R. J. Walter: Politics and Urban Growth in Santiago, Chile, 1891-1941

Cover
Titel
Politics and Urban Growth in Santiago, Chile, 1891-1941.


Autor(en)
Walter, Richard J.
Erschienen
Anzahl Seiten
319 S.
Preis
$ 70.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christof Parnreiter, Institut für Geographie, Universität Hamburg

Chile ist heute mit einem Verstädterungsgrad von fast 90 Prozent nicht nur eines der Länder mit dem weltweit höchsten Anteil an Stadtbevölkerung, sondern auch einer der Staaten Lateinamerikas, in dem sich ein sehr hoher – und steigender – Anteil von Bevölkerung, Wirtschaft und sozialer Infrastruktur in der Hauptstadt Santiago zusammenballt. Wie wurde Santiago zu einer Stadt, die in Chile alle anderen hinter sich ließ? Diese Frage beantwortet Walter in einer Studie über die Stadtentwicklung in den fünf Jahrzehnten zwischen 1891, als zum ersten Mal eine Stadtregierung gewählt wurde, und 1941, als die erste Mitte-Links-Regierung Chiles mit dem Tod des gewählten Präsidenten Pedro Aguirre Cerda zu Ende ging. Walter zeichnet entscheidende Abschnitte von Stadtwachstum und –politik auf Basis einer großen Zahl von Primärquellen nach. Das Buch stellt, so viel sei vorweg genommen, eine Bereicherung der Literatur zur lateinamerikanischen Stadt dar: es ist faktenreich; es richtet sich an HistorikerInnen ebenso wie an StadtgeografInnen oder PlanerInnen; es ist gut lesbar, ohne den Verlockungen einer populärwissenschaftlichen Darstellung zu erliegen.

Walters Studie ist in 13 Abschnitte gegliedert. Drei sind der Zeit von 1891 bis 1920 gewidmet, vier den 1920er-Jahren, fünf den 1930er-Jahren und ein abschließendes Kapitel den frühen 1940er-Jahren. Zu jedem Jahrzehnt gibt es einen einführenden Überblick, auf den detailliertere Abschnitte folgen, deren Periodisierung sich an der politischen Geschichte der Stadt orientiert. Ein Schwerpunkt liegt auf dem öffentlichen Verkehr, weil, so Walter, dieses Thema nicht nur von großer Bedeutung für die Stadt, ihre BewohnerInnen und ihre jeweiligen Regierungen war, sondern auch, weil sich hier die Dynamiken lokalen Regierens besonders deutlich herausarbeiten lassen. Im – recht kurzen – Abschlusskapitel stellt Walter der Geschichte Santiagos die der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires gegenüber (einer Stadt, über die er vor wenigen Jahren ein ähnliches Buch verfasst hat), um insgesamt mehr Ähnlichkeiten als Divergenzen festzustellen.

Das Buch stellt für Interessierte an lateinamerikanischer Stadtentwicklung einen guten Einstieg dar. Für LeserInnen, die mit aktuellen Debatten der Stadtforschung vertraut sind, bietet es darüber hinaus eine interessante Blickerweiterung, die sich aus der historischen Betrachtungsweise ergibt. Die Erweiterung um die longue durée zeigt die Beständigkeit bestimmter stadtpolitischer Themen, was sich gut an den Problemen des öffentlichen Verkehrs erkennen lässt, die in den letzten Monaten ja auch von europäischen Medien berichtet wurden. Konflikte zwischen der Stadtverwaltung, der Straßenbahngesellschaft und deren Arbeitern ziehen sich durch die Geschichte Santiagos. Hauptstreitpunkte waren einerseits die von den Betreibergesellschaften gewünschten Fahrpreiserhöhungen, die diese mit den Lohnforderungen der Arbeiter rechtfertigten, und andererseits „conflicts, congestion, and confusion as they (Betreibergesellschaften von Taxis, Bussen und Straßenbahn) fought for the same passengers over many of the same routes“ (S. 209). Wer würde bei dieser Schilderung der 1930er-Jahre nicht an die heutigen „Wettrennen“ beispielsweise auf der O’Higgins denken?

