J. Kusber: Eliten- und Volksbildung im Zarenreich

Titel
Eliten- und Volksbildung im Zarenreich während des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Studien zu Diskurs, Gesetzgebung und Umsetzung


Autor(en)
Kusber, Jan
Erschienen
Stuttgart 2004: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martina Winkler, Deutsches Historisches Institut, Moskau

Das 18. Jahrhundert wird im Allgemeinen als das Jahrhundert der Aufklärung verstanden, und Aufklärung wiederum steht in erster Linie für Bildung. Umso erstaunlicher ist es, dass in der Russlandforschung die Geschichte der Bildung im 18. und frühen 19. Jahrhundert bisher so stiefmütterlich behandelt wurde. Ebenso wie in Bezug auf viele andere Themen und Fragestellungen wird auch hier diese Zeitspanne im Vergleich zum späten 19. Jahrhundert weitgehend vernachlässigt, und so geht der Blick auf die Anfänge vieler Entwicklungen verloren.

Jan Kusber konzentriert sich nun in seiner Habilitationsschrift auf dieses in vielfacher Hinsicht zentrale Thema. Explizit verfolgt er dabei einen Ansatz, der „institutionelle, soziale und ideengeschichtliche Fragestellungen kombiniert“, und vermeidet so das allzu einseitige Mitschwimmen auf modischen Historiografiewellen. Was das Buch verspricht, das hält es auch: Kusber untersucht sich wandelnde Bildungskonzepte ebenso wie deren institutionelle Umsetzung und soziale Reichweite. Seine zentrale Fragestellung richtet sich auf den Anteil von Bildung bei der Formierung eines neuen „Sozialkörpers“.

Vier Bereiche sind entscheidend für die Entwicklung von Bildungsangeboten in Russland: Kirche, Militär, Familie und der Staat. Während all diese Bereiche selbstverständlich bereits unter verschiedenen Gesichtspunkten einzeln untersucht worden sind, kommt diesem Buch das Verdienst zu, sie systematisch zusammenzufassen und nach ihrem Verhältnis und ihren Wechselwirkungen zu fragen.

Kusber stellt dabei die Frage in den Mittelpunkt, welche Konsequenzen die Reformen insbesondere des 18. Jahrhunderts hatten, und betont, ohne dabei über sein Ziel hinauszuschießen, die Erfolge und langfristigen Wirkungen der Pläne und Initiativen. Öffentlichkeit und Elitenformung, sozialer Wandel und konsequente Verwestlichung des Denkens sind hier die Schlagworte. Auf sehr breiter Quellenbasis zeichnet Kusber hier ein nicht unbedingt spektakuläres, aber doch deutlich neu akzentuiertes Bild von der Bedeutung der Bildungsdiskurse des 18. und frühen 19. Jahrhunderts.

Als eine entscheidende Entwicklung des 18. Jahrhunderts wird ein Umdenken in Bezug auf Bildung deutlich: Obwohl selbstverständlich nicht von einer wirklich konsequenten Umsetzung des meritokratischen Leistungsprinzips seit Peter gesprochen werden kann, setzte sich doch die Vorstellung durch, Qualifikation sei entscheidend für Karriere. Die Identifikation des Adels mit dem Staatsdienst bezog mehr und mehr auch ein Selbstverständnis als Bildungselite ein. Hier erscheint die multiplikatorische Funktion der Schulabgänger verschiedener Institutionen seit den Zeiten Peters von großer, bisher wohl oft unterschätzter Bedeutung.

Auch wenn einige Reformversuche keinen unmittelbaren Erfolg zeitigten, ist doch eine voreilige Negativbilanz häufig ebenso wenig angebracht. So endeten beispielsweise die Ziffernschulen keineswegs in einer Sackgasse, sondern gingen in den Garnisonsschulen auf.

