K. Roth (Hg.): Arbeit im Sozialismus - Arbeit im Postsozialismus

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Titel
Arbeit im Sozialismus - Arbeit im Postsozialismus. Erkundungen zum Arbeitsleben im östlichen Europa


Herausgeber
Roth, Klaus
Reihe
Freiburger sozialanthropologische Studien 1
Erschienen
Münster 2004: LIT Verlag
Anzahl Seiten
433 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Hübner, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Als Forschungsgegenstand der Geistes- und Sozialwissenschaften erfährt Arbeit gegenwärtig eine beachtenswerte Konjunktur. Einen Anlass hierfür bietet die sich in Europa ausbreitende Beschäftigungskrise, deren soziale Dimension längst schon zum politischen Problem geworden ist. Mit der Zahl der Vorschläge, „wie wir morgen arbeiten werden“ – oder auch nicht – wächst die Ratlosigkeit. Diese ist nicht allein und nicht vor allem auf die Höhe der Arbeitslosenquote zurückzuführen, weit mehr beunruhigt die im historischen Vergleich beispiellose Dauer dieser Krise. Die Suche nach Auswegen tendiert gegenwärtig in eine Richtung, die im Wesentlichen auf eine Deregulierung von Arbeitsmärkten hinausläuft. Als Alternative spielt ein sozialistisches Beschäftigungsmodell, wie es zwischen 1945 und 1989 in den Ländern des sowjetischen Blocks praktiziert wurde, keine erkennbare Rolle. Gleichwohl richtet sich das Augenmerk nicht nur der historischen Forschung in jüngster Zeit wieder vermehrt der Geschichte der Arbeit im „Realsozialismus“ zu. Das mag seinen Grund unter anderem darin haben, dass der Gegenstand im erinnernden Rückblick in einem merkwürdigen Zwielicht erscheint: Unter dem Schatten des Scheiterns flackern verklärende Bilder auf.

Wie ambivalent und in welch überraschenden Spiegelungen sich dieses Phänomen darstellen kann, zeigen die 26 Beiträge dieses Bandes. In ihrer Mehrzahl gehen sie auf eine Tagung zurück, bei der im April 2002 an der Universität München Ergebnisse des zum Thema „Wandel und Kontinuität in den Transformationsländern Ost- und Südosteuropas“ eingerichteten Forschungsverbundes FOROST präsentiert wurden. Mit dem Ziel, im Panorama des südost-, ost- und ostmitteleuropäischen Raumes „die Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Entwicklung des ‚realen Sozialismus’ in seiner Konzeption und in seinem Fortwirken aufzuzeigen“ (S. 20), gewann der Herausgeber weitere Autoren, in erster Linie Volkskundler und Ethnologen, aber auch Historiker, Soziologen und Rechtswissenschaftler. Herausgekommen ist ein informativer und anregender Band.

In einem knappen Einführungsbeitrag benennt Roth die marxistische Theorie und die aus ihr abgeleitete Politik als bestimmende Faktoren der Erwerbsarbeit im Staatssozialismus, um die Leitfrage anzuschließen, „in welcher Weise die Formen, Funktionen und Bedingungen der Erwerbsarbeit durch die alltägliche politische, rechtliche, ökonomische und gesellschaftliche Praxis des ‚realen Sozialismus’ geprägt worden sind – und wie dieser Jahrzehnte währende Prozess von den Betroffenen wahrgenommen wurde und wird“ (S. 14f.). Auf der Suche nach einer Antwort wurde ein akzentuiert empirischer Ansatz gewählt, um vor allem mit dem Instrumentarium der ethnologischen und soziologischen Forschung herauszufinden, welchen Einfluss die Arbeit auf das Alltagsleben im sowjetisch dominierten Mittel- und Osteuropa ausübte. Hieran schließt die weitere Frage an, wie das in diesem Kontext erworbene Verhaltensrepertoire im seit Beginn der 1990er-Jahre anhaltenden Transformationsprozess zur Geltung kommt. Der Schwerpunkt liegt allerdings auf der ersten Frage, der die meisten Autoren mit Hilfe lebensgeschichtlicher Interviews und anhand archivalischer Quellen nachgehen.

Im ersten Beitrag verweist Peter Niedermüller (Berlin) auf die konstitutive Funktion der Arbeit in sozialistischen Gesellschaften. Soziale Schichtungen und Identitäten wurden vom Begriff der Arbeit her definiert, wie Arbeit überhaupt die Strukturen des Alltagslebens prägte und den „herrschenden Lebensentwurf im Sozialismus“ (S. 33) bestimmte. Allerdings habe Arbeit im historischen Wandel des Staatssozialismus an Binde- und Prägekraft verloren, was man auch im veränderten Konsumverständnis sozialistischer Gesellschaften erkennen könne. Einem wenig beachteten Aspekt geht Markus Wien (München) am Beispiel Bulgariens nach. Er zeigt, dass in diesem Fall die vorsozialistischen Arbeitsbeziehungen weit in die Periode des Sozialismus hineinwirken konnten. Strukturen einer traditionell agrarischen Gesellschaft, das autokratische Vorkriegsregime und eine auch vor 1945 schon starke Stellung des Staates in der Wirtschaft ließen eine Prädisposition für die späteren Kollektivierungsmaßnahmen der Kommunisten entstehen. Auf ein Paradoxon weist Magdalena Paríková (Bratislava) hin, indem sie auf den im Gegensatz zur gesellschaftlichen Würdigung der Arbeit stehenden Arbeitszwang aufmerksam macht. Am slowakischen Beispiel verdeutlicht sie, wie Arbeit als Strafe oder auch als Mittel zur zwangsweisen Umerziehung von Personen bürgerlicher Herkunft Anwendung fand. An die politischen Erziehungsversuche durch körperliche Arbeit erinnert Radost Ivanova (Sofia) aufgrund eigener Erfahrungen aus ihrer Studienzeit in Bulgarien. Dabei deutet sie an, wie der Einsatz von Studentenbrigaden auf „Großbaustellen des Sozialismus“ durchaus auch Ansätze für eine nostalgische Erinnerung bot.

