»In den vergangenen 15 Jahren sind die West- und Nordgebiete restlos mit dem ganzen polnischen Staatsorganismus verschmolzen. Das ist eine feststellbare Wahrheit. Im Bewußtsein der Unwideruflichkeit der geschichtlichen Prozesse, die sich in den Westgebieten seit 15 Jahren vollziehen, und in der Überzeugung, daß diese Gebiete mit Polen nicht nur aus historischen und rechtlichen Gründen, sondern auch dank ihres großen Beitrages zum friedlichen Aufbauwerk mit Polen dauerhaft verbunden sind, wünscht das polnische Volk mit dem ganzen deutschen Volk im Geiste gegenseitigen Verständnisses zusammenzuarbeiten.« 1
In Gregor Thums 2003 erschienenen Buch, einer überarbeiteten Version seiner bei Karl Schlögel an der Frankfurter Viadrina entstandenen Dissertation, steht dieser im Zitat ›Verschmelzung‹ genannte Prozeß im Mittelpunkt. Anhand der Stadt Breslau untersucht der Autor die Mechanismen von Neuaneignung und Konstruktion lokaler bzw. regionaler Identitäten, die bei der Integration der ehemals deutschen Städte in das neue polnische Staatsgefüge wirkten.
Die schlesische Metropole, die bis zum Januar 1945 nahezu frei von kriegsbedingten Schäden geblieben war, wurde in den letzten Wochen der Kampfhandlungen zur Festung erklärt und zu einem großen Teil von den deutschen Truppen selbst in ein Trümmerfeld verwandelt. Diese sinnentleerte Zerstörung bildete gleichsam den dramatischen Schlußpunkt eines zivilisatorischen Niedergangs, der die Regierungszeit der Nationalsozialisten begleitete. Thum wählt diese Ereignisse rund um das unmittelbare Kriegsende als Ausgangspunkt seiner Untersuchung, die mit einer Beschreibung des Geschehens in der ›Festung Breslau‹ im Frühjahr 1945 einsetzt.
Der erste Teil des Buches, unter der Überschrift ›Nachkriegszeit. Der Bruch und das Überleben‹, ist eine faktographisch orientierte, sozialgeschichtliche Darstellung, die die Geschicke der Stadt zwischen dem Ende der Kampfhandlungen nach der Kapitulation der Deutschen am 6. Mai 1945 und dem Abschluß der ersten Etappe des polnischen Wiederaufbaus in den späten 1950er Jahren aufzeigt. Dabei werden die einzelnen lokalen Vorgänge immer auch vor dem Hintergrund der gesamten nationalen Entwicklung betrachtet. So schildert Thum die Ankunft der polnischen Behörden unmittelbar im Gefolge der Roten Armee, ihre großen organisatorischen Schwierigkeiten, wie Personalmangel und Kompetenzstreit. Er beschreibt die Übergangsphase der Aussiedlung, die gekennzeichnet war durch ein recht langes Nebeneinander von Deutschen und Polen, deren Zusammenleben von den Siegertruppen in vielerlei Hinsicht beeinflußt wurde. So waren es zunächst deutsche Einwohner, die von der Roten Armee als ortskundige Arbeitskräfte gebraucht wurden und dementsprechend bevorzugt wurden.
Die fortschreitende Aussiedlung der Deutschen und die Ankunft vieler polnischer Neusiedler aus ländlichen Gebieten führte laut Thum zu einer ›Verdörflichung‹ der Stadt. Erst 1981 erreichte sie wieder die Einwohnerzahl von 1939. »[…] da mit der Aussiedlung der deutschen Einwohner aus Breslau die bisherigen Träger der Stadtkultur verschwanden […] ging von einem Tag auf den anderen die soziale Basis der Urbanität verloren, an der sich die ländlichen Immigranten bei der Suche nach Mustern und Normen eines großstädtischen Lebens hätten orientieren können.« (S. 163)
Dieser ›Substanzverlust‹ kam ebenso in den zahlreichen Demontagen und Plünderungen, im umsichgreifenden Vandalismus und im stellenweisen Komplettversagen der öffentlichen Ordnung zum Ausdruck.
