: Stalin und seine Henker. . München 2004 : Karl Blessing Verlag, ISBN 3-896-67181-2 617 S. € 25

: Chronik Moskauer Schauprozesse 1936, 1937 und 1938. Planung, Inszenierung und Wirkung. Berlin 2003 : Akademie Verlag, ISBN 3-05-003869-1 695 S. € 69,80

Kizny, Tomasz (Hrsg.): Gulag. Solowezki; Belomorkanal; Waigatsch-Expedition; Theater im Gulag; Kolyma; Workuta; Todesstrecke. Hamburg 2004 : Hamburger Edition, HIS Verlag, ISBN 3-930-90897-2 495 S. € 49

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Weber, Historisches Seminar Universität Leipzig,

Mit einer Monografie, einer Chronik und einem Fotoband werden im Folgenden drei Bücher vorgestellt, die sich dem Stalinismus auf sehr unterschiedliche Art nähern. Ihnen gemein ist – soviel sei vorweg genommen – dass sie, trotz zum Teil gegenteiliger Versprechen, keine neuen Forschungsansätze oder Thesen präsentieren. Sie nehmen, wie Donald Rayfield in „Stalin und seine Henker“, die derzeitige Hinwendung zu den persönlichen Netzwerken des Stalinismus auf oder liefern, wie Wladimir Hedelers „Chronik der Moskauer Schauprozesse 1936, 1937 und 1938“, Quellenmaterial zum historischen Ereignis. Der Reiz einer Sammelbesprechung liegt somit weniger in der vergleichenden Diskussion wissenschaftlicher Erklärungen als vielmehr in der kritischen Auseinandersetzung mit den auch ästhetisch verschiedenartigen Zugängen.

Die Studie des britischen Universitätsprofessors für russische und georgische Geschichte und Literatur, Donald Rayfield, kommt im konventionellen Gewand einer Monografie daher, die mit dem doch leicht abgestandenen Titel „Stalin und seine Henker“ auf einen Platz in den Bestsellerlisten hofft. Diesem durchaus nachvollziehbaren Flirt opfert Rayfield die erzählerische Stringenz und Überzeugungskraft seines Buches. Noch in der Einführung verspricht er, Stalins Weg an die Macht anhand der Laufbahnen und Persönlichkeiten seiner Handlanger Felix Dserschinski, Wjatscheslaw Menshinski, Genrich Jagoda, Nikolai Jeschow und Lawrenti Berija zu untersuchen. Er folgt damit dem neueren Interesse an den Gefolgschaftssystemen stalinistischer Herrschaft, das bereits so herausragende Studien wie die 2002 erschiene Jeschow-Biografie von Marc Jansen und Nikita Petrov hervorgebracht hat. Zwar lässt der Versuch, das Wesen des Stalinismus über die Bedeutung persönlicher Netzwerke zu begreifen, die ideologischen Erzählungen der Vergangenheit wohltuend hinter sich. Gleichzeitig birgt er jedoch einige Gefahren, darunter die, die historische Erkenntnis in Anekdoten und Skandalgeschichtchen aufzulösen und so die Erklärung der stalinistischen Gewaltgesellschaft auf die sexuellen Perversionen von Handlangern wie Jeschow oder Berija zu reduzieren.

In beide Fallen tappt auch Rayfield, der dem bereits Bekannten zudem nichts Neues hinzuzufügen weiß. Die Auswahl seiner „Henker“ entspricht der Chronologie und inneren Logik von Stalins Aufstieg. Um ihn zu erklären, stellt der Autor charakterliche Ähnlichkeiten und biografische Parallelen zwischen dem Diktator und seinen Satrapen in den Mittelpunkt: ein Ansatz, der nur partiell überzeugen kann. Zweifelsohne nutzte Stalin die ihn mit Felix Dserschinski verbindende Abneigung gegen Leo Trotzki aus; einmal, um Dserschinski an sich zu binden und dann, um mit Trotzki, den schärfsten Konkurrenten aus den inneren Machtzirkeln, zu verdrängen. Die Tatsache aber, dass sowohl Stalin als auch sein „Steigbügelhalter“ (S. 250) Wjatscheslaw Menshinski Gedichte verfassten, kann die sowjetische Geschichte der 1930er-Jahre nicht erklären.

