Widerstand gegen den Nationalsozialismus

Tuchel, Johannes (Hrsg.): Der vergessene Widerstand. Zu Realgeschichte und Wahrnehmung des Kampfes gegen die NS-Diktatur. Göttingen 2005 : Wallstein Verlag, ISBN 3-89244-943-0 279 S. € 20,00

Bald, Detlef (Hrsg.): 'Wider die Kriegsmaschinerie'. Kriegserfahrungen und Motive des Widerstandes der "Weißen Rose". Essen 2005 : Klartext Verlag, ISBN 3-89861-488-3 211 S. € 14,90

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Winfried Heinemann, Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam

In der „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“ hat sich Johannes Tuchel vor einiger Zeit äußerst kritisch mit einem Buch von Detlef Bald auseinandergesetzt.1 Detailliert wies Tuchel, der Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Bald einen leichtfertigen Umgang mit den Fakten, Unkenntnis der einschlägigen Literatur und „Auslassungen in Zitaten oder deren Entkontextualisierung“ nach. Diese Vorgeschichte macht es schwierig, in einer Rezension zwei Sammelbänden gerecht zu werden, die von den beiden Kontrahenten herausgegeben worden sind. Dies gilt umso mehr, wenn der Rezensent selbst Bald in einem ganz anderen Buch ebenfalls einen, sagen wir, „kreativen“ Umgang mit den Fakten vorgeworfen hat.2 Dennoch soll eine Würdigung der beiden vorliegenden Bücher versucht werden.

In dem von ihm in der Reihe „Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte“ herausgegebenen Sammelband „Der vergessene Widerstand“ vereint Tuchel Aufsätze zu bisher wenig wahrgenommenen Bereichen widerständigen Verhaltens im „Dritten Reich“ mit Beiträgen zur Rezeptionsgeschichte des Widerstands in beiden deutschen Staaten der Nachkriegszeit. Tuchel steht – mit Peter Steinbach und der gesamten Gedenkstätte Deutscher Widerstand – für einen inklusiven Widerstandsbegriff. Er verwahrt sich gegen ein Verständnis von „Widerstand“, das sich auf jene zumeist national-konservativen Bestrebungen beschränkt, die in dem Staatsstreichversuch vom 20. Juli 1944 gipfelten. Insbesondere abstrahiert Tuchel von den politischen Zielsetzungen der jeweiligen Gruppen; er kann somit auch kommunistische und andere undemokratische Widerstandsgruppen einbeziehen – was ihm zu Zeiten des Kalten Krieges nicht nur Freunde eingetragen hat. In seiner Einführung begründet Tuchel diesen Widerstandsbegriff noch einmal methodisch und politisch, so dass er für die Lektüre dieses Buches handhabbar wird. Auch wer, wie der Rezensent, für seine eigene Arbeit eine andere, engere Begrifflichkeit verwendet, kann so mit der gewählten, methodisch ebenfalls vertretbaren Definition leben.

Der erste Abschnitt zur „Realgeschichte“ nimmt – daraus schlüssig folgend – vor allem linke Widerstandsbewegungen in den Blick, die im bundesrepublikanischen Diskurs bisher eher unbeachtet geblieben sind. Da geht es um Anarchisten oder die „Gemeinschaft für Frieden und Aufbau“ ebenso wie um den Widerstand von Häftlingen im Konzentrationslager Dachau. Peter Steinkamp greift die in den letzten Jahren von unterschiedlicher Seite vorgestellten Formen des „Rettungswiderstands“ auf und systematisiert die Ergebnisse der Forschung hierzu.

Der Beitrag von Ulrich Renz über Georg Elser schlägt methodisch eine Brücke zwischen den beiden Teilen. Noch einmal lässt er die Gestalt des südwestdeutschen Bastlers und Tüftlers lebendig werden; er betont auch, dass Elser keineswegs der Eigenbrötler gewesen sei, als den ihn die Forschung lange hingestellt hat. Danach aber wendet sich Renz der Rezeptionsgeschichte zu und stellt dar, wie die bundesdeutsche Gesellschaft, Justiz und Historiografie ein bestimmtes Bild von Elser konstruierten, um einer echten Würdigung aus dem Weg gehen und sich stattdessen auf den nationalkonservativen Widerstand konzentrieren zu können.

