R. Wenzke (Hg.): Staatsfeinde in Uniform?

Cover
Titel
Staatsfeinde in Uniform?. Widerständiges Verhalten und politische Verfolgung in der NVA


Herausgeber
Wenzke, Rüdiger
Erschienen
Anzahl Seiten
638 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Th. Müller, Arbeitsbereich Theorie und Geschichte der Gewalt, Hamburger Institut für Sozialforschung

Die Forschung zur Geschichte der DDR im Allgemeinen und zu ihrer Militärgeschichte im Besonderen hat seit 1990 deutliche Fortschritte gemacht. Auf dem Gebiet der Militärgeschichtsforschung kann dabei die Vorreiterrolle des Forschungsbereiches „Militärgeschichte der DDR im Bündnis“ des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes kaum genug betont werden. Hier wurde und wird zu den Streitkräften der DDR elementare Grundlagenforschung geleistet, deren Ergebnisse seit dem Jahr 2000, gemeinsam mit den Arbeiten externer Autoren, in der Reihe „Militärgeschichte der DDR“ beim Christoph Links Verlag publiziert werden.

Im nunmehr neunten Band der Reihe wandten sich Herausgeber Rüdiger Wenzke und seine Mitautoren Torsten Diedrich und Hans Ehlert einem bislang sowohl in der Militärgeschichtsforschung als auch in der Forschung zur Opposition in der DDR kaum erforschten Gegenstand zu – den Verweigerungs- und Widerstandsmustern von Angehörigen des DDR-Militärs, ihren politischen, ethischen, religiösen und moralischen Motiven sowie den Formen und Institutionen zur Repression widerständigen und nonkonformen Verhaltens in der NVA und ihren Vorläuferorganisationen.

Das vorliegende Buch bietet damit erstmals einen relativ umfassenden Überblick der Erscheinungsformen oppositionellen oder doch zumindest gegenüber dem System unangepassten Verhaltens von Armeeangehörigen und Zivilbeschäftigten der NVA. Dabei handelte es sich um Menschen, die den Herrschaftsanspruch der SED generell in Frage stellten oder doch begrenzen wollten oder sich ihm in Bereichen der persönlichen Lebensführung entziehen wollten. Die Handlungsmuster wiesen dabei eine sehr große Bandbreite auf. Sie reichten von massenhaften Desertionen und konspirativen Widerstandshandlungen durch Angehörige der KVP über die Verweigerung bestimmter militärischer Einsätze und Befehle sowie die Wehr- und Waffendienstverweigerung bis hin zu offenen politischen Protestaktionen durch Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere. Dieses Phänomen war verstärkt zwischen Herbst 1989 und Frühjahr 1990 zu beobachten.

Trotz der im Buch zum Ausdruck kommenden beträchtlichen Vielfalt regimekritischer und widerständiger Verhaltensweisen bildeten die NVA und ihre Vorläuferorganisationen zu keinem Zeitpunkt ein Zentrum von Widerstand und Opposition in der DDR. Das ist nicht zuletzt auf die im Vergleich zum zivilen Bereich deutlich höhere Dichte von parallelen und sich zum Teil auch überlappenden Überwachungs- und Repressionsorganen in diesem für die Sicherung der SED-Herrschaft als besonders wichtig erachteten Bereich der DDR-Gesellschaft zurückzuführen. Partei- und Politorgane sowie die militärischen Einzelleiter als Verkörperung der Einheit von politischer und militärischer Führung waren gemeinsam mit Militärjustiz und Hauptabteilung I des Ministeriums für Staatssicherheit verantwortlich für die Kontrolle des politisch-moralischen Zustandes der Streitkräfte, die Abwehr von politisch-ideologischer Diversion und die Unterdrückung und Bestrafung von politisch abweichendem Verhalten. Auch mit der anschaulichen Darstellung der Wirkungsweise dieses Apparates legen die Autoren neue Forschungsergebnisse vor.

Die Darstellung gliedert sich dabei in eine kurze Einführung des Herausgebers zum Gegenstand und dessen spezifischen Methoden- und Quellenproblemen sowie drei chronologisch angeordnete Aufsätze der Autoren. Torsten Diedrich wendet sich dem Widerstandsverhalten und der politischen Verfolgung in der Aufbau- und Konsolidierungsphase der DDR-Streitkräfte zwischen 1948 und 1968 zu, während Rüdiger Wenzke Protestverhalten, Verweigerungsmuster und politische Verfolgung in der NVA zwischen „Prager Frühling“ 1968 und Herbst 1989 untersucht. Gleichsam Abschluss und Ausblick bildet der Aufsatz von Hans Ehlert über die NVA im Strudel des demokratischen Umbruchs zwischen Mauerfall und Volkskammerwahl. Dieser Zeitraum war von einer bis dahin ungekannten Intensität des politischen Protestes in den Streitkräften bei gleichzeitiger Paralyse und Zerfall der Überwachungs- und Repressionsorgane gekennzeichnet. Ergänzt werden die Sachkapitel durch einen Anhang mit 40 Dokumenten und 10 Faksimiles, die exemplarisch aus unterschiedlichen Akteursperspektiven Widerstand und non-konformes Verhalten sowie die Praxen von Verfolgung und Repression in den Streitkräften aufzeigen.

