H. Schissler u.a. (Hrsg.): The Nation, Europe, and the World

Cover
Titel
The Nation, Europe, and the world. Textbooks and Curricula in Transition


Herausgeber
Schissler, Hanna; Soysal, Yasemin Nuhoglu
Erschienen
Oxford 2005: Berghahn Books
Anzahl Seiten
258 S.
Preis
€ 21,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Markus Furrer, Fach Geschichte, Pädagogische Hochschule Zentralschweiz - Luzern

Der von Hanna Schissler und Yasemin Nuhoglu Soysal herausgegebene Sammelband vermittelt interessante Einblicke in den gegenwärtigen Stand von Curricula und Geschichtsbildern verschiedener Länder. Dies wird sichtbar an den gruppierten Fallbeispielen der westeuropäischen Staaten Deutschland, Frankreich und der Niederlande sowie der an der Peripherie Europas situierten Länder Bulgarien, Griechenland, Spanien und der Türkei. Weitere Beispiele stammen aus den Vereinigten Staaten und Russland. In einer Zeit, in der nationale Narrative im schulischen Unterricht kaum mehr ausreichende Sinn- und Deutungszusammenhänge herstellen können, zeigen die Fallbeispiele nicht nur, wie unterschiedlich die Ausgangspositionen noch sind, sondern auch, wie der transnationale Kontext und der globale Wandel in Schulgeschichtsbüchern hier Lücken zu schließen beginnen und wie die nationalen Narrative neue Bezüge zu Europa und der Welt schaffen und teils auch durch solche ersetzt werden. Der Band gliedert sich in drei Teile: „Europe Contested“, „Europe Seen from the Periphery“ sowie „Global Frameworks and Approaches to World History“.

Hanna Schissler und Yasemin Nuhoglu Soysal verweisen in ihrer Einführung „Teaching beyond the National Narrative“ auf die zentrale Bedeutung, welche der in der Schule vermittelten Geschichte bei der nationalen Identitätsbildung zugekommen ist. Offensichtlich wird auch der Wandel seit dem Zweiten Weltkrieg, indem sich die verschiedenen Curricula in Europa, den Vereinigten Staaten sowie in andern Ländern angenähert haben. Dabei verlor die Nationalgeschichte an Terrain. Damit einher geht eine Fokussierung auf sozialgeschichtliche Fragestellungen, während ethnokulturalistische Interpretationen an Aussagekraft verloren zu haben scheinen. Die Autorinnen sprechen hier von einem Trend der „Zähmung“ (S. 5) von Nationalgeschichte, die gleichzeitig vor dem Hintergrund des Einbezugs anderer Zivilisationen und Kulturen relativiert worden ist. Neue Narrative wie Europaerzählungen können jedoch auch neue Spannungsfelder, so zwischen Provinzialisierung und Einzigartigkeit, evozieren. Hebt die Provinzialisierung („Provincializing“) hervor, dass Entwicklungen und Werte wie Fortschritt und Humanität nicht mehr länger allein als europäische Errungenschaft gedacht werden können, so akzentuiert die Einzigartigkeit die Bedeutung des Kontinents auf dem Weg zu diesen Entwicklungen und Wertvorstellungen. Bei der Vermittlung von europäischer Geschichte und Weltgeschichte kommt man folglich an der Betrachtung konfliktträchtiger Vergangenheit und Herausforderungen der Zukunft nicht vorbei, wie die Autorinnen hervorheben.

Für die Konstruktion nationaler Geschichtsbilder ist der Zusammenhang von partikularen und universalen Vorstellungen zentral – „partikular“ im Sinne des Bezugs auf die eigene Nation und „universal“ gedacht als Ausweitung zum Weltbild, wie es eine ontologische Erklärung verlangt. Beide Vorstellungen bedingen einander. Sie werden jedoch geschwächt oder obsolet, wenn Widersprüche zwischen partikularen und universalen Geschichtsbildern zu Symptomen politischer Turbulenzen in Zeiten verunsicherter Vergangenheitsdeutung und verstörter Zukunftserwartung werden.1 In der Folge ordnen sich nationale Narrative in europäische oder auch weltweite Bezüge ein. Allerdings ist der Stand bei den einzelnen Narrativen unterschiedlich.2 Hat in den Geschichtsdarstellungen der Vereinigten Staaten die eurozentrische Perspektive ihren dominanten Platz eingebüßt, so stehen einige Länder im Osten und Süden des Kontinents noch in einem Anpassungsprozess hinsichtlich einer Übernahme europäischer Standards – dies nicht nur in den Bereichen von Ökonomie und Politik, sondern auch in der Bildung.

