Mit ihrer Dissertation zur deutschen Nachkriegsgeschichte in Minden versucht Bettina Joergens einen Spagat: mikrohistorische Analyse auf der einen Seite sowie Reflexion und Erweiterung makrohistorischer Vorstellungen von historischem Wandel auf der anderen. Während die Geschichtsschreibung zur deutschen Nachkriegszeit lange Zeit an den ‚großen Konzepten’ festgehalten hat, wie beispielsweise an der Frage nach dem ‚Erfolgsmodell BRD’ oder der Analyse der Nachkriegszeit als Generationskonflikt, beschreibt Joergens mit ihrer lokalhistorischen Untersuchung über Mindener Jugendliche das Verhältnis von Männlichkeit, Jugend und Politik aus der Perspektive der Akteure. Im Mittelpunkt der Studie, die 2001 an der Universität Siegen verteidigt wurde, steht demnach zweierlei: jugendliche Gesellschaftsentwürfe einerseits und männliche Selbstkonzeptionen vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs des Nationalsozialismus andererseits. Dabei begnügt sich die Untersuchung allerdings nicht, um direkt eine Stärke des Buches zu betonen, in der positivistischen Darstellung ostwestfälischer Jugendkultur nach 1945, sondern verknüpft die lokalen Bedingungen und Ereignisse immer wieder ausführlich mit den nationalen Dimensionen, kontrastiert die Erfahrungsebene der Akteure mit den zeitgenössischen Jugenddiskursen und verbindet die Ergebnisse mit schon vorliegenden Forschungsarbeiten zur Nachkriegszeit. So wird die LeserIn en passant in die aktuellen Debatten der Zeitgeschichte eingeführt. Der Lesefluss hätte allerdings durch einem Verzicht auf das ein oder andere Detail der Mindener Stadtgeschichte profitieren können.
Die Untersuchung, die im Auftrag des „Mindener Kreis e.V.“ erstellt wurde, beruht auf Interviews und auf Unterlagen der Archive der Jugendbewegungen, des Kommunalarchivs Minden sowie zahlreichen (Privat-)Archiven. Die Studie geht von der Annahme aus, dass das erste Jahrzehnt der Nachkriegszeit von dem Versuch geprägt war, die Kriegserfahrung zu verarbeiten, und die wahrgenommene generationelle und geschlechtliche Unordnung der westdeutschen Verhältnisse zu ‚normalisieren’. In der kritischen Erweiterung der allgemeinen und historisch einigermaßen unspezifischen Aussage von einer Krise der Männlichkeit zeigt die hier favorisierte Mikrogeschichte, dass für die Zeit nach dem Krieg keineswegs von einer allgegenwärtigen Männlichkeitskrise gesprochen werden kann. Bei Betrachtung des Alltags und des Eigensinns von in drei unterschiedlichen sozial-politischen Milieus verorteten Jugendgruppen werden, so Joergens, aus den „’Helden’ junge Menschen“ (S. 505), die sich an die Gegebenheiten anpassten, sich widersetzten oder soziale und politische Zwischenräume aushandelten. Gleichzeitig verdeutlicht diese Lokalstudie, in welcher Weise männliche Jugendliche an der demokratischen, lokalen Gesellschaft partizipierten und sich in ihr verorteten. Die Nachkriegszeit wurde, so ein Ergebnis des Buches, von einer Pluralisierung von jeweils milieuspezifischen Männlichkeitskonzepten geprägt.
Die drei untersuchten Jugendgruppen umfassen den christlich-konservativen und eher kleinbürgerlich orientierten „Christlichen Verein junger Männer“, die (national) liberal-bürgerliche und elitäre „Deutsche Jungenschaft“ und den sozialdemokratischen und proletarischen „Touristenverein Die Naturfreunde“. Die Mitglieder waren in der Regel zwischen 14 und 18 Jahren alt und die Gruppen waren, abgesehen von den Naturfreunden, exklusive männliche Organisationen. Die in diesen Gruppen aktiven Mitglieder gehörten zu den 20 Prozent Jugendlichen, die in Minden in der unmittelbaren Nachkriegszeit organisiert waren. Die staatliche Jugendpflege unter der Kontrolle der britischen Besatzungsbehörde hatte zwar die Jugend als Trägerin der Demokratisierungsprozesse entdeckt, die Deutschlands ‚Normalisierung’ einleiten sollte. Gleichzeitig wurde die Jugend jedoch in pejorativer Semantik als verwahrlost und politisch desinteressiert beschrieben.