Bereits in der Einführung verweist Rüdiger Wenzke auf zwei, den Band durchziehende Probleme, für welche die Autoren jeweils pragmatische, aber im Endeffekt nicht voll befriedigende Lösungen gefunden haben. Das betrifft zuerst das sehr breite Verständnis des vielfältigen Phänomens „Widerstand“, bei dem auf „jede selbstgewählte normative Einengung sowie eine ausgefeilte begriffliche Typologisierung“ (S. 7) bewusst verzichtet wurde, um die Erforschung widerständigen, nicht normgerechten sowie politisch abweichenden Verhaltens auf möglichst breiter Grundlage zu ermöglichen. Auf die Liste politisch widerständigen und non-konformistischen Verhaltens (S. 9) gelangen auf diese Weise auch Verstöße gegen die militärische Disziplin und Ordnung im Rahmen der EK-Bewegung, so genanntes „Kapitulantentum“ bei Berufssoldaten, die zumeist aus persönlichen Gründen vor Ablauf ihrer Verpflichtung den Militärdienst verlassen wollten, sowie die Äußerung von Zweifeln am offiziellen Kriegsbild der NVA oder an der SED-Politik. Problematisch erweist sich dabei zum einen der Umstand, dass diese Verhaltensmuster zum Teil nur von den Partei- und Staatsorganen als staatsfeindlich gewertet wurden, ohne es intentional zu sein. Weit gravierender stellt sich zum anderen das Problem der Abgrenzung der „politischen Fälle“ von den „normalen“ Disziplinverstößen dar. „Denn nicht jeder, der in der NVA als Klassen-, Staats- oder Parteifeind abgestempelt wurde, war auch in Wirklichkeit ein solcher“, stellt Rüdiger Wenzke heraus (S. 11).

Das zweite nicht nur in der Historiografie zur DDR immer wieder auftauchende Problem ist das Problem der Quantifizierung historischer Phänomene, in diesem Fall der unterschiedlichen Formen widerständigen bzw. politisch abweichenden Verhaltens und des Ausmaßes spezifischer Repressionsformen. Unterschiedliche Referenzen für die statistische Erfassung in verschiedenen Bereichen und deren Wandel in vier Jahrzehnten sowie die differierende Intensität politischer Repression in den einzelnen Entwicklungsphasen des SED-Regimes stellten die Autoren vor die komplizierte Aufgabe, das oft nur in Bruchstücken für Teilbereiche oder einzelne Jahre verfügbare Datenmaterial durch systematischen Vergleich mit Parallelüberlieferungen in aussagekräftigen Übersichten zusammenzustellen. Die Ergebnisse stellen sich dabei von Fall zu Fall sehr unterschiedlich dar. Überzeugt die Datenzusammenstellung zum Desertionsgeschehen in KVP und NVA, so stellt sich die Übersicht zu den SED-Parteistrafen (S. 248) als wenig aussagekräftig dar, da die Zahl der Parteistrafen nicht mit der Zahl der SED-Mitglieder in den Streitkräften in Beziehung gesetzt wird.

Demgegenüber geben die in großer Zahl präsentierten und von einer akribischen Recherche zeugenden Einzelbeispiele äußerst plastische Einblicke sowohl in die Bandbreite von politisch abweichendem Verhalten als auch in die Mechanismen des Überwachungs-, Kontroll- und Disziplinierungsapparates in den Streitkräften. Dabei wird vor allem für die 1950er und 1960er-Jahre die Tendenz zu unverhältnismäßig harter Bestrafung geringfügiger Vergehen deutlich. Der Wurf eines Messers auf ein Stalin-Porträt konnte dabei Anfang der 1950er-Jahre noch mit 25 Jahren Lagerhaft geahndet werden (S. 51). In anderen Fällen stellen sich die Urteilsbegründungen – aus heutiger Sicht – zum Teil als regelrecht lächerlich dar. So wurde Anfang der 1960er-Jahre der Flieger J., der sich in Briefen an Westverwandte und den RIAS negativ über den Mauerbau geäußert und unter anderem seinem Onkel geschrieben hatte, „dass die Politoffiziere in der NVA nicht einmal die 8. Klasse geschafft hätten“, wegen „Hetze“ und bezüglich seiner Äußerung über den Bildungsgrad der Politoffiziere wegen „Verletzung des Dienstgeheimnisses“ von einem Militärgericht zu drei Jahren Haft verurteilt (S. 186).

Dies tat der Wirksamkeit des Repressionsapparates jedoch keinen Abbruch. Wer als erklärter Systemgegner, politischer Abweichler oder „Kapitulant“ in dessen Mühlen geriet, musste mit rigider, nachhaltiger und wie im Falle der „Kapitulanten“ auch mit mehrfacher Bestrafung rechnen. Es gehört daher zu den großen Verdiensten des vorliegenden Buches, die Funktionsweise des Repressionsapparates ebenso wie die Praxen von Widerstand und Verweigerung in den DDR-Streitkräften detailliert und ausgesprochen plastisch dargestellt zu haben.

Die Autoren haben damit nicht nur einen weiteren Beitrag zur Erforschung der Militärgeschichte der DDR sondern insbesondere auch einen bedeutenden Beitrag zur Geschichte von Widerstand und Opposition in der DDR geleistet.

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