Rayfields Gewichtung ist unglücklich. Sie mag seiner literaturgeschichtlichen Versiertheit entstammen; historische Erklärungskraft aber wohnt ihr nicht inne. Konstruiert wirkende Parallelen, wie jene dichterische Vorliebe werden überstrapaziert, nachvollziehbare Argumente dagegen verschwinden in Nebensätzen. Die unterwürfige Gefolgschaft der OGPU-Spitzen ist mit ihrer im Bürgerkrieg und dem „Roten Terror“ geschulten Gewalterfahrung und mit dem Intrigenspiel Stalins überzeugender erklärt – einem Intrigenspiel, dem sich auch Menshinski, in Angst um seine Pfründe und Macht, nicht entgegenstellte.

An dieser Stelle hätte eine Geschichte, die von der kulturgeschichtlichen Verankerung der Gewalt ebenso zu berichten weiß, wie von den Symbolen und Bedeutungsnetzen der Intrige und des Machtspiels, einsetzen können. Rayfield verpasst diese Chance und folgt der bekannten Erzählung. Ab 1927 zum Nachfolger Dserschinskis ernannt, sorgte Menshinski für den Parteiausschluss Kamenevs, Sinowjews und Trotzkis. Von einem ausgeprägten Sadismus, Hass und einer Stalin ähnelnden „ruhigen Skrupellosigkeit“ (S. 140) beherrscht, organisierte er die Zwangskollektivierung, die zum grausamen Vorspiel für den „Großen Terror“ wurde.

Dazwischen wirkte Genrich Jagoda, der dritte von Rayfield beschriebene Handlanger, als „Wachhund“ Stalins (S. 251). Ihm, der unter Menshinski die Drecksarbeit besorgte, billigt der Autor eine, in der Logik seiner Erzählung nachvollziehbare Übergangsrolle zu. Nach Menshinskis Tod zum Leiter des neu geschaffenen NKWD berufen, übersah er auf der Höhe der Macht, wie dicht Jeschow schon hinter ihm lauerte. Nikolai Jeschow, dem „Bluthund“ des „Großen Terrors“ und seinem Nachfolger Lawrenti Berija ist ein Großteil des Buches gewidmet. Hinsichtlich Jeschows orientiert sich Rayfield an dem Buch von Petrov/Jansen. Er erklärt Jeschows sadistischen Blutrausch aus einem „inneren Drang zu töten“, eine Eigenschaft, die ihn von der hündischen Unterwerfung eines Molotov oder Kaganowitsch absetzte. Stalin, so Rayfield in Anlehung an Jansen/Petrov, erkannte die Qualitäten seines „willigen Vollstreckers“. Er brachte ihn an die Macht und ließ ihn fallen, als sich Jeschow blindwütig der Gewalt ergab.

Jeschows Schwäche, kein Ende zu kennen, ermöglichte den Aufstieg Berijas, der ebenso sadistisch, ein, wie Rayfield an dieser Stelle überzeugend argumentiert, „intelligenter Pragmatiker“ war, der den Terror nur „verfeinerte“ (S. 423). Wie bei wohl keinem seiner Vorgänger entsprach die Kaltblütigkeit des Lawrenti Berija dem Wesen Stalins. Wie dieser zählte auch Berija „zu den besten Personalchefs in der Geschichte der Sowjetunion“ (S. 409), er teilte dessen georgische Herkunft, war mit dem Spiel von Gefolgschaft und Netzwerken vertraut und hatte sich als „Stalin des Kaukasus“ bewiesen. Seine dosierte Skrupellosigkeit und untertänige Anpassungsfähigkeit trugen ihn durch den Zweiten Weltkrieg und die spätstalinistischen Säuberungen, die er bis zum Tod Stalins 1953 an der Spitze des NKWD organisierte. Als Nachfolger Stalins aber hielt er sich nicht, denn auch Berija war, wie die anderen vor ihm, nur der Handlanger, dessen Zeit mit dem Abgang seines Herrn abgelaufen war.

