Titel
Der Umbau Alt-Berlins zum modernen Stadtzentrum. Planungs-, Bau- und Besitzgeschichte des historischen Berliner Stadtkerns im 19. und 20. Jahrhundert


Autor(en)
Goebel, Benedikt
Reihe
Schriftenreihe des Landesarchivs Berlin 6
Erschienen
Anzahl Seiten
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Klose, Kulturwissenschaftliches Seminar, Hmboldt-Universität zu Berlin

Berlin ist eine Stadt ohne Rückgrat und Charakter. So ein gängiger Vorwurf gegen die deutsche Hauptstadt, die so oft und so radikal in den letzten 150 Jahren ihr Gesicht gewechselt hat. Während andere Städte sich über die Jahrhunderte entwickelten, wurde diese Stadt geplant und verstand das Konzept der Dichte immer nur topologisch oder soziologisch, aber niemals historisch.

„Die Deutschen träumen nicht von einer anderen Zukunft, sondern von einer anderen Vergangenheit,“ schreibt der Berliner Architekt und Architekturkritiker Philipp Ostwald. Als die neue Reichshauptstadt nach 1871 mit ungeheurer Dynamik an Einwohnern und Fläche gewann, wurden nicht nur die großen Gründerzeitquartiere angelegt, sondern auch das in den Jahrzehnten zuvor gerade erst entstandene klassizistische Zentrum der vormaligen preußischen Residenzstadt systematisch zerstört und neu bebaut. Dieser Vorgang wiederholte sich seitdem mit jedem neuen Regime. Die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs taten ihr übriges, so dass sich das eigentlich bis ins Mittelalter zurückgehende Berlin heute als wahrhaft moderne Stadt präsentiert: In seinem historischen Zentrum findet sich kaum ein Gebäude, das älter als 150 Jahre ist. Die wenigen Übriggebliebenen stehen isoliert wie St. Marien, Berlins älteste Kirche auf der namenlosen Freifläche vor dem Fernsehturm, zwischen Plattenbauten und vielspurigen Hauptverkehrsstraßen.

Immer noch sichtbare Kriegsschäden zu beheben, sowie die Sünden moderner, autogerechter Nachkriegsstadtplanung in Ost wie West wiedergutzumachen, ist das viel diskutierte „Planwerk Innenstadt“ des Berliner Senats von 1999 angetreten. Die historische Mitte Berlins soll durch städtebauliche Verdichtung „reurbanisiert“ und „revitalisiert“ werden, konkret: durch die Bebauung von ca. 170 ha Freifläche mit Hochhäusern und durch Maßnahmen zur Eindämmung des Straßenverkehrs. Jetzt ist aus der Schule des einflussreichen Berliner Territorialgeschichtsprofessors Laurenz Demps eine Studie erschienen, die grundsätzliche Einwände gegen diesen Ansatz erhebt: Nicht im Wie der Planungen sei das städtebauliche Dilemma Berlins zu lokalisieren, sondern in der ungebrochen autoritären Struktur obrigkeitlich verordneten Städtebaus. Ihr Autor, der Historiker Benedikt Goebel, hält den heutigen stadtstaatlichen Planern Berlins vor, ihre Haltung unterscheide sich strukturell nicht von den gigantomanen, Geschichte nivellierenden Planungen der Vor- und Nachkriegszeit: „Nach wie vor beschränken sie sich nicht darauf, den privaten Bauherren einen städtebaulichen Rahmen vorzugeben, sondern betätigen sich als städtebauliche Demiurgen.“ So werde jede Architektur, jede städtebauliche Veränderung in Berlin letztlich zwangsläufig immer Ausdruck staatlicher Ideologie. Goebels Buch, das viel aufregender ist, als sein sehr sachlicher Titel „Der Umbau Alt-Berlins zum modernen Stadtzentrum. Planungs-, Bau- und Besitzgeschichte des historischen Berliner Stadtkerns im 19. und 20. Jahrhundert“ verrät, hat das Potenzial, zum Standardwerk der Stadtgeschichte zu werden. Mit einer bisher noch nicht da gewesenen Gründlichkeit untersucht es die städtebauliche Entwicklung Berlins. Dabei beschränkt es sich bewusst auf das historische Alt-Berlin, also die heutige Innenstadt-Ost zwischen Spree und Stadtbahnbogen, um entlang der einzelnen historischen Bauprojekte Grundstück für Grundstück die Geschichte der Eigentumsverhältnisse von Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute untersuchen zu können. Begleitet werden die Ergebnisse seiner umfangreichen Archivrecherchen durch eine Fülle höchst instruktiver historischer Fotografien und Pläne, ein großer Teil davon vom Autor selber aufgespürt und bis jetzt unveröffentlicht. Während andere Untersuchungen bisher den Beginn der selbst zerstörerischen Baupolitik Berlins in das Deutsche Kaiserreich legten, kommt Goebel zu dem Schluss, dass die strukturellen Voraussetzungen für die radikalen Stadtumbauten schon vorher durch den Beginn systematischer Deprivatisierungen von Grundstücken geschaffen wurden. „Der deutsche Städtebau des 19. Jahrhunderts ist das Vorzeigeexemplar für den Erfolg öffentlicher Eingriffsverwaltung,“ wie er lakonisch schreibt. Und diese deutsche Erfolgsgeschichte par excellence hat ihren Anfang bereits in der preußischen Residenzstadt genommen.