Unterschiedliche Beispiele der Arbeit in landwirtschaftlichen Genossenschaften beleuchten Doroteja Dobreva (Sofia) und Gabriele Wolf (München) sowie Indrek Jääts (Tartu). Erstere stellen anhand von Interviews den Fall einer der Landwirtschaftsgenossenschaft in einem bulgarischen Gebirgsdorf vor. Hier breitete sich unter den gegebenen Bedingungen eine Atmosphäre der Gleichgültigkeit aus. Im anderen Fall geht es um eine Kolchose im bis 1990 zur Sowjetunion gehörenden Estland, die sich in der Transformationsperiode zu einem leistungsstarken Agrarunternehmen entwickelte. Bemerkenswert war hierbei, dass alle involvierten Generationen in mehr oder minder begrenztem Rahmen die Praxis einer individuellen Hofwirtschaft kennen gelernt hatten.

Dem Arbeitsplatz als Sozialisationsrahmen oder als sozialem Raum und den darin entstehenden sozialen Netzwerken sind die folgenden Beiträge gewidmet. So berichtet Milena Benovska (Sofia) vom Entstehen solcher Netzwerke und der Herausbildung von Klientelbeziehungen in bulgarischen Betrieben. Ähnlichen Erscheinungen geht Kirsti Jõesalu (Tartu) am Beispiel von Behördenangestellten in der Estnischen SSR nach. Petăr Petrov (Sofia) beleuchtet die Differenz zwischen der ideologischen Intention sozialistischer Arbeitsfeiern und deren eher konsumorientierten Wahrnehmung im Betrieb. Auf eine ähnliche Ambivalenz macht Vjačeslav Popkov (Kaluga) im Hinblick auf die für sowjetische Betriebe charakteristischen Arbeitsbeziehungen aufmerksam, wobei er besonders auf unterschiedliche Wahrnehmungen der zumindest nach offizieller Lesart freiwilligen Arbeitseinsätze („Subbotnik“) eingeht. Ein Beitrag von Larissa Lissjutkina (Frechen) ergänzt diese Sicht um den Aspekt der weiblichen Erwerbsarbeit in der UdSSR, indem sie deren traditionale Elemente hervorhebt.

Das am eigenen Interesse orientierte Verhalten der Arbeiter in Produktionskampagnen in der Tschechoslowakei der 1950er-Jahre ist Gegenstand einer quellengesättigten Studie von Peter Heumos (München). Das Entstehen eines Klientelmilieus in der Arbeiterschaft verdeutlicht Petr Lozoviuk (Prag) am Beispiel des Metallurgie-Kombinates „Žd’as“ in der Tschechoslowakei, und Monika Golonka-Czajkowska (Kraków) veranschaulicht es anhand der Lenin-Stahlwerke von Nowa Huta in Polen. In diesen Beiträgen wie auch in dem von Predrag Marković (Belgrad) über die Arbeit im Jugoslawien Titos wird besonders deutlich, wie stark die individuellen Erinnerungen differieren können.

Wie die Konsequenzen des auf körperliche Arbeit fixierten sozialistischen Arbeitsparadigmas für die „Intelligenz“ aussahen, zeigen L’ubica Herzánová (Bratislava) exemplarisch anhand des Verlages „Smena“ und Ene Köresaar (Tartu) am Berufsverständnis estnischer Lehrer. Joanna Bar (Kraków) geht dem Problem am Beispiel der Krakauer „technischen Intelligenz“ zur Zeit der Volksrepublik Polen nach. Einen Sonderfall behandelt Leszek Dzięngiel (Kraków) in seinem Beitrag über die Arbeit polnischer Experten auf arabischen Ölfeldern. Anhand von Befragungen verdeutlicht Marketa Spiritova (München) die Überlebensstrategien der von „Säuberungen“ erfassten Intellektuellen in der Tschechoslowakei nach 1968.

Die folgenden Beiträge wenden sich der Transformationsperiode zu. So thematisiert Stefanie Solotych (München) die arbeitsrechtliche Situation im postsowjetischen Russland. Alexander Tschepurenko und Tatjana Obydënnonova (beide Moskau) stellen eine Untersuchung über die Arbeitsverhältnisse in russischen Kleinunternehmen vor. Christian Giordano (Fribourg) und Dobrinka Kostova (Sofia) gehen der Verwandlung von „local nomenclaturists“ zu privaten Unternehmern in Bugarien nach, wobei sie besonders auf die Elemente der Kontinuität in der Transformation aufmerksam machen. Ähnliches verdeutlicht Tanja Čadarova (Sofia) mit einer komparativen Studie zu Kleinunternehmern in Sofia und Skopje. Schließlich beschreibt Ivanka Petrova (Sofia) die Anpassung bulgarischer Beschäftigter an neue Arbeitsanforderungen in einem international operierenden Direktvertriebsunternehmen.

All das liest man mit Gewinn. Das Buch trägt nicht zuletzt durch seinen interdisziplinären Anspruch dazu bei, die Situation der Erwerbsbevölkerung im östlichen Europa vor und während der Systemtransformation besser zu verstehen.

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