Rayfield präsentiert Stalin als einen cleveren „Menschenspieler“, dessen Personalpolitik allein darauf gerichtet war, die Schwächen und Stärken seiner Untergebenen für die eigene Macht auszunutzen. Diese Erkenntnis ist nicht neu, den spannenden Plot für eine Stalinismus-Geschichte liefert sie allemal. Leider kann Rayfield den Spannungsbogen nicht durchhalten. Er verliert den roten Faden seiner Erzählung in Anekdoten und Legenden und setzt auf Übertreibungen, die wohl jenem Blick auf die Auflagenstärke geschuldet sind, dem das Buch schon seinen Titel verdankt. Stalin als schöngeistigen Dichter und Denker zu beschreiben, ist nicht nachvollziehbar. Dergleichen gilt für einen ärgerlich oberflächlichen Umgang mit Begriffen wie dem „Holocaust“ (S. 109, 233) und der „Endlösung“ (S. 353), die doch mit der deutschen Geschichte im Dritten Reich verbunden bleiben sollten. Auch hier drängt sich der Eindruck auf, dass die wissenschaftliche Sorgfalt hinter dem Wunsch nach hohen Verkaufszahlen zurücktrat.

Im Unterschied zu den Täterbiografien Rayfields rückt in Wladislaw Hedelers „Chronik der Moskauer Schauprozesse 1936, 1937 und 1938. Planung, Inszenierung und Wirkung“ das historische Ereignis in den Mittelpunkt. Wie er in den Vorbemerkungen erläutert, will Hedeler, Osteuropahistoriker an der Universität Bonn, anhand von veröffentlichten Quellen und zugänglichen Archivdokumenten die Aufeinanderfolge und die Verzahnung der Verhaftungswellen, das Ineinandergreifen der Propagandakampagnen und damit die Entstehung der Drehbücher der „großen Verschwörungen“ aus der Innensicht der Machthaber, ihrer Gefolgsleute sowie der Opfer dokumentieren (S. XXXVII). An der Umsetzung dieses ambitionierten Programms scheitert Hedeler, nicht zuletzt weil er mit einer Chronik schlichtweg das falsche Medium wählt. Vom griechischen Wort chronos (Zeit) abgeleitet, dient die Chronik der Darstellung historischer Ereignisse in ihrer zeitlichen Abfolge. Bereits an dieser Stelle, der zeitlich-historischen Einordnung, ist Hedelers Konzept unschlüssig, beginnt doch seine Chronik am Mittwoch, dem 1. Januar 1936 und endet am Sonnabend, dem 31. Dezember 1938, als ob die Schauprozesse einer Silvesterrakete gleich am Himmel aufgeblitzt wären. Eine Chronik ist Hedelers Buch nicht, sollte sich doch dieses historische Hilfsmittel auf die zeitliche Darstellung beschränken, ohne Bezüge und Zusammenhänge verstehen, beschreiben und erklären zu wollen. Um letzteres aber, um die Verzahnungen und das Ineinandergreifen, geht es dem Autor. Das Unbehangen, nicht zu wissen, warum Hedeler sich für eine Chronik entschieden hat und was den LeserInnen mit diesem Buch überhaupt begegnet, begleiten die Lektüre.

Tag für Tag füllt der Autor mit detaillierten Informationen, deren Erarbeitung eine akribische und aufwändige Fleißarbeit darstellt. Wladimir Hedeler hat die verschiedenen Quellen von russischen Archivmaterialien bis hin zu so wichtigen Monografien wie Oleg Chlevnjuks Studie über das Politbüro im Hinblick auf die Chronologie der Moskauer Schauprozesse ausgewertet. Leider bringt sich der Autor selbst um den Lohn der immensen Arbeit, wirken die ausgewählten Ereignisse und Fakten doch teilweise zusammenhangslos und unmotiviert aneinandergereiht. Die Beziehung zwischen Eintragungen wie beispielsweise denen für Montag, den 18. April 1938 – „Spitzelberichte über Landau, Korec und Rumer und deren Beteiligung an der Herstellung antisowjetischer Flugblätter“ – und der Tagebuchnotiz der Intendantin des Leningrader Marionettentheaters – „In Leningrad sind nur die St.-Nikolaus-Kathedrale und die Kathedrale des Fürsten Vladimir geschlossen“ (S. 407) – bleibt verborgen. Und selbst die penible Auflistung der Erschießungen, Verhöre oder der von Stalin in seinem Kabinett empfangenen Personen hinterlässt eine Leere, die keinen historischen Sinn herstellt.