Die Deutsche Jungenschaft stand in der Tradition der bündischen Jugendbewegung und grenzte sich von anderen Jugendgruppen und von den Jugendpflegeverbänden ab. Die hier organisierten Gymnasiasten gehörten einem bürgerlich-liberalen Milieu an und waren politisch in dem Sinne, dass sie mit Politikern diskutierten, sie beschäftigten sich mit Literatur und trafen sich zu Wanderungen. Die Jungenschaftler sahen sich als junge Männer; ihr exklusiver Bund sollte „männlichen Charakter“ (S. 142) haben. Disziplin, Gemeinschaft und Loyalität gegenüber dem Hortenführer galten auch für die geselligen, wöchentlich stattfindenden Heimabende als unhintergehbar. Bewährungen wurden vor allem auf den regelmäßig stattfindenden Reisen gefordert. Während sie in ihren Liedern von Abenteurern und Partisanen sangen, war ihre gemeinsame Lektüre eher von einer elitären, bildungsbürgerlichen Neufindung bestimmt, die sich aus der Ablehnung des klassischen Schulkanons ergab. Ihre Vorstellungen von Männlichkeit inkorporierten sowohl den Kampf als auch die „Sinnlichkeit und Sensitivität“ (S. 169). Homosozialibilität und familienähnliche Gemeinschaft gehörten ebenso dazu.
Die Mitgliedschaft im CVJM war stärker von den kirchlich inspirierten Tätigkeiten, wie Bibelstunde und Gottesdienstteilnahme, geprägt. Heim- und Sportabende gehörten aber auch in diesem Verein zur Freizeitgestaltung. Anders als in der „Deutschen Jungenschaft“ zielte die Vereinstätigkeit auch auf die Vorbereitung der meist kleinbürgerlichen und mittelständischen Jugendlichen auf den christlichen Stand der Ehe. Ausdrücklich wurden das Verhältnis zu Körper und Sexualität, das Verhältnis von Männern und Frauen besprochen. Männerfreundschaften waren allerdings ebenfalls ausdrücklich erwünscht. Während das „Christ sein“ als Alternativmodell gegen die Anforderungen der modernen, kommerzialisierten Welt gesetzt wurde, waren Themen aus Technik und Wissenschaft beliebt und prägten die Heimabende. Es gab zudem Bereiche gemeinsamer Freizeitgestaltung für Mädchen und Jungen. Joergens betont, dass es sich bei den CVJMlern keineswegs um „weltfremde“ Jugendliche (S. 352) handelte, sondern dass sich in dieser Organisation Traditionsbindung und Wertkonservatismus mit Experimentierfreude und Veränderungswille paarte.
Die Touristenverein Naturfreunde unterschied sich vor allem durch das sozialdemokratisch orientierte Milieu und die koedukative Ausrichtung der Freizeitgestaltung von den beiden anderen behandelten Jugendgruppen. Auch nahmen Erwachsene eine viel prominentere Rolle ein. Anders als „Die Falken“ verstanden sich die Naturfreunde selbst nicht als politisch. Ihre wöchentlichen Treffen waren vor allem dem Einüben von Volkstänzen gewidmet. Die weiteren Heimabende waren von Spielen, Literatur, Reisebeschreibungen geprägt. Politik und politisches Engagement beispielsweise in der Gremienarbeit oder Lokalpolitik wurde vor allem von den männlichen Mitgliedern wahrgenommen. Sozialdemokratische Männlichkeit bestimmte sich auch nach dem Krieg über Körperlichkeit und Tatkraft; sie war aber insofern gebrochen, als dass Lässigkeit und Popkultur andere Konzepte von Männlichkeit popularisierten.