Detailliert beschreibt Thum die Schwierigkeiten in der Versorgung der Stadtbevölkerung, die den Schwarzmarkt als Versorgungsmittelpunkt und zentralen Ort einer wilden Umverteilung profilierten. Dabei betont er die Unsicherheit und Fremdheit, die viele der polnischen Siedler in dieser neuen Umgebung empfanden und zeigt anschaulich, wie dennoch mit einer großen kollektiven Kraftanstrengung der Wiederaufbau angegangen wurde und in den Jahren des Stalinismus soweit gedieh, daß in der Innenstadt zentrale Bereiche nach dem Originalbefund wiedererstanden.
Der zweite Teil der Studie ist mit dem Titel ›Gedächtnispolitik‹ überschrieben und ist der eigentliche Kern der Arbeit. Hier wird die komplette Neukonstruktion der individuellen wie auch kollektiven Identitäten in Bezug auf den lokalen Raum zum Thema. Nach den traumatischen Erfahrungen mit den Besatzern galt es, für die nun polnische Stadt eine eigene nationale Geschichtskonstruktion zu schaffen, die die vorherige deutsche Siedlungsgeschichte weitestgehend auszublenden hatte. Der Autor legt anschaulich dar, daß die neuen Bewohner von einem Gefühl der Fremdheit ergriffen waren: sie zogen nicht selten in komplett eingerichtete deutsche Wohnungen ein und wurden mit deutschen Aufschriften, Traditionen und Erzählungen oft noch jahrelang in ihrem unmittelbaren Umfeld konfrontiert. Verbunden mit einer – trotz aller staatlichen Gegenpropaganda unterschwellig vorhandenen – Angst, die neugewonnene Stadt vielleicht irgendwann doch wieder ihren alten Bewohnern überlassen zu müssen, entwickelte sich eine über Jahrzehnte anhaltende Grundstimmung provisorischer Existenz in den gesamten Westgebieten, die keineswegs so ›restlos verschmolzen‹ mit dem polnischen Staatsgebiet waren, wie es uns das Eingangszitat suggerieren will.
Zwei Faktoren kennzeichneten die forcierte Polonisierung des Stadtorganismus‘: einerseits die individuellen Bestrebungen sich mit dem neuen Lebensraum einzulassen und zu vernetzen, die trotz aller Unwägbarkeiten vorhanden waren, sowie die politischen Bedürfnisse den Neuerwerb der ehemals deutschen Ostgebiete zu legitimieren. Auf die Gedanken der seit der Jahrhundertwende entstandenen nationalistischen Bewegungen, die schon nach dem ersten Weltkrieg die Wiederkehr der deutschen Westgebiete nach Polen postulierten, wurde nun in der offiziellen Geschichtspropaganda aufgebaut. Der Terminus der ›wiedergewonnenen Gebiete‹ »reduzierte ein Jahrtausend einer komplexen mitteleuropäischen Beziehungsgeschichte auf einfache Formeln« (S. 279) Diese Formeln machten es der orientierungslosen Stadtbevölkerung leichter eine neue raumbezogene Identität zu aufzubauen. Interessant ist dabei die bewußt selektive Auswahl historischer Prozesse die sowohl der wissenschaftlichen Historiographie als auch der populären Stadtgeschichtsschreibung zu Grunde lagen: Das preußische 19. Jahrhundert wurde (abgesehen von der Unterdrückung einer eher imaginierten polnischen Minderheit) kaum erwähnt, obwohl es doch für die moderne Stadt- und Wirtschaftsentwicklung so maßgeblich war. Vielmehr wurden die piastischen Ursprünge der Stadt hervorgestellt und durch gezielte ›geschichtspolitische Aufbaumaßnahmen‹, wie die schnelle Instandsetzung der Dominsel unterstützt. Darüber hinaus wurden Denkmäler beseitigt, die deutschen Straßennamen umbenannt und Inschriften aus dem öffentlichen Stadtbild getilgt. Auch die von Thum sehr gut dokumentierte Konzeption eines neuen Stadtwappens, das den polnischen Adler als Symbol der Staatszugehörigkeit integrierte, trug zur Erfindung eigener Traditionen bei.