Ungehinderter Verkehrsfluss

„Verschönerungsabsichten haben uns auf diesem ganzen Wege nicht geleitet.“ Mit diesen bezeichnenden Worten sicherte sich 1867 eine der ersten Publikationen von Vorschlägen zur radikalen Umgestaltung Alt-Berlins gegenüber der Leserschaft ab: „Über die Anlage einer der Königstraße parallel führenden Straße“ von „C.J.“, in: Dritte Beilage zur Königlich privilegierten Berlinischen Zeitung Nr.66 vom 19. März 1867. Der Autor befürchtete offensichtlich, die Öffentlichkeit könnte glauben, ihm liege stadträumliche Schönheit oder die Pflege historischen Erbes mehr am Herzen als ein ungehinderter Verkehrsfluss. Seine Entwürfe sahen den Abriss ganzer Häuserblocks und diverser Bauwerke von historischer Bedeutung vor, um Platz für neue Straßen zu schaffen. Knapp zehn Jahre später begann mit dem Bau der Kaiser-Wilhelm-Straße - der heutigen Karl-Liebknecht-Straße - die Verwirklichung dieses ersten Projektes moderner Verkehrsplanung in der damals noch existierenden Altstadt von Berlin. Wie ein Berliner Architekturführer aus dem Jahr 1896 stolz konstatiert, gebührt der nach dem ersten deutschen Kaiser benannten Straße der Ruhm, „zuerst Bresche in das Wirrsal der eng und unregelmäßig bebauten Grundstücke Alt-Berlins gelegt zu haben“. Ein Großteil der heutigen Autostraßenschneisen durch Alt-Berlin, auch die brachialsten, wie etwa die sechsspurige Grunerstraße, gehen auf Entwürfe aus den Jahren noch vor Gründung des Deutschen Kaiserreichs zurück. Denn ein „ungehinderter Verkehrsfluss“ war in jener Zeit gerade zu einem der wichtigsten Topoi der von organischen Metaphern durchsetzten modernen Sicht auf die Stadt aufgestiegen. So veröffentlichte 1868 ein Mitarbeiter des Statistischen Amtes der Stadt Berlin einen Katalog von Vorschlägen, wie eine umfassende Anpassung der Innenstadt an die Bedürfnisse des modernen Verkehrs nach dem Vorbild der Pariser Boulevards durch den Abriss ganzer Häuserblocks zu bewerkstelligen sei. Alt-Berlin war in seinen Augen „ein die freie Bewegung hemmendes Geschwür“, das angestochen werden musste, „um Lebensquellen sprudeln zu lassen.“ Der Statistiker mit dem programmatischen Namen Ernst Bruch wurde damit zum geistigen Vater aller modernen Berliner Straßendurchbrüche. Auch wenn die Grunerstraße in ihrem heutigen Verlauf erst in den 1960er Jahren fertig gestellt wurde, müsste sie konsequenterweise seinen Namen tragen.

Den Weg geebnet für das Planen in großen Verkehrsschneisen und Blocks hatte der Bebauungsplan des Berliner Stadtbaumeisters James Hobrecht von 1861. Der Hobrechtsplan, auf den sich die heutige Berliner Stadtbaupolitik als historisches Vorbild bezieht, sah für die neu zu errichtenden Viertel ein regelmäßiges Straßenraster mit vergrößerten Blocks vor, um Geld für den Unterhalt der Straßen zu sparen. Auch wenn Hobrecht selber den „Abbruchs-Fanatismus“ der Stadtoberen und ihren Mangel an stadtbürgerlichem Selbstbewusstsein beklagte, hatte sein moderner stadtplanerischer Ansatz nichtsdestotrotz Rückwirkungen auf die historischen Teile der Stadt. Blockweise wurden seit den 1860er Jahren innerstädtische Grundstücke durch die öffentliche Hand aufgekauft, um für großformatige neue Planungen zur Verfügung zu stehen. Dies begünstigte den Austausch eines Großteils der Wohnhäuser beziehungsweise Wohn- und Geschäftshäuser durch reine Geschäfts- und Verwaltungsgebäude. Im Anhang von Benedikt Goebels Buch befindet sich eine fast hundertseitige Tabelle zur „Topographie Alt-Berlins zwischen 1846 und 1970“ die zeigt, dass zum Ende des Deutschen Kaiserreichs bereits fast ein Drittel der Gebäude deprivatisiert worden waren, während zugleich die Einwohnerzahl von über 32.000 im Jahre 1861 auf knapp 11.000 im Jahre 1910 fiel. Bis kurz nach dem Fall der Mauer steigerte sich der Anteil der Gebäude in öffentlicher Hand auf 96%, seitdem hat sich diese Zahl nur um einige Prozentpunkte wieder verringert. Auch wenn der größte Teil der Deprivatisierungen also unter den beiden Regimes vollzogen wurde, die den Sozialismus auf ihre Fahnen geheftet hatten, wird aus den Zahlen bis 1933 und seit 1990 deutlich, dass dieser Entwicklung eine paternalistische planerische Einstellung der staatlichen bzw. städtischen Autoritäten vorausging, die sich durch alle politischen Systeme zieht und allem Anschein nach bis heute nicht überwunden ist.

