Der deutsche Vernichtungs- und Dezimierungskrieg gegen die Herero und Nama und die kolonial-rassistische Unterdrückungspraxis in Deutsch-Südwestafrika sind mittlerweile gut erforscht.1 Außer der vielfach widerlegten 2 geschichtsrevisionistischen Literatur bestreitet auch niemand mehr die wesentlichen Fakten. Die Auswirkungen auf die namibische Gesellschaft sind untersucht 3, ihre Bedeutung für die deutsche Geschichte werden noch immer kontrovers diskutiert 4 – und der Einschnitt, den die mediale Verarbeitung der Aufstände für die Bilder von ‘Schwarzen’ in der deutschen Öffentlichkeit bedeutete, wird ebenfalls zunehmend thematisiert.5 Auch die deutsche Kolonialliteratur als Transporteur rassistischer und kolonialistischer Klischees ist mittlerweile gut analysiert.6 Und durch den 100. Jahrestag und die Debatte um die Entschädigungsforderungen kann auch nicht mehr behauptet werden, der deutsche Kolonialismus spiele im öffentlichen Bewusstsein „kaum eine Rolle“.7 Ein abgeerntetes Feld also, auf dem sich bis zum nächsten runden Jahrestag nichts Nahrhaftes mehr finden lässt?
Jörg Wassinks im Jahr 2000 vorgelegte, vor kurzem veröffentlichte Magisterarbeit zeigt – zumindest in ihren stärkeren Teilen –, dass dem nicht so ist. Wassink hat seine Arbeit in drei Teile gegliedert: der Darstellung des historischen Bezugsrahmens (Koloniale Aufteilung der Welt, deutscher Kolonialismus, Kolonialherrschaft in Südwestafrika, Entstehung und Wirkungsweise von rassistischen Ideologien), der eigentlichen Analyse von Kolonialliteratur (Reflektion über historischen Ort und Wirkungsweise, exemplarische Analyse von „Peter Moor“, „Okowie“, „Bis in das Sandfeld hinein“ und einigen Theaterstücken und Gedichten) und einem dritten Teil, der den Krieg in die vergleichende Genozidforschung einordnen will.
Um das Urteil vorwegzunehmen: Trotz unbestreitbarer Stärken ist das Konzept der Studie nicht immer überzeugend; ein brillante Magisterarbeit ist noch kein gutes Fachbuch.
Das Vorgehen von Wassink, zunächst die historische Realität zu rekonstruieren, um sie dann ihrer medialen Verarbeitung entgegenzustellen, ist überzeugend. Wie sonst ließe sich das Auseinanderklaffen zwischen der relativ besonnenen Kriegsführung der Herero und Nama und ihrer öffentlichen Verteufelung als blutdürstige Bestien diskutieren und in einen sinnvollen Zusammenhang mit der real eliminatorischen, im Selbstbild aber humanitären deutschen Kriegsführung in DSWA bringen? Der erste Teil bewegt sich, trotz einiger Vereinfachungen, durchgängig auf dem Stand der Wissenschaft, wenn er auch etwas an der Forschungsliteratur „klebt“ und zu wenig herausarbeitet, wofür die gelieferten Informationen wichtig sind. Dass viele Informationen im zweiten Teil wichtig werden, spricht für das strukturierte Vorgehen des Autors. Allerdings wären eine straffere Argumentationsführung und deutliche Kürzungen, insbesondere bei den Zitaten, anzuraten: Man muss nicht bei Christoph Kolumbus anfangen, um über deutschen Kolonialismus zu schreiben. Insgesamt jedoch eine – wiewohl im unwichtigen Detail manchmal fehlerhaft (S.38 über Belgien; S.46 über Bismarcks Motive 1884) und sprachlich hin und wieder ungelenk – brauchbare erste Einführung, die im Jahr 2000 sicherlich beeindruckender gewirkt hätte.
Der zweite Teil umfasst die gelungensten Abschnitte des Buches. Hier ist Wassink gleichsam in seinem Element. Er zeigt, wie zwei der populärsten und wirkungsmächtigsten „Faction“-Bücher über den Krieg in Südwestafrika, „Peter Moors Fahrt nach Südwestafrika“ und „Bis in das Sandfeld hinein“, teilweise fast wortwörtlich aus dem Bericht des Großen Generalstabs kopiert, teilweise auch paraphrasiert wurden. Die Autoren Gustav Frenssen und Adda von Liliencron waren nie in Südwestafrika gewesen, sondern verließen sich auf Erlebnisberichte und offizielle Darstellungen, die zu ihrem Zweck, der „literarischen Mobilmachung“, passten. Der Gleichklang von Unterhaltungsliteratur und offizieller Propaganda braucht also niemanden mehr zu verwundern. Wassink geht ins Detail, er weist die völkische Ideologie noch in den Naturbeschreibungen nach und vermag auch in den wenigen positiven Beschreibungen von ‘Eingeborenen’ die rassistischen Vorstellungen über ‘Schwarze’ zu identifizieren. Mit feinem Gespür für das komplexe Zusammenspiel von Geschlecht, ‘Rasse’ und kolonialer Herrschaft gelingen ihm streckenweise überzeugende Analysen. Auch dieser Teil könnte leichte Kürzungen vertragen – insgesamt jedoch eine beachtliche und genaue Forschungsarbeit, die nicht nur für LiteraturwissenschaftlerInnen interessant ist.
