Titel
Irresistible Empire. America's Advance Through Twentieth-Century Europe,


Autor(en)
de Grazia, Victoria
Erschienen
Cambridge 2005: Belknap Press
Anzahl Seiten
586 S.
Preis
$ 29.95
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Kaspar Maase, Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Am 10. Juli 1916 skizzierte US-Präsident Woodrow Wilson in einer Rede sein Programm zur „friedlichen Eroberung der Welt“ durch Handel und Unternehmung; es gipfelte in der Aufforderung: „ ... geht hinaus und verkauft Güter, die die Welt angenehmer und glücklicher machen, und bekehrt sie zu den Grundsätzen Amerikas.“ Mit dieser Episode beginnt die New Yorker Historikerin Victoria de Grazia ihre große Studie zu einer zentralen Frage des „amerikanischen Jahrhunderts“: Wie war es möglich, dass die Konsumkultur zum Einfallstor des amerikanischen „Market Empire“ in Europa wurde? Welche „Grundsätze Amerikas“ wurden mit US-Waren, Verkaufstechniken und Käuferidealen verbreitet? Was machte sie überlegen, und was waren die politischen Folgen? Obwohl am Anfang das Sendungsbewusstsein von Unternehmen und Politik der Vereinigten Staaten steht, erzählt das Buch keine Geschichte von Amerikanisierung als Verschwörung und Überwältigung. Vielfalt und Intensität der expansiven Aktivitäten von US-Bürgern und -Institutionen in Europa werden zwar anschaulich dargestellt; doch den roten Faden bildet die These, dass über die Hegemonie der amerikanischen Konsumkultur in Europa entschieden wurde: Im jahrzehntelangen Ringen zwischen dem überkommenen bürgerlichen Konsumregime und der egalitären Idee des universellen Anspruchs auf Wohlstand durch Massenkonsum.

Mit Gramsci interpretiert de Grazia die Durchsetzung amerikanischer Konsumkultur als „passive Revolution“. Das alte Regime einer nach Stand und Geschmack hierarchisch zwischen Luxusgeschäften für die Oberschicht und kleinen Läden für den bescheidenen Alltagsbedarf der Massen geordneten Landschaft von Handel und Verbrauch war gegen die binneneuropäische Dynamik kapitalistischer Modernisierung nicht zu halten. Doch die Umwälzung erfolgte unter dem wachsenden Druck äußerer – amerikanischer – Akteure und der Anziehungskraft ihrer Rezepte für die Masse der Europäer. Der eigentliche Durchbruch vollzog sich nach 1945 unter den Auspizien des Kalten Krieges, der Westeuropa in der Anlehnung an die USA vereinte. Die hegemoniale Auswirkung sieht de Grazia vor allem in zwei Dimensionen. Die Vereinigten Staaten errangen Ansehen und Vorbildstatus als erster Staat der Welt, der die Teilhabe breiter Bevölkerungsschichten am gesellschaftlichen Warenreichtum realisierte (eingeschränkt einzig durch den Umfang der Kaufkraft). Zugleich wurde im Alltagshandeln und -wissen ein marktliberales Freiheitsverständnis implementiert; danach ist das gute Leben, auf das alle entsprechend ihrer Leistung Anspruch haben, einzig an den Wahlfreiheiten der Bürger und ihrem in Waren auszudrückenden Lebensstandard zu messen. Kollektiv zu schaffende Qualitäten einer solidarischen Gesellschaft – Chancengleichheit, soziale Sicherheit, kulturelle Partizipation etwa – sind nach diesem Verständnis systemfremd und freiheitsfeindlich.

Was hier zur theoretischen Essenz komprimiert wurde, entwickelt das Buch differenziert anhand unterschiedlicher Felder mit differenten Akteuren, Interessenlagen und Konfliktverläufen. Dabei hält de Grazia meisterhaft die Balance zwischen der strukturgeschichtlichen Sicht, wonach die Interessengemeinschaft von zu Konsumenten werdenden europäischen Unterschichten und amerikanischen Protagonisten des Massenkonsummodells nicht aufzuhalten war, und den politischen wie (alltags)kulturellen Besonderheiten jedes einzelnen Falles. Nie waren die amerikanischen Varianten alternativlos, nie wurden sie in Reinform übernommen. Stets mischten sie sich mit europäischen Traditionen; das wird allerdings leider nicht systematisch beleuchtet.

Exemplarisch entfaltet de Grazia an der Durchsetzung des Supermarkts in Italien die Ambivalenzen einer Entwicklung, in der jeder Gewinn der Konsumenten (an Bequemlichkeit, Genuss, Zeit, Gütern, Anerkennung) seinen Preis hatte: Verlust von Arbeitsplätzen und nachbarschaftlichem Kommunikationszusammenhang im Netz der kleinen Läden, die Kredit und individuelle Preise boten; die Verführungskraft der modernen Wareninszenierung resultierte immer wieder in unvernünftigen Entscheidungen, und gegenüber der Fülle konkurrierender Produkte mit gleichem Gebrauchswert wurde der Anspruch auf Warenkenntnis und kompetentes Kaufen obsolet – es blieb nur die Wahl des niedrigsten Preises oder des attraktivsten Warenkörpers; der Supermarkt förderte die rationalisierende Beschleunigung der Lebensführung, und nicht zuletzt trug die Fokussierung individuellen Konsums dazu bei, die Arbeiterbewegung umzuformen zur Lohnerhöhungsmaschinerie.