Das dritte Kapitel umfaßt unter dem Titel ›Ausblick‹ die Entwicklung der lokalen Identitätsmuster zwischen den 1960er Jahren und der Gegenwart. Hier geht es um das »schizophrene Verhältnis zwischen öffentlichem und privatem Raum« (S. 500) als der propagandistisch unterfütterten Überwindung deutscher Vergangenheit im Öffentlichen und der jahrelangen Konfrontation mit deutschen Gütern und Produkten im Privaten. Diese Diskrepanz, so der Autor, war mit dafür verantwortlich, daß »keine stabile lokale Identität entstehen« konnte. (S. 502) Im Zuge des Umbruchs nach 1989 revolutionierte sich auch das Geschichtsbild: Das verordnete Schweigen über die deutsche Vergangenheit wich einer Aneignung der bürgerlichen Traditionen der Stadt. In zahlreichen toponomischen Symbolakten änderte sich der Stadtplan Breslaus erneut beachtlich, wobei häufig die historische Bezeichnung in ihrer polnischen Variante als Orts- bzw. Straßenname gewählt wurde. Das alte Stadtwappen von 1530, das schon 1938 durch eine nationalsozialistische Erfindung ersetzt wurden war, der später die erwähnte polnische Schöpfung folgte, wurde wieder zum Symbol der Stadt, die sich nun ihrer Vergangenheit ohne verordnete nationalistische Scheuklappen stellen konnte.
Gregor Thum gelingt mit diesem Buch, verschiedene historische Forschungsansätze gewinnbringend zu verflechten. Die detailreiche Arbeit ist sehr lesenswert verfaßt und auflockernd bebildert. Auffallend ist die Sicherheit der Urteilskraft und die Sensibilität, die der Autor aufbringt, um die beeindruckende Fallstudie zu einem dunklen Kapitel des 20. Jahrhunderts zu formulieren. Sicher, es gibt auch Punkte die man sich ausführlicher dargestellt wünschte: So die überaus spannenden Transformationsprozesse der letzten fünfzehn Jahre, in denen neue politische und wirtschaftliche Akteure auch die lokale Geschichte anders akzentuieren. Oder aber die stärkere Berücksichtigung von Zeitzeugen-Aussagen. Auch ein Register wäre wohl in Anbetracht der Fakten nützlich. Diese kleinen Einwände können jedoch den hervorragenden Gesamteindruck des Buches nicht schmälern.
Interessant ist die unterschiedliche Betrachtung bisheriger Rezensenten. So findet der Vertriebenenpolitiker Herbert Hupka in der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹ das Buch unzureichend und oberflächlich, da sich der Autor nur auf offizielle Protokolle und veröffentlichte Quellen stütze. 2 Auch Peter Glotz geht in der ›Süddeutschen Zeitung‹ auf Distanz: Hier wird der ›mitleidende Historiker‹ Thum dafür kritisiert, daß er die Erfindung einer politischen Tradition für Breslau als elementar und wichtig für das Erstarken eines neuen Stadtorganismus ansieht. Damit, so Glotz, rechtfertige er eine Mythisierung, die auf einer Lüge aufbaut. 3
Trotz dieser – von der mitunter befremdlichen Eigendynamik der Geschichtskultur der vertriebenen Deutschen gekennzeichneten – Kritik ist Gregor Thums Buch die erste breitere deutsche Studie, die fundiert, ausgewogen und emotional neutral über eine Region schreibt, die im deutsch-polnischen Zusammenleben eine sehr wichtige Stellung einnimmt. Es bleibt zu hoffen, daß darauf aufbauend bald weitere Arbeiten folgen werden, die den ›Geist des gegenseitigen Verständnisses‹, der im Eingangszitat wohl eher ein Zugeständnis an die verordnete sozialistische Freundschaft war, weiter aktiv beleben.
1 Zitiert nach: Auf den Spuren des Neuen. Mit Mikrofon und Kamera durch die polnischen Westgebiete. Hg. vom Polnischen Rundfunk,Wroclaw o.J. (1960) 6.
2 Hupka, Herbert, Die andere Stadt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 04.10.2003, S. 11.
3 Glotz, Peter, Hinaus und Hinein, in: Süddeutsche Zeitung vom 08.12.2003, S. 11.