Cover
Titel
Dear Dr. Spock. Letters about the Vietnam War to America's Favorite Baby Doctor


Herausgeber
Foley, Michael S.
Erschienen
Anzahl Seiten
XI + 281 Seiten
Preis
$ 30.-
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Wilfried Mausbach Heidelberg Center for American Studies (HCA), Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Glaubt man den Verlautbarungen der gegenwärtigen amerikanischen Regierung, dann befinden sich die USA in einem Krieg auf Leben und Tod gegen den islamistischen Terrorismus, der nur durch die weltweite Verbreitung von (gottesfürchtiger) Freiheit und Demokratie gewonnen werden könne. Wer diese Mischung aus ideologischem Bedrohungsszenario und religiös-demokratischem Sendungsbewusstsein für eine Eigenart von George W. Bushs Amerika hält, kann sich durch die vorliegende Sammlung von Briefen aus der Zeit des Vietnamkrieges eines Besseren belehren lassen.

Die Geschichtsschreibung zum Vietnamkrieg ist längst kaum mehr zu überblicken, hat aber gleichwohl den schriftlichen Zeugnissen einfacher Leute bisher weit weniger Aufmerksamkeit geschenkt als jene Historikerinnen und Historiker, die seit geraumer Zeit verstärkt auf Feldpostbriefe zurückgreifen, um sich der Alltagsgeschichte der beiden Weltkriege zu nähern. Die durchaus vereinzelt publizierten Editionen zum Vietnamkrieg beschränken sich zudem auf die Perspektive des Soldaten im Felde. 1 Die hier von Michael S. Foley veröffentlichten Briefe erlauben hingegen einen faszinierenden Einblick in die Stimmung an der Heimatfront. Ihr entscheidendes Ausschlussprinzip ist zudem nicht ihr Absender, sondern ihr Adressat: Dr. Benjamin Spock.

Spock, im Zweiten Weltkrieg als Psychiater bei der US-Marine beschäftigt, verdankte seine Prominenz einem 1946 veröffentlichten Erziehungsratgeber, dessen Verkaufserfolg schließlich nur noch hinter der Bibel zurückblieb. Die Eltern der baby boomer Generation griffen scharenweise auf The Common Sense Book of Baby and Child Care zurück, um ihre Kinder großzuziehen. Schon in den 1950er Jahren erhielt Spock daher zehntausende von Briefen, die sich für seinen Rat bedankten oder zusätzliche Tipps einholen wollten. Im Wahljahr 1960 trat er gemeinsam mit Jacqueline Kennedy auf, um deren Mann zu unterstützen, und auch Kennedys Nachfolger konnte zunächst auf den populären Kinderarzt zählen. Lyndon Johnsons militärische Eskalation in Vietnam stieß freilich sehr bald auf den erbitterten und lautstarken Widerstand Spocks. Das veranlasste wiederum viele US-Bürgerinnen und Bürger, den bekannten Kritiker wahlweise zu ermuntern oder zu ermahnen.
Michael S. Foley, der an der City University of New York Geschichte lehrt und kürzlich bereits mit einer fundierten Studie über den Bostoner Widerstand gegen die Einberufung für den Vietnamkrieg hervorgetreten ist 2, hat im Nachlass Spocks, der an der Syracuse University verwahrt wird, tausende solcher Briefe aufgespürt und davon 218 für den vorliegenden Band ausgewählt. Geschrieben zwischen dem 15. Januar 1965 und dem 1. September 1972, ist allen diesen Briefen gemeinsam, dass sie an die Person Spocks anknüpfen: sei es, um in seiner Antikriegshaltung eine fortgesetzte Sorge um die Generation zu sehen, die sein Buch aufzuziehen half; sei es, um das ihm in der Kindererziehung entgegengebrachte Vertrauen nun auch auf seine Urteilsfähigkeit im politischen Bereich auszudehnen oder ihn ganz im Gegenteil zu mahnen, bei seinen Leisten zu bleiben; sei es schließlich, um in seinen Erziehungsratschlägen gleichsam die verhängnisvolle Aussaat für jene blühende subkulturelle und antiautoritäre Demonstrantenszene zu sehen, auf welche die Protestbewegung gegen den Krieg vielfach reduziert wurde.

Foley arrangiert die Briefe in chronologischen Kapiteln, nimmt aber innerhalb dieser Kapitel jeweils eine thematische Gliederung in drei bis vier Blöcke vor. Diese Blöcke orientieren sich entweder an der Unterscheidung zwischen regierungskritischen und eher regierungstreuen Stimmen oder an argumentativen Gemeinsamkeiten (Antikommunismus; Strategievorschläge) oder auch an sozialen Merkmalen ihrer Autoren (Eltern in Sorge um eigene Kinder in Vietnam; Betroffene von Einberufungsbescheiden und aktive Soldaten). Obwohl Foley in einer Stichprobe aus dem Gesamtkorpus der Briefe eine annähernd gleiche Zahl weiblicher und männlicher Autoren vorfand, machen letztere in der vorliegenden Auswahl nur ein knappes Drittel aus. Dies ist zunächst nicht weiter verwunderlich, waren es doch vor allem Frauen aus der Mittelschicht, die in den ausufernden amerikanischen Vorstädten der 1950er Jahre wieder stärker auf den häuslichen Bereich zurückverwiesen wurden und bei der Erfüllung der ihnen zugewiesenen Erziehungspflicht auf Dr. Spock und seinen Ratgeber vertraut hatten. Es ist gleichwohl interessant zu sehen, wie Frauen hier das von Spock verkörperte Scharnier zwischen den ihnen traditionell zugewiesenen weiblichen Pflichten und dem politischen Bereich nutzten, um sich einzumischen (ähnlich wie dies im 19. Jahrhundert Abolitionistinnen und Abstinenzaktivistinnen getan hatten). Dabei wird gelegentlich deutlich, dass Zeitersparnis durch moderne Haushaltsgeräte, suburbane Isolation und moderne Massenkommunikationsmittel derart zusammenwirkten, dass diese mittelständischen Frauen politisch durchaus besser informiert sein konnten als ihre Männer (vgl. Nr. 25).