Im einzelnen schildert de Grazia zunächst den Versuch der Rotarier-Bewegung, die Service-Ethik amerikanischer Unternehmer zu verbreiten, danach die Bemühungen, das fordistische Verständnis von Lebensstandard – ein angemessenes Einkommen, ausgegeben für Waren, die ein angenehmes Leben ermöglichen – als Norm für Europa zu etablieren. Die Ladenkette mit Niedrigpreisen war eine weitere Innovation aus den USA, die nur schwer im Europa der Zwischenkriegszeit Fuß fasste. Die Etablierung von Marken wie Singer, Kodak, Gillette nötigte die europäische Industrie zur Anpassung an das Erfolgsrezept. Gleichermaßen war die auf dem alten Kontinent gepflegte Praxis der Werbung als Kunst ohne Chance gegen das amerikanische „wissenschaftlich begründete“ Marketing mit seinem „kapitalistischen Populismus“. Vergleichsweise wenig zum Thema Konsumkultur bringt das Kapitel zur Expansion der US-Filmindustrie.

Nach 1945 konkurrierte die europäische Vision des „social citizen“, der vom Staat die Sicherung von Lebensverhältnissen und die Einschränkung von Ungleichheit erwartete, mit dem amerikanischen Konzept des souveränen Konsumenten. Der individuelle Lebensstandard nach US-Lesart rückte mehr und mehr in den Vordergrund, doch innerhalb eines europäischen Werterahmens und einer zunächst expandierenden Sozialstaatlichkeit. Seit den 1960er-Jahren hat die Selbstbedienung nach amerikanischem Vorbild eine einzigartige Erfolgsgeschichte erlebt; heute kaufen 80% der 520 Millionen Europäer/innen in Supermärkten, verglichen mit 85% der US-Bürger/innen. Diese und andere Veränderungen setzten sich durch, weil Frauen als kompetente Konsumentinnen angesprochen wurden. Während europäische Rationalisierungsexperten der Zwischenkriegszeit die Hausfrau nur als zu effektivierende Arbeitskraft sahen, wurde in den USA bereits damals das Ideal der perfekten Haushalts-Managerin propagiert; es hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg bei uns durchgesetzt – nicht zuletzt, weil es mehr Entfaltung und Anerkennung versprach.

Es ist insbesondere die systematische Einbeziehung solcher Akteursperspektiven, die de Grazias Darstellung der Hegemonie des Market Empire konzeptionell überzeugend macht. Stets berücksichtigt sie den Gebrauchswert und das lebensverbessernde Potential, das amerikanische Konsummodelle gerade in den Augen ‚einfacher Europäer’ aufwiesen. Die Zwischenbilanz lautet, dass (West-)Europa heute eine Konsumgesellschaft eigener Dynamik sei; sie konkurriere erfolgreich mit den Vereinigten Staaten und stehe mit ihnen zusammen jenen 80% der Weltbevölkerung gegenüber, denen die Gleichsetzung von Freiheit mit Wahlfreiheit auf politischen und Warenmärkten als purer Hohn erscheinen muss. Die Epoche amerikanischer Hegemonie über Europa durch Vorreiterschaft beim Massenkonsum sei beendet.

Aus europäischer Sicht wäre allerdings eine noch differenziertere Behandlung der Hegemoniefrage zu wünschen. De Grazia geht nicht systematisch auf die Modifikationen und Rahmungen ein, die US-Importen Hybridcharakter verleihen; die europäische Konsumgesellschaft hat auch heute noch eine andere Qualität als die amerikanische. Zugleich sind im Streit zwischen ‚neoliberalem’ marktorientiertem Freiheitsverständnis und dem sozialstaatlichen Anspruch auf Sicherung öffentlicher Güter für alle Bürger ganz eindeutig Lösungen im Vormarsch, die den amerikanischen Prinzipien entsprechen. Das mag sich nicht in Zustimmung zur aktuellen US-Politik ummünzen, aber die Angleichung Europas an die Supermacht des Westens schreitet fort.

Doch das sind Marginalien. Man wird Irrtümer (das Dresdener Hygienemuseum vor 1933 als Institution eugenischer Propaganda) korrigieren und über konkrete Einschätzungen debattieren; man wird in einer folgenden Auflage die vielen Fehler bei der Schreibung europäischer Namen beseitigen. Wichtig ist: De Grazias Werk markiert eine neue Qualität der Forschung zu den amerikanisch-europäischen Kulturtransfers im 20. Jahrhundert. Es ragt heraus durch Weite des Blicks und Vielschichtigkeit der Darstellung wie durch Umfang und Aussagekraft der herangezogenen Quellen: neben amerikanischen vor allem deutsche, italienische und französische, die wirklich eine Darstellung in (west)europäischer Dimension ergeben. Literarische Eleganz sowie gut gewählte und kommentierte Abbildungen garantieren Lesevergnügen. Doch vor allem ist „Irresistible Empire“ ein großer Wurf, weil es zwanzig Jahre Amerikanisierungsforschung abschließt. Es nimmt das Modell von eigensinnig sich selbst amerikanisierenden Europäern und Europäerinnen auf, das in den 1980er-Jahren das Imperialismus- und Überwältigungsparadigma abgelöst hat. Es nimmt die Erkenntnisgewinne des cultural turn und der Alltagsgeschichte auf und integriert sie in einen komplexeren analytischen Ansatz. De Grazia bringt die Fragen von Dominanz und Folgebereitschaft, Klassenunterschieden und Freiheitsansprüchen, sozialen Kosten des Kapitalismus und Alternativen zum westlichen Konsummodell derart differenziert und nachdrücklich in die Amerikanisierungsdebatte zurück, dass sich jede weitere Studie daran wird messen lassen müssen.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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