Umbaufuror

Dem städtischen Umbaufuror, wie es der Autor Goebel benennt, fielen in den Jahren bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs Gebäude von großem historischem Wert zum Opfer, wie die Gerichtslaube, eines der ältesten damals bekannten städtischen Gebäude Deutschlands und das alte Rathaus. Für die städtischen Planer wie für die betroffene Öffentlichkeit stand bereits im Kaiserreich fast die gesamte Altstadt zur Disposition. Noch gesteigert wurde die verächtliche Haltung gegenüber der alten Bausubstanz in den 1920er und 1930er Jahren. Damalige Entwürfe vermitteln den Eindruck, als ob sie die radikalen Räumungen durch den Krieg geradezu herbeigesehnt hätten. So forderte der Berliner Stadtrat Martin Wagner den Stadtumbau mit der Spitzhacke und prognostizierte, in Zukunft würden die Innenstädte alle 20 Jahre den jeweiligen veränderten Bedürfnissen entsprechend völlig neu aufgebaut werden. Diese Vision machte sich der Bauhaus-Architekt Ludwig Hilbersheimer zu eigen und schlug 1932/33 unter dem Titel „Erneuerung der Berliner Altstadt“ acht riesige H-förmige Hochhäuser vor, die die gesamte vorhandene Bebauung einschließlich der Nicolai- und Marienkirche sowie des Rathauses ersetzten. Gebaut wurde von all den megalomanen Plänen während der Weimarer Republik nur mangels Geld fast nichts. Doch waren sich die Nationalsozialisten in diesem Punkt mit den Städtebauern der anderen politischen Lager einig. Was sie bis zum Krieg nicht schafften, erledigten dann die Bomben der Alliierten und der autoverkehrsgerechte und moderne „Wiederaufbau“ Alt-Berlins in der Nachkriegszeit.

Von solch stadtverachtenden Einstellungen distanzieren sich heutige Stadtplaner selbstverständlich weit. Aus dem Umgang mit dem architektonischen Erbe der DDR erwächst allerdings der Eindruck, dass man heute wieder zu einer Haltung zurückgekehrt zu sein scheint, die Benedikt Goebel als „wilhelminische Schizophrenie“ charakterisiert: „die kenntnisreiche Begeisterung für historische Bauten und die skrupellose Bereitschaft, sie abzureißen.“

Von den zahlreichen in den 1980er und 1990er Jahren erschienenen Publikationen zur Architektur- und Planungsgeschichte Berlins unterscheidet sich Benedikt Goebels Buch dadurch, dass es weder Stilfragen noch (die damit oftmals in engem Zusammenhang stehenden) Ideologien zum Mittelpunkt seiner Untersuchung macht. Indem er den Blickpunkt auf die Geschichte der Besitzverhältnisse und der staatlichen bzw. städtischen Verwaltung von Grund und Bautätigkeiten legt, gelingt es ihm überzeugend Berliner Stadtgeschichte maßgeblich als Ergebnis der Entwicklung moderner Staatstechnik darzustellen, eines strukturellen und bürokratischen Zugriffs, der bis heute - vier Regierungsformen später - nicht aufgehört hat, Grundlage planerischen Handelns zu sein. Als äußerst verdienstvoll müssen zudem insbesondere die Gründlichkeit und der akribische Fleiß hervorgehoben werden, mit denen der Autor die Archive nach Informationen absuchte. So wird dieses Buch sicher noch auf Jahre hinaus als geradezu unerschöpflicher Quell von Hinweisen zu Detailfragen dienen können, die Grundstücke und Straßenzüge Alt-Berlins betreffen.

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