Gleichzeitig räumen diese Briefe mit dem Vorurteil auf, Frauen seien per se pazifistischer als Männer. Zuweilen fließen gerade in ihren Briefen religiös unterfütterter Antikommunismus, ideologische Bedrohungsszenarien und gängige Männlichkeitsideale ineinander. So empörte sich Mrs. A. E. über Spocks zivilen Ungehorsam vor einem Einberufungsamt und fuhr fort: “When my husband teaches my sons to catch a fish or when he takes them into the woods and teaches them to identify animal tracks […], I look on with pride and say to myself, ‘My sons will be men.’ If when my sons reach draft age, the forces of Communism are still trying to enslave the world [and] put an end to men’s believe in God […], then I will encourage them to go and fight for the freedom of their country” (Nr. 116; vgl auch Nr. 35, 51, 166).
Immer wiederkehrende Topoi in den Briefen sind auch der Glaube an eine weltweite amerikanische Verantwortung für Freiheit und Demokratie (Nr. 106: „I am proud to be in the generation of Americans that will show the world that the United States of America will offer freedom and protection to any nation on earth.“ Vgl. auch Nr. 100-101) und der Vorwurf, bei Kritik handele es sich um Verrat, der dem Feind in die Hände spiele (z.B. Nr. 8, 53, 92, 93, 110). Ebenso wird aber immer wieder das Recht auf freie Meinungsäußerung eingeklagt (s. Nr. 41, 62, 71, 154, 202) und Kritik am Einberufungssystem und an der Wehrpflicht überhaupt geübt (Nr. 54, 149-157, 160, 188-192, 197, 214-215). 3

Nicht recht einzusehen ist, warum Micheal Foley in diesen Stimmen nun tatsächlich jene „silent majority“ sehen will, die sich nicht öffentlich artikulierte und die US-Präsident Richard Nixon deshalb umstandslos seinem eigenen Lager zuschlug. So verständlich es sein mag, dieser Anmaßung auch nachträglich noch entgegenzutreten, so wenig ist damit gewonnen, die grundsätzlich problematische Formel schlicht umzuwidmen. Zudem schwiegen die Autorinnen und Autoren der vorliegenden Briefe ja gerade nicht. Vielmehr lässt sich ihren Zeilen häufig entnehmen, dass sie ihre Meinung keinesfalls allein gegenüber Dr. Spock äußerten (vgl. Nr. 2, 24, 41, 71-72, 80, 107, 109). Darüber hinaus wirft gerade die erfreuliche Vielschichtigkeit dieser Briefe die Frage auf, in Bezug auf welchen Gegenstand hier denn überhaupt von einer Mehrheit gesprochen werden kann.
In der bündigen Einleitung des Herausgebers kommt die sozial- und kulturgeschichtliche Einordnung des Phänomens Dr. Spock ein wenig zu kurz. Spock verdankte seine Popularität nicht zuletzt der Flut an billigen Taschenbüchern, die nach dem Krieg auf den amerikanischen Markt schwappte, und auch die Breitenwirkung seines späteren Protests – ebenso wie die Rezeption des Vietnamkrieges in der amerikanischen Bevölkerung überhaupt – hing ganz wesentlich von den modernen Massenkommunikationsmitteln ab, die das Alltagsleben der Amerikaner in den 1950er und 1960er Jahren nachhaltig veränderten. Dass die Menschen gleichwohl immer noch zu Papier und Stift oder Schreibmaschine griffen, um sich mitzuteilen, während seit den 1970er Jahren interaktive Radio- und Fernsehformate mündlichen Äußerungen größeren Raum gaben und E-Mail und Blogs am Ende des 20. Jahrhunderts extrem kurzlebige Formen der Schriftlichkeit etablierten, stellt die Briefe in ein ganz spezielles Zeitfenster und verleiht dieser aufschlussreichen Veröffentlichung einen zusätzlichen Reiz.

1 Vgl. Marks, Richard E., The Letters of Pfc. Richard E. Marks, USMC, Philadelphia 1967; Breckstone, V. L.; Stone, John F.; Wilson, Philip (Hg.), Front Lines: Soldiers’ Writings from Vietnam, New York 1975; Edelman, Bernhard (Hg.), Dear America: Letters Home from Vietnam, New York 1985; Adler, Bill (Hg.), Letters from Vietnam, New York 2003. Über diesen Kreis hinaus geht eine erinnerungspolitisch interessante Sammlung: Palmer, Laura (Hg.), Shrapnel in the Heart: Letters and Remembrances from the Vietnam Veterans Memorial, New York 1988.
2 Foley, Michael S., Confronting the War Machine: Draft Resistance during the Vietnam War, Chapel Hill 2003.
3 Diese Kritik ist kürzlich auch als gemeinsames Substrat der zahllosen Briefe ausgemacht worden, die das amerikanische Kriegsministerium nach der Verurteilung von William Calley, des Hauptangeklagten im Prozess um die Kriegsverbrechen von My Lai, erreichten. Vgl. Greiner, Bernd, „The silent majority is beginning to speak and we beg the officials to listen“: Die amerikanische Debatte um Kriegsverbrechen in Vietnam, in: Amerikastudien/American Studies 49 (2004), 349-366.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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