Glücklicherweise macht der Autor seine Drohung, im dritten Teil einen Beitrag zur vergleichenden Genozidforschung leisten zu wollen, nicht wahr. Wassink beschränkt sich darauf, die Kolonialgeschichte Deutschlands als mögliche Vorgeschichte des Nationalsozialismus zu diskutieren. Das kann man machen – aber nicht so. Der nationalsozialistische Antisemitismus verband die Vorstellung der ‘Minderwertigkeit’ der gehassten Gruppe mit der Vorstellung ihrer Allmacht und Allgegenwart (‘jüdische Weltverschwörung’) – und das ist ein bedeutsamer und qualitativer Unterschied zu kolonialem Rassismus, aus dem sich auch die unterschiedliche Qualität der Vernichtungsabsicht erklären lässt. Ein pauschales Bekenntnis zur „Einzigartigkeit“ der Shoah (S. 307) ist kein Freibrief dafür, dies komplett zu ignorieren – und der Hinweis, aus Platzgründen nur die „Analogien“, nicht aber die „Differenzen“ behandeln zu wollen (S. 308), wirkt angesichts des Umfangs der Arbeit wie eine etwas matte Entschuldigung. Diese 19 Seiten, auf denen einige seit Jahrzehnten tobende Debatten resümiert und mit dem Forschungsgegenstand in Zusammenhang gebracht werden sollen, hätten getrost weggelassen werden können. Dies gilt jedoch nicht für die Anhänge, die wertvolle Zusatzinformationen und eine der besten Bibliografien zum Thema enthalten.
Wassink verhehlt nicht, dass er einen klaren Standpunkt hat (S. 20). Das wird auch in manchen nicht gerade zurückhaltenden Bewertungen deutlich, die inhaltlich berechtigt sind, aber manchmal über das Ziel hinausschießen (S. 102, Anm. 2). Sicherlich sind seitenlange Methoden- und Begriffsdiskussionen selten ein Lesevergnügen. Aber wer, wie Wassink, an einem so kontrovers diskutierten Begriff wie dem der Ideologie festhält – was der Rezensent übrigens für völlig richtig hält – muss, notfalls in einer Fußnote, erläutern, was er darunter versteht.
Die äußere Form des Buchs ist gefällig, die verwendete Kombination von preußischer und amerikanischer Zitierweise allerdings äußerst unpfiffig und vereint die Nachteile beider. Auch der inflationäre Gebrauch von kursiven und fetten Hervorhebungen, deren Einsatz keiner nachvollziehbaren Regel zu folgen scheint, trägt nicht zur Lesbarkeit bei.
Insgesamt handelt es sich trotz der genannten Monita um einen wichtigen Beitrag zur Analyse der „literarischen Mobilmachung“ im Kaiserreich.
Anmerkungen
1 Neben den Standardwerken: Drechsler, Horst, Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft, Berlin (DDR)1966; Bley, Helmut, Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in Deutsch-Südwestafrika 1894-1914, Hamburg 1968; Bridgman, Jon, The Revolt of the Hereros, Berkeley 1981; sind hier vor allem zu nennen: Zimmerer, Jürgen, Deutsche Herrschaft über Afrikaner, Hamburg 2002; Ders., Zeller, Joachim (Hgg.), Völkermord in Deutsch-Südwestafrika, Berlin 2003.
2 Einen hervorragenden Überblick und eine knappe Widerlegung auf dem Stand der neuesten Forschung gibt: Böhlke-Itzen, Janntje, Kolonialschuld und Entschädigung, Frankfurt am Main 2004.
3 Trotz einiger Schwächen im Detail: Krüger, Gesine, Kriegsbewältigung und Geschichtsbewußtsein, Göttingen 1999; sowie verschiedene Arbeiten von Henning Melber.
4 Als Antipoden seien genannt: Kundrus, Birthe, 'Von Windhoek nach Nürnberg', in: Kundrus, Birthe (Hg.), Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus, Frankfurt am Main 2003; Zimmerer, Jürgen, Die Geburt des ‘Ostlandes’ aus dem Geiste des Kolonialismus, in: Sozial.Geschichte 19(2004)1, S. 10-43.
5; El-Tayeb, Fatima, Schwarze Deutsche, Frankfurt am Main 2001; Schubert, Michael, Der schwarze Fremde, Stuttgart 2003.
6 Z.B. Benninghoff-Lühl, Sibylle, Deutsche Kolonialromane 1884-1914 in ihrem Entstehungs- und Wirkungszusammenhang, Bremen 1983; Sadji, Amadou Booker, Das Bild des Negro-Afrikaners in der deutschen Kolonialliteratur 1884-1945, Berlin 1985; Djomo, Esaïe, „Des Deutschen Feld, es ist die Welt“, St. Ingbert 1992; Bräunlein, Peter G., Von Peter Moor zu Kariuki, in: Arndt, Susan (Hg.), AfrikaBilder, Münster 2001; Schneider, Rosa B., „Um Scholle und Leben“, Frankfurt am Main 2003. Wassink nennt noch weitere Titel.
7 S. 18. Im Jahr 2000, als Wassink seine Magisterarbeit vorgelegt hat, war dies aber fraglos noch zutreffend.