt der Leitbegriff „Landeskirche“. Johrendt definiert ihn im Sinne weitgehender Kongruenz von kirchlicher Verbandsbildung und politischem Einflussgebiet einleuchtend und für das Frühmittelalter hinreichend offen (S. 6-9). Im Verlauf der Untersuchung wird zunehmend deutlich, dass dies für das nordalpine Reich eine zutreffende Bezeichnung ist. Neben der Schlüsselrolle des Herrschers in der Ausbildung von Rom-Kontakten sind dafür die Reichssynoden als Foren des Informationsaustauschs verantwortlich. Diese deutsche Landeskirche bleibt freilich im Rahmen der Untersuchung singulär. In den politisch disparateren Vergleichsräumen finden sich ebenfalls Gemeinsamkeiten bei Formelgut und Rechtsvorstellungen, diese ignorieren aber zumeist die herrscherlichen Einflusszonen und bilden eigene „Empfängerlandschaften“ (S. 59: Katalonien – Südfrankreich, 237f.: Frankreich, S. 258: Italien).

Jochen Johrendts Untersuchung ist über die systematische Aufbereitung des Materials hinaus von doppeltem Wert. Sie trägt zum einen zu einer differenzierteren Betrachtung der Rolle des frühmittelalterlichen Papsttums, seiner Beziehungen zu Einzelkirchen und zu den einsetzbaren Rechtsinstrumenten wesentlich bei. Wurde bislang das Verhalten der Päpste summarisch als weitestgehend reaktiv bezeichnet, so zeigt sich nun, dass bereits die vorausgehenden Erwartungen der Petenten zwischen bloßer Verehrung des Apostelfürsten und der Hoffnung auf konkreten rechtlichen Beistand schwankten. Für dieses Schwanken waren die politischen Rahmenbedingungen in den Empfängerregionen prägend. Zum anderen ist mit dem vorliegenden Buch eine tragfähige Grundlage geschaffen für die Erforschung des Papsttums im hohen Mittelalter. Vor dem nun klareren Hintergrund der Verhältnisse vor 1046 sind Aufbruch, Gestaltungskraft und die rechtlichen Instrumente der so genannten papstgeschichtlichen Wende des 11. Jahrhunderts deutlicher zu konturieren.

Anmerkungen:
1 Papsturkunden 896-1046, bearb.v. Harald Zimmermann, 3Bde., Wien 1988-1989.
2 Kortüm, Hans-Henning, Zur päpstlichen Urkundensprache im frühen Mittelalter. Die päpstlichen Privilegien 896-1046, Sigmaringen 1995.
3 Vgl. zuletzt Huschner, Wolfgang, Transalpine Kommunikation im Mittelalter. Diplomatische, kulturelle und politische Wechselwirkungen zwischen Italien und dem nordalpinen Reich (9.-11. Jahrhundert), 3 Bde, Hannover 2003, Bd. 1 S. 63-214, zusammenfassend Bd. 2, S. 937-939. Dazu die Rezension in H-Soz-u-Kult unter: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-2-204.
4 So Kehr, Paul F., Über den Plan einer kritischen Ausgabe der Papsturkunden bis Innocenz III., in: Nachrichten der königlichen Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, philologisch-historische Klasse, 1896, Geschäftliche Mitteilungen S. 72-86, Zitat S. 79.
5 Für die Erzbischöfe Reims ist aus dem 11. und 12. Jahrhundert nur ein einziges Pallien-Privileg Urbans II. von 1089 überliefert, dessen Abschrift zudem nicht im Archiv der Reimser Kirche, sondern in den Dokumenten zur Errichtung des Bistums Arras 1093/94, im so genannten Codex Lamberti erhalten ist; vgl. Falkenstein, Ludwig, Lettres et privilèges pontificaux perdus adressés aux archevêques de Reims (XIe-XIIe siècle), in: Revue du Nord 86 (2004), S. 585-603, hier S. 599-601 (das Datum des Konzils von Autun ist in 1094 zu korrigieren).

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