Besonders verdienstvoll ist der Beitrag von Ekkehard Klausa über das Judenbild des national-konservativen Widerstands, das der Autor sinnigerweise mit „Ganz normale Deutsche“ überschrieben hat. Auch hier geht es darum, eine seit langen Jahren schwelende Forschungskontroverse sine ira et studio zu referieren und auf einem höheren Niveau zu synthetisieren. Klausa tut dies, indem er die Skalierung des „schwereren“ und „leichteren“ Antisemitismus einführt. Letzteren bescheinigt er einer Vielzahl Angehöriger des Widerstands und nimmt dabei in Kauf, dass man ihn möglicherweise der Verharmlosung bezichtigt. Es geht Klausa aber um eine Historisierung sowohl des Phänomens Antisemitismus als auch des Widerstands gegen das NS-Regime.

Den letzten Beitrag steuert der Herausgeber selber bei. Tuchel ist in den Akten der Stasi-Aktenbehörde fündig geworden. Detailliert listet er auf, wie die Staatssicherheit der DDR die Bearbeitung der „Roten Kapelle“, also der Geschichte der Widerstandsgruppe um Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack, an sich zog und aktuellen propagandistischen Zwecken nutzbar machte. Tuchel und andere haben sich in den letzten Jahren darum verdient gemacht, diese Widerstandsgruppe aus der „Spionageecke“ herauszuholen, in die sie Ende der 1960er-Jahre durch die „SPIEGEL“-Serie „Kennwort Direktor“ geraten war. Tuchels stiller Zorn angesichts der gezielten Bemühungen des DDR-Geheimdienstes, Schulze-Boysen und seine Freunde als sowjetische „Kundschafter“ erscheinen zu lassen, ist daher nur allzu verständlich. In dem Beitrag davor zeigt Claudia Fröhlich jene Mechanismen der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft und -justiz auf, die eine angemessene Rezeption des Widerstands erschwert haben. Solch kritisches Herangehen an die Geschichte des westdeutschen Teilstaats relativiert sich dann allerdings doch sehr angesichts der von Tuchel überzeugend geschilderten klaren Geschichtsklitterung in der DDR.

Insgesamt liegt ein Buch vor, wie man es von Johannes Tuchel erwartet hätte: ruhig, unaufgeregt, teils mit neuen Erkenntnissen, teils mit gelungenen Einordnungen – ein solider Beitrag zum Fortgang der Wissenschaft.

Detlef Bald hat auf Tuchels Kritik an seiner Monografie über die Weiße Rose mit einem Sammelband zum gleichen Thema reagiert. Die Auseinandersetzung mit Tuchels Zweifeln führt Bald nicht primär selbst – genau deshalb hat er vermutlich zum Medium eines Sammelbands gegriffen. Er lässt sie führen – von dem Kaufbeurener Gymnasiallehrer Jakob Knab etwa, der sich als geschliffener Kritiker der Bundeswehr-Traditionspflege einen Namen gemacht hat. Oder von Winfried Vogel, einem Brigadegeneral a.D., der ebenfalls kritisch über die Geschichte der Bundeswehr und ihrer Inneren Führung publiziert hat. Vogel wenigstens thematisiert die Kontroverse, tut Kritik an Balds Arbeit jedoch als „überflüssige[n], eitle[n] ‚Gelehrtenstreit‘“ ab (S. 73). In der Tat liegen Bald und Tuchel in ihrer jeweiligen Interpretation der Motive der „Weißen Rose“ ja gar nicht weit auseinander; wenn Tuchel aber reihenweise faktische Irrtümer und gezielte Weglassungen bemängelt, dann geht es eben um den Anspruch der Historiker auf Wissenschaftlichkeit, und das ist weder überflüssig noch eitel.