Darüber hinaus verzichtet Hedeler bewusst auf die gerade für ein wissenschaftliches Hilfsmittel unverzichtbaren Standards, wie die Paraphrasierung von Zitaten im Text. Für die HistorikerInnen wird die Lesbarkeit der Chronik damit nicht, wie Hedeler seinen Schritt begründet, erleichtert, sondern ungleich erschwert, muss doch mühsam nach Anfang und Ende des Zitats gesucht werden. Lediglich der Anhang, in dem u.a. die Strukturen des NKWD oder die von diesem aufgedeckten Verschwörungen, Maßnahmen und Operationen aufgelistet sind, bildet einen nützlichen, weil schnell erschließbaren Handapparat für denjenigen, der eine Geschichte der Moskauer Schauprozesse schreiben will.

Die Schauprozesse in Moskau und der ihnen folgende „Große Terror“ trieben Tausende wie Schlachttiere in die Arbeits- und Straflager des Gulag, dessen Geschichte der polnische Journalist und Fotograf Tomasz Kizny in einem eindrucksvollen Fotoband nachzeichnet. Waren 1936 allein im berüchtigten Lagerkomplex an der Kolyma knapp 50.000 Strafgefangene zur Zwangsarbeit verurteilt stieg deren Anzahl bis 1940 auf über 190.000. Ihr Wettlauf gegen den Tod ist in zahlreichen Büchern, von Alexander Solschenizyns „Archipel Gulag“ bis hin zu der klugen Monografie der US-amerikanischen Journalistin Anne Applebaum, beschrieben worden und bekannt. Auf den ersten Blick mag hinter Kiznys Fotoband daher eine bestätigende Bebilderung des Erzählten vermutet werden. Die Gefahr, mit Fotografien das Geschriebene bloß zu ergänzen, ist groß. Kizny geht ihr aus dem Weg und stellt eine über die Illustration des Schreckens hinausgehende eigenständige Geschichte des Gulag vor, die zudem daran erinnert, wie unspektakulär die Grausamkeit auch im Lager daherkam. Sicher, auf die zu erwartenden Bilder verzichtet Kizny nicht. Es sind die der Geröll karrenden Gestalten am Belomorkanal, der Ausgemergelten auf den Krankenstationen, von denen nicht mehr als verrottete Schuhberge blieben. Der perfide Zynismus des Gulag aber begegnet dem Betrachter in den Fotografien von den Theatervorstellungen und akrobatischen Zirkusnummern, die, den Gefangenen ein normales Leben vorgaukelnd, tatsächlich Lebensmut geben konnten. Subtil erzählen Kiznys Fotografien vom alltäglichen Einrichten in den Gewalträumen des Stalinismus.

Die einzelnen Kapitel repräsentieren die verschiedenen Auswüchse des Gulag. Chronologisch beginnt Kizny mit den Lagern auf den Solowezki-Inseln im Weißen Meer, die von den Bolschewiki in alten Klosteranlagen bereits 1923 eingerichtet wurden. Die Fotografien, die der Autor zum Großteil dem Solowezki-Buch Juri Brodskis entnommen hat, zeigen ehemalige Offiziere der zarischen Armee und Sozialrevolutionäre bei der Ankunft auf der Insel, die für sie zunächst das Ende des Dahinvegetierens in den überfüllten Gefängniszellen in der "Butyrka" oder "Lubjanka" bedeutete. Obwohl die Klöster ausgeraubt und die Gräber ihrer Gründer von Tscheka-Trupps – ein Foto zeigt sie in glänzenden Lederjacken am geöffneten Grab – geschändet worden waren, konnten die auf dem Solowezki-Archipel inhaftierten Würdenträger der russisch-orthodoxen Kirche zumindest bis 1929 das religiöse Leben aufrecht erhalten.

