Ein Engel lüftet den Schleier. Nun kann die eichenbekränzte Germania mit der Fackel der Wahrheit einen muskelösen Orientalen erleuchten, der dabei, unter einer Palme auf einem Löwen dösend, erwacht. Dieses Motiv hätte Johann Wolfgang Goethe entzückt: Okzident und Orient sind nun nicht mehr zu trennen. Und hätte Edward Said diese Gedenkmünze der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft aus dem Vorjahr der Reichsgründung nur gekannt, so wäre rund einhundert Jahre später sein Orientalismus-Buch vermutlich anders ausgefallen. Denn es hat die Standesbezeichnung „Orientalisten“, die zu jenem Zeitpunkt schon durch deren Beschluss selbst als abgeschafft galt, nachträglich befleckt. Zwar hatte er die Deutschen von seinem Vorwurf der „Orientalisierung des Orients“ ausgenommen, jedoch behauptete er auch später verallgemeinernd, erst Orientalisten hätten dem Westen das Herrschaftswissen geliefert, um den Orient zu verklären, zu feminisieren und zu penetrieren. Im Gegensatz dazu stellte die hübsche Münze zum 25. Jubiläum des Vereins der Orientalisten einst nicht nur die Rollen der Geschlechter genau umgekehrt dar, sondern auch die neuen Ideale einer höheren Einheit des abendländischen und morgenländischen Geistes.
Ja, das war die Gesinnung dieser Weltbürger: ein von Politik und Macht freies Streben nach humanistischer Aufklärung. Dies folgte dem Humboldtschen Bildungsideal. Sabine Mangold, die wie der Leipziger Holger Preißler schon 1995 jene „Denkmünze“ abbildet, zeigt in ihrer exzellenten Studie der Orientalistik in Deutschland 1800 bis 1914, wie sich dies „Orchideenfach“ aus einer „Hülfswissenschaft“ der theologischen Bibelexegese um 1850 als Philologie in den Philosophischen Klassen der Fakultäten etabliert hat. Erstaunlich, denn die kleine Disziplin konnte keinen Nutzeffekt wie Lehramtsausbildung vorweisen. Dennoch wanderte das Mekka der Orientalistik von Paris nach Leipzig, von Silvestre de Sacy zu seinem sächsischen Meisterschüler Heinrich Leberecht Fleischer. Der Sachse lieferte auch die im Titel geführte Beschreibung der Orientalistik als einer weltbürgerlichen Wissenschaft, die von Anfang an international war. In Deutschland erblühten ihre Fächer etwas anders als in Paris, London, St. Petersburg oder Amsterdam: fern von kolonialen Zielen.
Erstens geht es der Autorin um geistige und politische Faktoren, die diese Etablierung erlaubt haben. Nebenbei fragt sie, warum sich die Orientalistik zunächst als philologische Sprach- und Literaturwissenschaft und nicht etwa als historische Kulturwissenschaft eingerichtet hat (das blieb offen). Zweitens untersucht sie die Stellung Orientalistischer Studien im akademischen Kanon und drittens erkundet sie noch, welche Funktion die internationale Wissenschaftsverflechtung und der Vergleich mit dem Ausland für diese Disziplin hatten.
Wie Sabine Mangold herausfand, tauchte zwar der Begriff „Orientalistik“ erst ein Jahrzehnt vor 1900 auf, als sich diese Manteldisziplin aufspaltete. Jedoch sprachen die Deutschen vor der Jahrhundertmitte von ihrem „Orientalismus“. Damit meinten sie eben diese Disziplin. Man könnte ideengeschichtlich ergänzen, dass Muhammad Rahbar den Umkehrfall, eine Disziplin zur Kunde des Abendlandes, die Okzidentalistik, einhundert Jahre später angeregt hat. Den anderen Orientalismus, kein Architekturstil, sondern eine Ideologie, nannte Anwar Abd al-Malik zu Beginn der 60er Jahre al-Istishraqiya, ehe ihm Edward Sa'id im folgenden Jahrzehnt mit seinem gleichnamigen Buch zum zweifelhaften Ruf verhalf. Dies zog eine Welle begrifflicher Entwicklungen nach sich, die über einen Vorzeichentausch hinausging. Fu'ad Zakariya benutzte den gegenteiligen Orientalismus, al-Istishraqiya al-Ma'kusa. Sadiq Galal al-Azm sprach von al-Istishraq ma'kusan, also der umgekehrten Orientalistik. Mahmud Amin al-'Alim ging mit Istighrab Ma'kus weiter, der entgegengesetzten Okzidentalistik. Zur Okzidentalistik rief Hasan Hanafi 1991 auf, 'Ilm al-Istighrab, der Disziplin zum Studium des Westens. Heute richtet sich ein Vorwurf des Okzidentalismus, also der ideologischen Stereotypisierung des Westens, an Adressen im Orient.
Dieses Echo plagte deutsche Orientalisten im 19. Jahrhundert kaum, denn sie erhellten nicht das Tagesgeschehen. Sabine Mangold, die Geschichte und Arabistik studierte, bettet dies in Anfang und Tradition 1800 bis 1835 ein. Dann zeigt sie bis 1880 Konsolidierung und Konflikte der Orientalistischen Philologie. Das erörtert sie anhand der Universitäten. In zwei weiteren Kapiteln dreht es sich jeweils um die 1845 gebildete Deutsche Morgenländische Gesellschaft mit ihrem Doppelsitz in Leipzig und Halle sowie um das 1887 in Berlin gegründete Seminar für Orientalische Sprachen. Dann lotet sie Neuansätze unter Wilhelm I. bis 1914 aus: Kritik der Philologie, Ab- und Aufspaltung sowie Bildung der Islamkunde.