Bald selbst ist, wie gesagt, über solche Quisquilien erhaben – er zitiert die ausführliche Kritik Tuchels nicht einmal. Aber auch sonst ist seine Literaturauswahl fragwürdig. Bald nimmt für sich in Anspruch, als erster die militärischen Operationen der 252. Infanteriedivision (bei der die jungen Sanitätsfeldwebel eingesetzt waren) mit ihrer Widerstandstätigkeit in Zusammenhang gebracht zu haben. Diese Operationen aber schildert er unter Berufung auf ein Buch von Werner Haupt aus dem Jahre 1968 – also aus einer Zeit, als die Operationsakten der deutschen Divisionen noch gar nicht zur Verfügung standen. Nicht nur, dass die wiedergegebene Karte die Kämpfe bis April 1942 abbildet und die Münchner Studenten erst im Juli 1942 an der Ostfront eintrafen – man hätte ohnehin am besten zum Standardwerk „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“ gegriffen3 und schnell nach S. 900 eine detaillierte Karte „Die Lageentwicklung im Mittelabschnitt vom 30.7. bis 25.8.1942“ gefunden, auf der die 252. Infanteriedivision auch ebenso leicht zu finden ist wie der im Text wiederholt genannte Einsatzort Gžansk. Diese Karte benutzt Bald dann weiter hinten, in seinem Beitrag über Willi Graf, dort aber ohne korrekte Quellenangabe.

Letztlich werden an vielen Stellen die Grenzen des Erkennens deutlich: Immer wieder zitieren die verschiedenen Autoren dieselben knappen Sätze der Beteiligten – so sehr viel Material gibt es eben nicht. Und wo es nicht ausreicht, da muss Biografie durch Analogie herhalten: „Leider kennen wir bislang keine Aufzeichnungen von Alex, aber dass er ähnlich erschüttert war wie seine Freunde, dürfen wir annehmen.“ (Beitrag Vogel über Alexander Schmorell)

Der Mentor der Studentengruppe, Professor Dr. Kurt Huber, wird in einem Interview mit seinem Sohn Wolfgang Huber (nicht identisch mit dem Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland) vorgestellt. Danach gleitet der Band ab ins Allgemeine. Arno Lustiger breitet aus, was über den deutschen Antisemitismus seit langem bekannt ist. Karl Heinz Jahnke gießt zum tausendsten Mal unser Wissen über unterschiedlichste Formen oppositionellen Verhaltens wieder auf, ohne Kriterien der Zuordnung, Struktur oder Frageraster. Dazwischen verschwindet etwas eine kleine, aber lesenswerte Vignette von Manfred Messerschmidt über den Entscheidungsprozess, der dazu führte, dass die Soldaten aus dem Kreis der „Weißen Rose“ nicht vom eigentlich zuständigen Reichskriegsgericht, sondern vom Volksgerichtshof abgeurteilt wurden.

Es geht nicht um grundlegende Differenzen in der Bewertung der „Weißen Rose“. Vielmehr steht zur Debatte, ob der öffentliche Diskurs über Widerstand im „Dritten Reich“ wissenschaftlich-nüchtern oder mit volkspädagogischem Pathos geführt werden soll. „Es geht um wahre Wissenschaft und echte Geistesfreiheit“, hatte die „Weiße Rose“ in ihrem letzten Flugblatt gefordert. Der Sammelband von Johannes Tuchel wird diesem Anspruch gerecht, derjenige von Detlef Bald eher nicht.

Anmerkungen:
1 Tuchel, Johannes, „Von der Front in den Widerstand“? Kritische Überlegungen zu Detlef Balds Neuerscheinung über die „Weiße Rose“. Diskussion, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51 (2003), S. 1022-1045; Bald, Detlef, Die „Weiße Rose“. Von der Front in den Widerstand, Berlin 2003.
2 Bald, Detlef, Die Bundeswehr. Eine kritische Geschichte 1955-2005, München 2005; meine Rezension dazu in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 15.11.2005.
3 Heinemann, Winfried, Der militärische Widerstand und der Krieg, in: Echternkamp, Jörg (Hg.), Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 9/1: Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939-1945. Politisierung, Vernichtung, Überleben, Stuttgart 2004, S. 743-892, hier S. 743f.

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Der vergessene Widerstand
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