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Titel
Die engagierte Nation. Deutsche Debatten 1945-2005


Autor(en)
Rathgeb, Eberhard
Erschienen
München 2005: Carl Hanser Verlag
Anzahl Seiten
448 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Hacke, Institut für Sozialwissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Lange schien die Auffassung vorzuherrschen, dass es sich bei der alten Bundesrepublik um ein langweiliges Land handle. „Ein Staat ohne geistigen Schatten“, „langweilig und ideenlos“ – so urteilte der Publizist Rüdiger Altmann noch 1960 (im besprochenen Band, S. 114f.). Von links und rechts hielt man dem Bonner Provisorium seine Defizite vor, und es brauchte einige Zeit – bis in die 1980er-Jahre hinein –, bevor die ersten Debatten um die Identität und den eigenen historischen Ort des westdeutschen Teilstaats geführt werden konnten. Diejenigen konservativen Historiker und Publizisten, die selbstbewusst versuchten, die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik aus dem Schatten des „Dritten Reiches“ zu führen, wurden dann freilich schnell als neokonservative Nationalisten verdächtigt. Dass sie sich gleichzeitig gegen den Vorwurf wehren mussten, „NATO-Historiker“ zu sein (so Jürgen Habermas über Michael Stürmer), unterstreicht die Verspanntheit mancher damaliger Debatten.

Doch zurück in die 1950er und 1960er-Jahre: Bündelt man die Vorbehalte der Intellektuellen gegenüber dem Wirtschaftswunderland, so ähnelte sich der Befund auf den beiden entgegengesetzten politischen Lagern in erstaunlicher Weise. Vom Nationalsozialismus desillusionierte Konservative verwandelten sich in resignierte Technokraten, die dem „paradigmatischen Staat der Industriegesellschaft“ (Ernst Forsthoff) seine „Geistlosigkeit“ vorhielten, sich aber damit trösteten, dass die nachbürgerliche „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ zumindest krisenarm und stabil erschien. Mit Helmut Schelsky durfte der technokratische Konservatismus beruhigt feststellen, dass die Sachzwänge der „wissenschaftlichen Zivilisation“ politische Entscheidungen überflüssig machten. Die Administration des Staates und seiner Verwaltung begriff man als eine soziale Apparatur, deren Bedienung lediglich von kundigen „Funktionseliten“ geleistet werden könne und müsse. Die Gesellschaftsdiagnose der Linken wiederholte diesen Befund – allerdings beklagten sie die ausgebliebene Demokratisierung und sahen die „Restaurationszeit“ der Adenauer-Ära als das Ergebnis einer versäumten Revolution. Die Parteiendemokratie erschien aus dieser Perspektive lange Zeit als überkommenes Relikt einer bürgerlichen Epoche des „Spätkapitalismus“, gebeutelt von „Legitimationsproblemen“.

Dies zeigt schon, dass die westdeutschen Intellektuellen einen langen Weg zur Akzeptanz der Bundesrepublik vor sich hatten. Der kritische Stachel saß tief. Umgekehrt bewirkte gerade die Skepsis der Kommentatoren in Publizistik und Kulturbetrieb, dass sich – ganz entgegen dem verbreiteten Bild von den spießig-muffigen Gründerjahren – schon sehr früh ein lebendiges Debattenleben entwickelte. Es ist das Verdienst des FAZ-Feuilletonredakteurs Eberhard Rathgeb, mit dem Buch „Die engagierte Nation“ einen Wegweiser durch die vielen geistigen Auseinandersetzungen der Republik zu liefern. Sein kommentiertes Kompendium offeriert einen spannenden Querschnitt des bundesrepublikanischen Geisteslebens. Schlaglichtartig erhellt Rathgeb die Stationen deutsch-deutscher Selbstfindungsprozesse ebenso wie den Weg hin zu gesellschaftlicher Liberalisierung (Frauenbewegung, Ausländerintegration) oder die engagierten Proteste gegen Atomkraft, Nachrüstung und Umweltverschmutzung. Rathgeb kommt es nicht darauf an, Debatten im Zusammenhang, also mit Rede und Gegenrede, zu dokumentieren, sondern er möchte einzelne Texte für sich sprechen lassen. Bei gut 90 verschiedenen Interventionen ist das ein mutiges Vorhaben; starke Kürzungen und die Beschränkung auf ein bis zwei Textschnipsel pro Jahr sind unvermeidlich.