Das Jahr 1929 war eine Zäsur in der Geschichte des sowjetischen Gulag. Von Stalin verfügt, wurden die Lager dem Justizsystem entzogen und unter die alleinige Hoheit der Geheimpolizei OGPU gestellt. Im selben Jahr beschloss die Regierung mit dem neuen Fünfjahresplan die Großprojekte der Industrialisierung. Dies war die Geburtsstunde des Archipel Gulag, des riesigen, über das ganze Land verzweigten Lagersystems, dessen Insassen auf den Baustellen des Stalinismus zugrunde gingen. Mit den Fotografien aus den größten Lagerkomplexen an der Kolyma und Workuta dokumentiert Kizny das Leben auf den Zechen und in den Goldminen, die von 1931 bis 1955/56 betrieben, einen wesentlichen Wirtschaftsfaktor der sowjetischen Bergbauindustrie darstellten. Innerhalb eines Jahres, von 1935 bis 1936, stieg allein die Goldfördermenge aus den Kolyma-Lagern von 14 Tonnen auf 33 Tonnen; ein Zuwachs, für den sich der Lagerleiter Eduard Bersin mit dem Rolls-Royce der Lenin-Witwe Krupskaja belohnte, bevor er selbst dem „Großen Terror“ zum Opfer fiel.

Im Unterschied zu den wirtschaftlich bedeutsamen Lagern an der Kolyma und Workuta dokumentieren die Fotografien vom Bau des Belormorkanals und der Eisenbahnlinie Nord auf der Höhe des Polarkreises zwei der technisch aufwändigsten und sinnlosesten Projekte des stalinistischen Größenwahns. 1931 begann der Bau des Weißmeerkanals nach nur siebenmonatiger Planungsphase auf Stalins Geheiß. Bis zur Eröffnung zwanzig Monate später arbeiteten fast 100.000 Strafgefangene, teilweise aus den Solowezki-Lagern an die Baustelle verlegt, an der Kanalverbindung zwischen der Ostsee und dem Weißen Meer, die sich ökonomisch nie rentierte. Wie ignorant Stalin auf der wirtschaftlichen Ebene war, beweist auch der Plan einer nördlichen Eisenbahnstrecke, seiner letzten Großbaustelle. 1947 vom alternden Diktator befohlen, sollte die Bahn durch die im Winter vereiste und im Sommer sumpfige Tundra den Bau eines großen Seehafens an der sibirischen Arktisküste ermöglichen: ein Vorhaben, das aufgrund der schwierigen Naturbedingungen nicht nur technisch unmöglich war – für die Strafgefangenen bedeutete es das sichere Ende. Zwei Wochen nach Stalins Beisetzung ist der Bau der so genannten „Todesstrecke“ eingestellt worden.

Die Kapitel über das Theater im Gulag und die Waigatsch-Expedition durchbrechen die chronologische Struktur des Bandes und stellen zwei weniger bekannte Seiten des stalinistischen Lagersystems vor. Vor allem die Theater waren für verhaftete Intellektuelle und die zu Volksfeinden erklärten Stars der Moskauer Bühnen Überlebens-Nischen. Fast jedes Lager, von den Solowezki-Inseln bis nach Salechard am Polarkreis hielt sich, häufig als Steckenpferd des Kommandeurs, ein Ballett, Orchester oder ein Theater, dessen Schauspieler bei der Ankunft aussortiert, als „wertvolle Elemente“ das graue Dasein betanzten. So unwirklich die Fotografien der aufspielenden Jazzkappellen und graziösen Ballerinen auch scheinen mögen, so wenig mildern sie die Vorstellung vom Leben im Gulag. Im Gegenteil lassen die schenkelklatschenden Aufseher und tänzelnden Gefangenen es besonders grausam erscheinen.

Dem historischen Teil hat Kizny eine fotografische Spurensuche angefügt. Er hat die Orte besucht, die ihm auf den alten Fotos begegnet sind und so seine Geschichte geschaffen. Während die orthodoxen Mönche stolz auf die Solowezki-Inseln zurückgekehrt sind, zeigen die Porträts der am Belomorkanal Zurückgebliebenen eine behauste Einsamkeit, deren Trostlosigkeit auch von den Fotos verlassener Waggons an der „Todesstrecke“ nicht überboten werden kann. Das Hauptquartier der Waigatsch-Expedition nutzen heute die Nenet, ein sibirisches Nomadenvolk, das unter Stalin kolonialisiert werden sollte. In der Verbindung aus Geschichte und Gegenwart gelingt es Kizny, die komplexe Psyche des Gulag in ihrer longue durée zu beschreiben. Die Besonnenheit, mit der er sich dabei der grausamen Alltäglichkeit nähert, ist das große Verdienst dieses Bandes. Tomasz Kizny führt den Beweis, dass Fotografien mehr sein können als die Bebilderung des schon Erzählten.

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