Im Kontext des deutschen Kolonialismus spielte Kiautschou (Jiaozhou) eine Sonderrolle: anders als die afrikanischen und pazifischen Besitzungen des Deutschen Reiches war es direkt der Marineleitung unterstellt, sollte zur „Musterkolonie“ ausgebaut und der chinesischen Gesellschaft als ein regelrechtes Schaustück, als ein „Theater der Moderne“ präsentiert werden. Der Bildungspolitik – die, und das war eine Besonderheit im deutschen Kolonialreich, auch eine Hochschule mit umfaßte – kam bei diesem Projekt eine wichtige Funktion zu.
Tatsächlich haben deutsche Vorbilder bei den chinesischen Bildungsreformen des frühen 20. Jahrhunderts eine zentrale Rolle gespielt. Das (gescheiterte) Programm des Reformers Kang Youwei stützte sich 1898 explizit auf das deutsche Modell, und auch für die späteren Reformanstrengungen der kaiserlichen Regierung, die 1905 zur Abschaffung des traditionellen Prüfungssystems führten, spielten deutsche Einflüsse eine Rolle. Das wird man von den wenigen Schulen, die während der Kolonialzeit in deutscher Trägerschaft errichtet wurden, allerdings nur in Maßen behaupten können. Im Gegensatz zu den über 5.000 französischen und 2.000 amerikanischen Schulen in China blieben die rund 30 deutschen Bildungseinrichtungen – die zudem vor allem mit Übersetzungen französischer und englischer Lehrbücher arbeiteten – nur eine Marginalie.
Chun-Shik Kim hat sich der Mühe unterzogen, die kurze Zeit des kolonialen Schulwesens in Kiautschou minutiös nachzuzeichnen. Das ist eine sehr verdienstvolle Arbeit, durch die nun verläßliche Zahlen (soweit die Quellen das zulassen) zu Schülern und Lehrpersonal vorliegen. Kim rekonstruiert auch die koloniale Bildungspolitik aus den Quellen, und er untersucht die Lehrpläne und intendierten Bildungsinhalte. Einer seiner Befunde besteht darin, daß eine deutliche Trennung zwischen staatlichem und missionarischem Sektor in der Bildungspolitik nicht den Realitäten entspreche.
Allerdings bleibt Kims Hamburger Dissertation weitgehend bei einer deskriptiven Rekonstruktion stehen. Größere Zusammenhänge oder analytische Probleme werden kaum behandelt – obwohl das nahegelegen hätte. So hätte man an die Darstellung der deutschen Mädchenschulen Überlegungen zur Rolle von gender-Kategorien im Kontext der deutschen Kolonialpolitik anknüpfen können; generell hätte es sich angeboten, die Dynamik des beschriebenen Kulturtransfers systematisch zu analysieren; zur Rolle lokaler Akteure beispielsweise, die ja in China ganz anders aussah als in den afrikanischen und pazifischen Kolonien, hätte man sich ausführlichere Überlegungen gewünscht.
Statt dessen bleibt das Werk an der Oberfläche – und sitzt nicht selten dabei der Sprache der Quellen auf, auf die es sich stützt, wenn etwa die Bildungsarbeit als „erfolgreich gewertet“ wird, wenn von der „Krönung der staatlichen Kulturarbeit“ die Rede ist oder „eine zwischen Ost und West vermittelnde Tendenz erkannt“ werden will. Das reproduziert – der imperialismuskritischen Absicht zum Trotz – die Sicht der deutschen Kolonialherren. Diese Tendenz wird noch dadurch verstärkt, daß chinesische Perspektiven und Reaktionen kaum eine Rolle spielen (weil, wie es nach Studium der deutschen Quellenbestände lakonisch heißt, „von der chinesischen Masse nur wenig vorliegt“). Eine Einordnung in die Geschichte der späten Qing-Zeit fehlt völlig – aber nur so hätte die Bedeutung all jener Versuche, das chinesische Schulwesen grundlegend zu reformieren, deutlich werden können.