Über Auswahl und Schwerpunktsetzungen ließe sich natürlich endlos streiten. Viele Beiträge hat man erwartet; andere, fast schon archäologische Funde überraschen den Leser; einiges vermisst man schmerzlich. Aber das ist im heutigen Zeitalter der Kanonbildung nicht unbedingt ein Manko, denn die immer neue Erstellung von Kompilationen zwingt stets zur Kritik und Ergänzung. Insbesondere dem ehrenwerten Vorsatz des Herausgebers, die DDR mit zu berücksichtigen, kann kaum befriedigend Rechnung getragen werden. Zwar sammelt Rathgeb einzelne Stimmen von ostdeutschen Intellektuellen wie Biermann, Harich, Bahro oder Müller – doch eine Diktatur ohne Debattenkultur lässt sich schwerlich gleichgewichtig darstellen. Man mag sich auch fragen, ob Jaspers’ Erörterung der „Schuldfrage“ oder sein alarmistisches Pamphlet „Wohin treibt die Bundesrepublik?“ nicht bedeutsamer gewesen sind als der reichlich verwirrte Beitrag zur atomaren Bedrohung, der lediglich Allgemeinplätze bietet, um dann etwas überraschend den Bürgerkrieg als letztes Mittel sittlichen Protests vorzuschlagen. Ebenso kann man sich fragen, ob Habermas als einer der bedeutendsten Intellektuellen der Bundesrepublik mit einer Rede über die politische Rolle der Studentenschaft von 1967 ausreichend vertreten ist – und ob nicht die Hochzeiten gesellschaftlicher Debatten vom Ende der 1960er bis zum Anfang der 1970er-Jahre sowie die Jahre 1989/90 mehr Raum verdienten als die vergleichsweise müden Endsiebziger. So ließe sich endlos fortfahren. Aber damit scheint das Buch auch schon einen wesentlichen Zweck zu erfüllen: Man ertappt sich als Leser beim fortwährenden Kommentieren und müht sich um Alternativen.

Sicherlich merkt man Rathgeb seine intellektuelle Herkunft an, denn FAZ-Artikel nehmen einen überproportional großen Platz ein. Man wird darauf gestoßen, dass sich in diesem liberalkonservativen Blatt einerseits von Sieburg bis Bohrer eine kulturkritische Linie durchzieht, die den „Provinzialismus“ der Bonner Republik gegeißelt hat, sich dort andererseits mit Dolf Sternberger, Hermann Lübbe und Joachim Fest auch immer die verfassungspatriotischen Verteidiger der Bürgerlichkeit wiederfanden. Übertriebene Sympathie für die Achtundsechziger wird man Rathgeb kaum nachsagen können, und in seinen kommentierenden Zwischentexten findet sich manche übertriebene Spitze. Überrascht nimmt man auch zur Kenntnis, wie matt sich ein „Aufstand der Anständigen“ heute ausnimmt, wenn man sich in Erinnerung ruft, welches Maß an aktiver Zivilcourage Konrad Adenauer schon in den 1950er-Jahren von den Bürgern einforderte. Als Reaktion auf die antisemitischen Schmierereien an der Kölner Synagoge im Dezember 1959 forderte der Bundeskanzler seine Mitbürger auf: „Wenn Ihr irgendwo einen Lümmel erwischt, vollzieht die Strafe auf der Stelle und gebt ihm eine Tracht Prügel.“ (S. 112)

Rathgeb hat ein Lesebuch im besten Sinne zusammengestellt. Mit ihm kann man Höhepunkte des Geisteslebens dieser Republik nacherleben – wie sich etwa Georg Picht, Ralf Dahrendorf und Alexander Mitscherlich über Modernisierungsdefizite und -krisen Gedanken machten oder wie sich die Katholiken Heinrich Böll und Robert Spaemann in öffentlichen Briefen respektvoll über die Nachrüstung stritten. Man kann in die aufgeregten 1970er-Jahre eintauchen, in denen das immer noch prosperierende Land von Staatsfeinden und Autokraten besetzt schien. Jedenfalls wird jeder, der sich mit der Ideengeschichte der Bundesrepublik beschäftigt – ganz besonders in der schulischen und universitären Lehre –, großen Gewinn aus diesem Buch ziehen. Unter dem Titel „Deutschland kontrovers. Debatten 1945 bis 2005“ ist es inzwischen auch preisgünstig bei der Bundeszentrale für politische Bildung zu erhalten.

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