Im ersten Kapitel zu „Europe Contested“ beleuchten die Autorinnen und Autoren verschiedene Bereiche der historischen Vermittlung in westeuropäischen Ländern. Yasemin Nuhoglu Soysal, Teresa Bertilotti und Sabine Mannitz vergleichen deutsche und französische Curricula sowie Lehrmittel hinsichtlich ihrer Identitätsangebote im Wandel der Nachkriegszeit und mit Bezug zum europäischen Integrationsprozess. Deutlich treten die beiden unterschiedlichen Wege eines transnationalen Zugangs in Deutschland und Frankreich hervor. Während im Falle Deutschlands auf Grund der historischen Diskontinuitäten – auch nach der Wende - die Verankerung nationaler Identität in einem europäischen Kontext einen wichtigen Bezugspunkt herstellt, fördert beim französischen Modell der universelle Bezug transnationale Vorstellungen.

Rainer Ohliger untersucht, wie in deutschen, französischen und niederländischen Geschichtslehrmitteln der Nachkriegszeit im Spannungsfeld von Inklusion und Exklusion so genannte privilegierte Migrantengruppen dargestellt worden sind. Dabei handelt es sich im Falle Deutschlands um die Zuwanderung von ethnischen Deutschen aus ehemaligen deutschen Gebieten und andern osteuropäischen Ländern; bei den Niederlanden und Frankreich kam es zu postkolonialen Rückwanderungen und Repatriierungen. Als Unterschied kristallisiert sich heraus, dass für Frankreich und die Niederlande der Opfer-Mechanismus weniger wirkungsvoll eingesetzt werden konnte als dies in Deutschland bis in die 1960er-Jahre der Fall gewesen ist. Für die französische Sekundarstufe untersucht Jacques E.C. Hymans den Stellenwert der Geschichte im Curriculum, die auch im Falle Frankreichs zusammen mit der Geografie nicht von „Social Studies“ verdrängt werden konnte. Hingegen ortet er einen merklichen Rückgang in der Stundendotation sozialwissenschaftlicher Fächer in den vergangenen Jahrzehnten. Julian Dierkes befasst sich mit dem Abstieg und Aufstieg („The Decline and Rise“) der Nation im deutschen Geschichtsunterricht in der Bundesrepublik und der DDR und macht für beide Teile transnationale Trends aus, die allerdings unterschiedliche Ursprünge haben und auch unterschiedlichen Rhythmen folgten. Während in Ostdeutschland die Prämissen auf internationalen Bezügen im sowjetischen System lagen und von Partei und Funktionseliten entsprechend gesteuert und initiiert worden sind, so weitete in Westdeutschland die akademische Geschichtsschreibung die Schulgeschichtsdarstellungen früh international aus, was auch mit dem Aufkommen der Sozialgeschichte in den 1960er-Jahren zusammenhing.