Die Konflikte um den öffentlichen Verkehr in Santiago enthüllen aber auch ein weiteres Element der Geschichte der Stadt (und des Landes), nämlich den sogenannten „ökonomischen Nationalismus“, der in Chile auch heute eine im lateinamerikanischen Vergleich relativ große Rolle spielt. In den frühen 1920er-Jahren versuchte etwa die in britischen Besitz stehende „Chilean Tramway and Light Company“, durch eine Fusion mit einem neu gegründeten chilenischen Unternehmen, durch eine Umbenennung und durch die Berufung namhafter Chilenen in wichtige Positionen ihren (schlechten) Ruf als ausländischer Monopolist loszuwerden, um danach Fahrpreiserhöhungen besser durchsetzen zu können. Das misslang zwar; in einer Besprechung des Bandes fand die Business History Review aber in solchen Manövern Beispiele für die „origins of Chilean hostility to foreign-owned businesses”.

Walters Ausführungen zur residenziellen Segregation bieten ein Beispiel dafür, dass der historische Blick hilfreich für die aktuelle Stadtforschung ist. Lange dominierte in der (stadtgeografischen) Forschung das Bild, Santiago sei, wie andere lateinamerikanische Städte auch, eine sozialräumlich gespaltene Stadt, in der Reiche und Arme klar voneinander getrennt seien. Jüngere Arbeiten, die diesen Befund in Frage stellen, erhalten nun Schützenhilfe von Walter, der bereits für die Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert feststellt, dass „some of the worst housing […] could be found close to some of the best“ (S. 10). Das Bild wandelt sich bis zum Ende der in dem Band behandelten Zeit nicht: Avenida Independencia, eine der Straßen, in denen sich das Stadtwachstum der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts materialisierte, wird in den 1930er-Jahren in einem zeitgenössischen Bericht als eine sehr heterogene Gegend dargestellt. Ein anderer Beobachter beschreibt in den 1940er-Jahren eine Armensiedlung an den Ufern des Mapocho, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft zum Reichenbezirk El Golf befindet.

Auch die heute in Santiago geführte Debatte um die Amerikanisierung der Stadt(gestalt) stellt keine Neuheit dar: In den 1920er-Jahren und 1930er-Jahren wurden an mehreren Stellen so genannte Wolkenkratzer errichtet, die von den einen als Ausdruck von Modernität gefeiert, von den anderen aber wegen ihrer Monströsität abgelehnt wurden. Beide Seiten, und das ist hier der springende Punkt, sahen in den neuen Hochhäusern die Globalisierung dessen, was sie als US-amerikanische Architektur bezeichneten. So heißt es zustimmend in einem Bericht der Zeitschrift Zig-Zag, die Wolkenkratzer zeigten „the advance of North America towards the extreme south of South America“ (S. 149), während ein kritischer Bericht in der gleichen Zeitschrift monierte, dass die aus „Yankilandia“ (S. 148) importierten Gebäude Santiago von seiner Kultur und seiner Tradition entfremden würden.

Abschließend seien noch zwei kritische Punkte angeführt. Zum einen ergibt sich aus der Themenstellung des Buches – „Politics and Urban Growth“ – eine starke Schwerpunktsetzung auf die politische Ereignisgeschichte. Diese verliert sich zwar nur selten in langatmigen Aufzählungen; die Verflechtungen zwischen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen aber werden zu wenig herausgearbeitet. Auch die Verbindungen zwischen der lokalen und der nationalen Ebene, und das ist ein zweiter Schwachpunkt des Buches, werden nur oberflächlich angesprochen. Mit Schilderungen, dass Stadtpolitik in Santiago für zahlreiche Politiker sowohl Training als auch Sprungbrett für eine Karriere auf nationaler Ebene war, oder mit der etwas lapidaren Feststellung, dass Entwicklungen auf lokaler Ebene nationale Trends „spiegelten“ (S. 199), schöpft Walter das Potenzial, das in einer systematischen Mehrebenenanalyse liegen würde, leider nicht aus.

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