Joergens nutzt überzeugend das Konzept eines synchron und diachron dynamischen Milieus und kann für das westfälische Minden nach 1945 zeigen, dass es nicht zu einer Auflösung der Milieuschranken kam. Im Gegenteil, die hier untersuchten Jugendlichen orientierten sich stark an milieu- und gruppenspezifischen Vorgaben und Idealen. „Männlichkeiten“ zeigt, dass im Unterschied zu den Annahmen der meisten Nachkriegsuntersuchungen in Minden keine ‚Remaskulinierung’ stattfand.1 Die Jugendlichen brachen nicht radikal mit den Männlichkeitskonzepten ihrer Väter; sie modifizierten sie, wo sie nicht mehr ihrer milieuspezifischen Lebensrealität entsprachen. Generell von einer Krise der Männlichkeit zu sprechen, auf die eine Remaskulinisierungsphase gefolgt sei, verbietet sich vor dem Hintergrund der in dieser Untersuchung vorgestellten ausdifferenzierten politischen Jugendlandschaft, in der jede Gruppe ganz andere biografische und milieuspezifische Brüche mit dem Nationalsozialismus ausmachte. Alle Milieus waren nach dem Zweiten Weltkrieg neben den materiellen Einschnitten fundamentalen Erschütterungen ihrer Wertesysteme ausgesetzt. Allerdings war das nationalliberale Milieu sehr viel stärker betroffen, da seine Mitglieder leitende Positionen in Wirtschaft, Politik und Militär während des Nationalsozialismus besetzt hatten. Materielle Engpässe über einen längeren Zeitraum brachten dagegen eher die Arbeiterjugendlichen in Bedrängnis. Entgegen der zeitgenössischen Klage über die verwahrloste Jugend und die von der Jugendforschung perpetuierte Annahme eines ‚Problemfalls Jugend’ nach dem Krieg kann diese Studie mit Blick auf die gesellschaftliche Mitte einer durchschnittlichen Stadt zeigen, dass hier männlich konzipierte Politikformen trainiert wurden, die allerdings aufgrund der zumeist hierarchischen Binnenstruktur, vor allem beim CVJM und bei den Naturfreunden, schnell auf Grenzen stieß. Die von den Jugendlichen vertretenen Politikpositionen variierten milieuspezifisch. Während sich die Jungenschaftler zwar als politisch verstanden, distanzierten sie sich vom ‚normalen’ Vereins- und Parteigebaren. Dennoch blieben sie als organisierte Jugendliche, im Gegensatz zu den nicht organisierten, Ansprechpartner für Jugendpflege und Militärbehörde sowie als Rekrutierungsfeld für die zukünftigen politischen Eliten der Stadt. Alle drei Gruppen erweiterten den nationalsozialistischen Typus des soldatischen Mannes durch „Sinnliches, Künstlerisches, Selbstreflexives und Sanftes“. An dieser Stelle hätte eine Kontrastierung von nationalsozialistischer Propaganda und alltagsrelevanter Verhandlung von Männlichkeit im Nationalsozialismus die Frage nach Kontinuität und Wandel erweitern können.
Es ist davon auszugehen, dass das nationalsozialistische Leitbild des soldatischen Mannes als solches zwar auch in den Selbstbildern deutscher Männer zu finden war, dass sich aber, und zwar auch bei den deutschen Soldaten, hierin schon diverse Interpretations- und Anpassungsleistungen bis hin zur Ablehnung finden lassen. Aus dieser Perspektive wäre die von Bettina Joergens analysierten Verhandlungen von Männlichkeiten kein Spezifikum der demokratischen Nachkriegszeit, sondern auch schon im Nationalsozialismus vorhanden gewesen. Pluralisierung von Männlichkeitskonzepten, die sich in Selbstentwürfen finden lassen, kann demnach für die Nachkriegszeit nur bedeuten, dass sich Hegemonien verschoben und sich der Verhandlungsraum erweiterte. Des Weiteren erfährt die Untersuchung eine vermeidbare Verengung der Aussagekraft, indem sie sich nur auf organisierte Jugendliche konzentriert. Die Frage nach dem erfolgreichen Erlernen von demokratischem Handeln in der Nachkriegszeit ließe sich meines Erachtens nur vor dem Hintergrund einer Vergleichsgruppe unorganisierter Jugendlicher dezidiert beantworten. Die Integration eines solchen Fokus hätte auch den wahrnehmbaren normativen Subtext der Studie zerstoben, der suggeriert, dass die Organisierung selbst schon integrative Funktionen bei der Demokratisierung Deutschlands hatte. Andersrum gefragt, wann und wo lernen Jugendliche eigentlich demokratisches Handeln und was ist mit demokratischem Handeln in der jeweiligen historischen Situation gemeint? Könnte nicht gerade der Verzicht auf eine jugendliche Organisierung eine Geburtstunde der Demokratie sein? Diese Fragen beantwortet die Studie von Bettina Joergens nicht. Ungeachtet dessen empfiehlt aber dieses genau recherchierte Buch, die manchmal allzu leichtgängigen und prämissenreichen Konzepte von Jugend und Generation, von Männlichkeitskrisen und Politikverdrossenheit zu historisieren und konkretisieren.2
Anmerkungen
1 Fehrenbach, Heide Rehabilitating Fatherland. Race and German Remasculinization, in: Signs 24 (1998), S. 107-127.
2 Siehe dazu auch neuerdings: Jureit, Ulrike; Wildt, Michael (Hgg.), Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg 2005.