S. Hornblower: Thucydides and Pindar

Cover
Titel
Thucydides and Pindar. Historical narrative and the world of epinikian poetry


Autor(en)
Hornblower, Simon
Erschienen
Anzahl Seiten
XV, 454 S.
Preis
£60.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Timo Stickler, Historisches Seminar, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Simon Hornblower ist zweifellos auf dem Gebiet des klassischen Griechenland einer der bedeutendsten Forscher unserer Zeit. Durch eine Vielzahl von einschlägigen Monografien und Aufsätzen ausgewiesen,1 hat er sich nicht zuletzt durch seinen auf mehrere Bände ausgelegten Thukydides-Kommentar einen Namen gemacht.2 Schon aus diesem Grund gilt es aufmerksam hinzuhören, auch und gerade, weil das neueste Buch Hornblowers zwei auf den ersten Blick schwer vereinbare Themengebiete zu vereinen scheint: "Thucydides and Pindar. Historical Narrative and the World of Epinikian Poetry".

Der Autor verfolgt zwei Ziele, denen auch die Gliederung seines Buches entspricht. In Teil I ("Shared Worlds", S. 3-266) schildert er die Lebenswelt, die Thukydides und Pindar teilten. Er erzählt von dem agonalen Wertekanon, der den Siegesliedern Pindars zugrunde lag, von den Orten, Kulten und gesellschaftlichen Gruppen, mit denen der Dichter mutmaßlich Umgang hatte. Und immer steht bei diesen Erörterungen, die passagenweise für sich in Anspruch nehmen können, eine Einführung in die Literaturgattung Epinikion darzustellen, die Frage im Hintergrund, welche Beziehung sich von hier ausgehend zu Thukydides herstellen lässt. Diese einzelnen und auf den ersten Blick isolierten Bezüge bemüht sich Hornblower im Teil II seines Buches ("Thucydides Pindaricus", S. 269-372) zu systematisieren und durch einen Stilvergleich zu untermauern. Unser Autor befindet sich hierbei in guter Gesellschaft: schon antike Literaturkritiker wie Dionys von Halikarnaß (z.B. comp. 22) haben sowohl Thukydides als auch Pindar als Vertreter des so genannten "strengen Stil" (austera harmonia) betrachtet und auf diese Weise eine Gemeinsamkeit hergestellt, die Hornblower für ebenso zwingend wie wissenschaftlich weiterführend hält. In seiner "Conclusion" (S. 373-375) fasst er die Hauptergebnisse seiner Bemühungen zusammen: Aller Wahrscheinlichkeit nach hat Thukydides Pindars poetisches Werk gekannt und rezipiert. Sowohl hinsichtlich des Personenkreises samt seiner Wertewelt, mit dem beide Autoren Umgang hatten, als auch hinsichtlich der literarischen Mittel, die sie benutzten, gibt es Gemeinsamkeiten. Vielleicht wichtiger noch als das zuvor genannte Ergebnis ist für Hornblower die Erkenntnis, dass die agonale Welt, wie wir sie in Pindars Epinikien kennenlernen, auch für Thukydides von besonderer Bedeutung war, als er Material für seinen "Peloponnesischen Krieg" sammelte: Die Eliten, für die der Poet aus Theben seine Siegeslieder schrieb, waren auch die potentiellen Informanten des Prosa-Autoren aus Athen.

Hornblowers Buch ist stellenweise keine einfache Lektüre, zu vielgestaltig sind die Orte und Menschen, mit denen er den Leser konfrontiert. Immer wieder ergeht er sich in längeren Einzeldarstellungen, an deren Ende der Bezug zum Thema nicht immer eindeutig ist. So entspricht seine Darstellung auf eigentümliche Weise der Polymorphität, heterogenen Darstellungsweise und nicht immer vorhandenen Stringenz, die Hermann Strasburger als Kennzeichen der Darstellungsweise archaischer griechischer Autoren - eben auch Pindars! - herausgearbeitet hat.3 Freilich: Der Index locorum (S. 403-427) und der Generalindex (S. 428-454) am Ende des Werkes ermöglichen dem Leser schnelle Orientierung; die Bibliografie (S. 376-402) schlägt willkommene Schneisen in die überreiche Forschungsliteratur.

Hornblower stützt sich bei seiner Darstellung wiederholt auf eine Reihe von Indizien, die seiner Meinung nach darauf hindeuten, dass Thukydides das agonale Milieu Pindars und seiner Kollegen kannte und ihm verpflichtet war. So verweist er immer wieder auf die Szene, als der spartanische Feldherr Brasidas von den Bewohnern der Stadt Skione "wie ein Athlet" (hosper athlete) gefeiert worden sei (Thuk. 4,121,1; siehe S. 7, 46f., 200, 286, 351 u. 373); vor allem aber die relativ ausführliche Passage, in der Thukydides die Olympischen Spiele des Jahres 420 v.Chr. mit ihrem Aufsehen erregenden Skandal um den Spartaner Lichas, Arkesilas' Sohn, schildert (Thuk. 5,49,1-50,4), erscheint ihm geradezu ein Beweis dafür zu sein, dass Thukydides Pindars Werk gekannt hat und von ihm beeinflusst worden ist (siehe bes. S. 273-286: The Clearest Example of Thucydides Pindaricus).