Eine weitere Gruppe von Beiträgen handelt von der Sicht auf Europa aus dem Betrachtungswinkel von dessen Peripherie. Bei türkischen und griechischen Geschichtsbüchern beobachten Vasilia Lilian Antoniou und Yasemin Nuhoglu Soysal auf der Basis der seit Mitte der 1980er-Jahren gültigen Curricula einen klaren Trend hin zu globalen Perspektiven und einer humanistischen Weltgeschichte. Mit dem Europabezug in der bulgarischen nationalen Geschichtserzählung auf der Basis von Unterrichtsbeobachtungen befasst sich Tim Pilbrow. Im Zentrum seiner Untersuchung steht die Ambivalenz, die von Europa im bulgarischen Identitätsdiskurs ausgeht, auf die mit Ironie reagiert werde. „Europa“ spielt in der nationalen bulgarischen Erzählung eine wichtige Rolle und wird idealisiert, obgleich das am Rande des Kontinents situierte Land in einem ambivalenten Spannungsverhältnis zu diesem Europa steht, wie es sich auch im Narrativ ausdrückt. Robert Maier untersucht die Entwicklung von Unterricht und Schulbüchern in Russland und diagnostiziert einen Wandel hin zu liberalen und pluralistischeren Tendenzen, was sich beispielsweise am Zuwachs privater Lehrmittelverlage zeigt. Er beobachtet eine Öffnung gegenüber internationalen Einflüssen, wenn auch eine pädagogische Entwicklung eng begrenzt ist. Nicht einfach ist der Bezug zu Europa, da eine eurozentrische Darstellung der Größe des Landes und seiner Einbettung in Asien nicht gerecht wird. Über Europa in spanischen Lehrbüchern schreiben Miguel A. Pereyra und Antonio Luzón, die auf den traditionellen westlichen Bezug verweisen, der primär kulturell hergeleitet worden war. Die spanische Meistererzählung in den Schulbüchern nährte sich lange aus der spanischen Sonderrolle durch die Renconquista und die Kolonialisierung Südamerikas; gleichzeitig war sie von einem Minderwertigkeitskomplex in Bezug auf andere europäische Länder geprägt. Als Folge des neuen Bildungsgesetzes von 1990 erweiterte sich das Geschichtsbild in den neuen Lehrmitteln.

In einem abschließenden dritten Teil befassen sich Autorinnen und Autoren mit den globalen Rahmenbedingungen und den Ansätzen einer weltgeschichtlichen Darstellung. Michael Geyer fragt sich, wie die „Welt“ ins Klassenzimmer gebracht werden könne. Er zeigt dabei auf, welchen Stellenwert Weltgeschichte in den Vereinigten Staaten in den verschiedenen Schulstufen erreicht hat und auch die Geschichtswissenschaft beeinflusst. So leistet in Zeiten beschleunigter Globalisierung der weltgeschichtliche Bezug wichtige Orientierung und steht für einen Paradigmenwechsel, in dem historisierende Ansätze von dem, was Welt ist und darstellt, gegenüber Modellvorstellungen wie der Modernisierung an Relevanz gewinnen. Kären Wigen entwickelt in ihrem Beitrag Überlegungen, wie die Welt durch so genannte Inter-Area History Studierenden näher gebracht werden kann und Hanna Schissler folgert in Bezug auf Weltgeschichte: „World history might help teachers and students to understand that ‚the world’ is not ‚out there’ somewhere, but that it saturates our lives and that we are part of it; it might help to endure the ambiguities of this modern world, and it might aid in resisting the temptation to turn to fundamentalism.“ (S. 241)

Was die einzelnen Beiträge mit ihrem Fokus auf spezifische Länderbeispiele verdeutlichen, ist – neben den Differenzen, die sich in den unterschiedlichen Bezügen zum nationalen Narrativ zeigen – eine Dynamik, in der sich Strukturmuster des nationalen, europäischen und globalen Raumes verzahnen und verdichten. Während die einzelnen Länderbeispiele den Stand der nationalen Erzählungen und ihre Einbettungen in die größeren Strukturmuster widerspiegeln, zeichnen die Beiträge zu weltgeschichtlichen Ansätzen Konturen einer möglichen „worldization“ (S. 235) nach.

Anmerkungen
1 Siehe hier: Jeismann, Karl-Ernst, Geschichtsbilder. Zeitdeutung und Zukunftsperspektive, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 51-52 (2002), S. 13-22, hier S. 14 (<http://www.bpb.de/popup/popup_druckversion.html?guid=YAPXH4>, 6. März 2006).
2 Vgl. auch: Jarausch, Konrad H., Rückkehr zur Nationalgeschichte? Antworten auf die Krise der nationalen Meistererzählungen, in: Christina Jostkleigrewe, Christian Klein, Kathrin Prietzel, Peter F. Saeverin, Holger Südkamp (Hg.), Geschichtsbilder. Konstruktion – Reflexion – Transformation, Köln, Weimar, Wien 2005, S. 259-280.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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