Gründlich hat Sabine Mangold Archive von Universitäten, Vereinen, Journalen und Zeitungen ausgewertet. In der Sekundärliteratur sind ihr freilich, wie hier am Ende nur zu erwähnen ist, Beiträge entgangen. Jedoch kann man nie alles erfassen, und es lässt sich leicht ergänzen. Ihr Band, eine Dissertation an der Universität des Saarlandes, fügt sich in eine wissenschaftshistorische Reihe, die Europas Ausgreifen nach Napoleons Feldzug in Ägypten aufhellt. Dabei fehlte bisher eine ganzheitliche Studie zum 19. Jahrhundert. Stets galt Johann Fücks „Die Arabischen Studien in Europa“ (1955) als einsamer Klassiker. Zwar hat der Hallenser mehr als „arabische Studien“ erfasst, jedoch sich enzyklopädisch meist auf Biographien und Werke beschränkt. Eine moderne disziplinäre Geschichte, die Phasen wie Entstehung, Konsolidierung, Umgestaltung und Auflösung ergründet, stand damit an.
Hier setzt die Autorin ein, ohne damit Fück völlig zu überholen. Im Gegenteil, er und Mangold werden fortan komplementär konsultiert werden können: der eine vermittelt eine Biographie- und Werkgeschichte, die andere eine disziplinäre Problemgeschichte. Einen reizvollen Anschluss gewährt Ludmila Hanischs „Die Nachfolger der Exegeten“ (2003) zur deutschsprachigen Erforschung des Vorderen Orients in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Alle übrigen Beiträge weisen keine so synthetische Sichtweise auf. Sie zählen entweder zu spezialisierten Fach- oder Länderfach-Geschichten wie Haim Gorens „Zieht hin und erforscht das Land“ (2003) über die deutsche Palästina-Forschung bis 1900. Was nach 1945 an vielen kleinen Beiträgen zur Wissenschaftsgeschichte folgte, darunter von Rudi Paret (1966) und Fritz Steppat (1985), war naturgemäß durch die Zweistaatlichkeit geprägt. Ob es eine Problemgeschichte für das 20. Jahrhundert geben wird, ist jedoch zu bezweifeln. Denn abgesehen von der erwähnten Selbstabschaffung des Etiketts „Orientalist“ auf dem 100. Internationalen Orientalistenkongress in Paris 1973, gedieh die Welt dafür zu bunt: drei Dezennien später hatte der Deutsche Orientalistentag in Halle 17 Sektionen.
Sabine Mangold zitiert Eduard Sachau. Er zeigte auf, dass es kurz nach 1900 57 Dozenten für orientalistische Studien an 21 Universitäten gab. Es existierten zwei große außeruniversitäre Institute, das Berliner Seminar für Orientalische Sprachen und das Hamburger Kolonialinstitut. Letztere entsprachen den neueren Bedürfnissen, die in den Deutschen Orient-Gründerjahren aufkamen. In jenen drei Jahrzehnten ab 1884 also, als Deutschland nicht nur Kolonialmacht wurde, sondern allseitig Beziehungen zu Nah- und Mittelost anbahnte. Universitätsorientalisten, Forscher, Experten und Interessierte, kurz die community, näherten sich dem akademisch, politisch, wirtschaftlich, militärisch und kulturell an.
Zu Beginn jener Ära edierte August Bebel sein Büchlein „Die Mohammedanisch-Arabische Kulturperiode“, was der Autorin entging. Der Parlamentarier popularisierte so die Forschungen von Orientalisten. Aber, und auch das fehlt, die junge Islamkunde verlor 1914 ihre Unschuld: ihre Begründer wie Carl Heinrich Becker halfen, islamistische Revolten im kolonialen Hinterland der Feinde zu schüren. Sie berieten nicht nur Berlins Kolonialpolitik, sondern sie vertraten und trieben selbst die Kriegspolitik. Diplomaten um Max von Oppenheim und Orientalisten um Martin Hartmann ließen in einer konzertierten deutsch-osmanischen Aktion den Djihad-Geist gegen die judäo-christliche Tradition aus der Flasche. Sie erfanden die islamische Revolutionierung, was bis dahin als Widerspruch in sich galt.
Zur Literatur, die zu prüfen gewesen wäre, zählen Beiträge zur Orientalistik, die in Halle Burchard Brentjes, in Berlin Hermann Grapow und Gerhard Höpp sowie in Princeton Bernard Lewis ediert haben. Gleichwohl Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte bergen die Berliner Mitteilungen des Instituts für Orientforschung, die Berliner Debatte Initial – dort Heft drei 1993 zur Orientalischen Kommission von 1912, die auch die Orientalistik in der Akademie der Wissenschaften begründete (und hier fehlt) - und das Berliner Journal Asien, Afrika, Lateinamerika, letzteres zum Beispiel in den Heften 3/1984, 3/1992 und 1/1995. Dies soll aber den Wert von Sabine Mangolds Werk nicht schmälern, das nur empfohlen werden kann.