Aufs Ganze gesehen will ich die Bezüge, wie sie an den soeben genannten Beispielen deutlich werden, gar nicht bestreiten. Gleichwohl war die griechische Welt zur Zeit der Klassik nun einmal eine Welt, in der das agonale Prinzip viel galt; dies allein reichte wohl schon aus, die Reaktion der Skionier auf Brasidas und das Auftauchen der Lichas-Episode in Thukydides' Werk zu motivieren. Einer direkten Auseinandersetzung mit Pindar bedurfte es diesbezüglich vielleicht gar nicht. Hornblower jedoch glaubt daran, und das verführt ihn bisweilen dann doch zu Gedankengängen, die ans Spekulative grenzen; so etwa bezüglich der beim Delion 424 v.Chr. gefallenen Thespier: Nur aufgrund der Tatsache, dass zwei (!) der 101 durch IG VII 1888 überlieferten Gefallenen Sieger bei panhellenischen Wettkämpfen waren, kommt Hornblower zu der Vermutung, Thukydides habe bei seinem Resümee zu den blutigen Ereignissen den thespischen Opfern "a Pindaric salute" (S. 45) nachgerufen, indem er von der "Blüte" (Thuk. 4,133,1: anthos; vgl. Pind. Pyth. 4,158: anthos hebas) sprach, die in der Schlacht gefallen sei. Ob das nicht eine Überinterpretation darstellt?

Auch dann, wenn Hornblower onomastisches bzw. prosopografisches Material heranzieht, um Schnittmengen zwischen Pindar und Thukydides nachzuweisen, geht er bisweilen an die Grenze des noch Hypothetischen: So erfahren wir in Ol. 8,54, Nem. 4,93 und Nem. 6,65 von einem athenischen Ringertrainer namens Melesias, der pikanterweise aiginetische Sportler mehrfach erfolgreich ausgebildet hatte. Darf man von der Tatsache, dass in einschlägigen Passagen zu Thukydides Melesias' Sohn bei Plutarch und anderen Ringervokabular auftaucht, darauf schließen, dass es sich bei unserem Melesias um den Vater des Politikers aus den 440er-Jahren v.Chr. handelt? Möglich ist das gewiss, aber Hornblower ist sich sicher: "He was as we have seen […] the father of the politician with the same name as Thucydides the historian and perhaps related to him" (S. 252; vgl. auch S. 53). Ich für meinen Teil wäre da nicht so zuversichtlich, aber mit zunehmender Vorsicht reduziert sich natürlich das Ausgangsmaterial für Hornblowers These auf wenige, vielleicht zu wenige Anhaltspunkte.

Damit kein falscher Eindruck entsteht: Das Buch "Thucydides and Pindar" ist ein wichtiges und anregendes, in vielem überzeugendes und auch an problematischen Stellen immer gedankenreiches Buch. Mit Recht beklagt Hornblower auf S. V, dass sich die althistorische Zunft in den letzten Jahrzehnten zu wenig um Pindar gekümmert hat. Seine eigene Beschäftigung mit diesem schwierigen Autor zeichnet sich hinsichtlich der Möglichkeiten, die Epinikien historisch zu analysieren, weder durch allzu große Skepsis noch durch übertriebenen Optimismus aus. Auf diese Weise schiebt er einem in jüngster Zeit zu beobachtenden Trend der Forschung den Riegel vor, die durch minutiöse Detailinterpretationen einer jeglichen im Text verborgenen (politischen) Intention Pindars auf die Spur zu kommen können glaubt.4 Man darf hoffen, dass die künftige Forschung den von Hornblower geebneten Pfad weitergeht, denn Pindars Epinikien und Fragmente bieten einen unerschöpflichen Informationsfundus für griechische Städte, die durch die (athenozentrische) Einseitigkeit unserer Überlieferung sonst quellenmäßig unterbelichtet sind; gerade Gedichte wie die an Athleten der Insel Aigina gerichteten erzählen von einer Welt, die viel repräsentativer für das klassische Griechentum gewesen sein muss als das Athen in seiner radikaldemokratischen Phase unter Perikles. Die mangelnde ereignisgeschichtliche Eindeutigkeit Pindars sollte nicht abschreckend wirken, wenn es darum geht, den sozialen Gesetzmäßigkeiten, der Verfasstheit derartiger Polis-Gesellschaften in der "Grèce profonde" auf die Spur zu kommen. Hornblower hat mit seinem Buch, so diskussionswürdig es in vielem ist, dazu ermutigt.

Anmerkungen:
1 Zuletzt ist eine komplette Neubearbeitung seines Buches The Greek World 479-323 BC, London 2002 erschienen.
2 Zwei Bände sind bisher erschienen: Commentary on Thucydides, Bd. 1: Books I-III, Oxford 1991 u. Bd. 2: Books IV-V.24, Oxford 1996.
3 Vgl. Strasburger, Hermann, Herodot und das perikleische Athen, in: Historia 4 (1955), S. 1-25, hier S. 5ff.
4 Vgl. Hornblowers Auseinandersetzung mit Thomas Cole (Pindar's Feasts or the Music of Power, Rom 1992) und Ilja Leonard Pfeijffer (Three Aeginetan Odes of Pindar. A Commentary on Nemean V, Nemean III, & Pythian VIII, Leiden 1999) auf S. 223ff.

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