Die Entwicklung einer Öffentlichkeit wird eindrucksvoll deutlich in den Diskussionen um das Konzept Bildung, wie Kusber sie für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts nachverfolgt. Die Einbeziehung von Mädchen und verschiedenen sozialen Schichten in die Schulbildung entsprach den gesamteuropäischen Debatten über Erziehung und Bildung. Wenn die Bildungspolitik und Erziehungskonzepte, ob staatlich oder, wie im späten 18. Jahrhundert, auch zunehmend privat motiviert, insgesamt unsystematisch und häufig inkonsequent erscheinen, so macht Kusber doch auch überzeugend deutlich, wie komplex und mit wieviel verschiedenen anderen Reform- und Gesetzgebungskonzepten der Zeit die Entwicklungen verknüpft waren.

Den Diskussionen und Bemühungen wird so kein ex-post Modell übergestülpt, das dann als erfüllt oder – was wahrscheinlicher ist – verfehlt diagnostiziert wird.

Stattdessen wird eine Entwicklung deutlich, nämlich der Versuch, am Ende des Jahrhunderts ein flächendeckendes Bildungssystem einzuführen und nicht mehr nur „Inseln der Bildung“ besonders in Moskau und St. Petersburg zu fördern. Dem Schulstatut von 1786 widmet Kusber dementsprechend ein umfangreiches Kapitel, das der eher klassischen Bilanz des Scheiterns – die Zahl der Schulen war für die Bevölkerung Russlands sehr niedrig – ein anderes Fazit entgegensetzt: Die Systematik der Bildungseinrichtungen, die Idee einer flächendeckenden Bildung sowie die Kooperation von Institutionen und Eliten können als neu und auch als Erfolg betrachtet werden.

Einem klassischen Argument der historischen Russlandforschung, die Elitendiskurse gern als isoliert und unwesentlich betrachtet und die seit Peters Zeiten bestehende Kluft zwischen Adel und Bauern für unüberwindlich hält, stellt Kusber das Bild einer Brücke gegenüber: Die Gräben, so schreibt er, seien durch das Schulsystem nicht aufgehoben worden; man habe jedoch eine „begehbare Brücke“ geschaffen. Soziale Mobilität hing spätestens jetzt deutlich mit Bildung zusammen.

Am Ende des 18. Jahrhunderts sieht der Autor deutliche Zäsuren, die sich konkret vor allem an der Französischen Revolution und an der polnischen Teilung von 1795 festmachen lassen. Neue Herausforderungen zeitigten eine neue Politik, und unter neuen Bedingungen strebte man Reform und Ausbau der bestehenden Institutionen an.

Als „Auflösung des Diskurses“ bezeichnet Kusber die Entwicklung in den ersten zwei Dekaden des 19. Jahrhunderts. Reaktion und Erneuerung, Bildungsdiskussionen an Universitäten und religiöse Bewegungen sowie neue politisch ambitionierte Gruppen mit dem Ziel der Ausweitung von Bildungschancen bestimmten den vielstimmigen Diskurs. Obwohl die konzeptionelle Bindung von Schul- und Universitätskonzepten mehr denn je an Pläne für den Staatsaufbau gebunden waren, verlor der Staat selbst in dieser Zeit sein Monopol über die Planung von Bildung.

Auf dieser Basis musste die nikolaitische Bildungspolitik aufbauen, und hier verknüpfte sich ein bürokratisches, detailorientiertes Vorgehen mit autokratischer Politik; beides musste sich mit einer mittlerweile entwickelten und vielfältigen Öffentlichkeit auseinandersetzen.

Was Kusber in Fragestellung, Ansatz und Fazit überzeugend betont, ist die Notwendigkeit einer langfristigen Perspektive. Diese Betrachtungsweise macht es ihm möglich, im Schlusswort von „Nachhaltigkeit“ und deutlichen gesellschaftlichen Veränderungen in Bezug auf Bildungspolitik, Bildungskonzepte und, ja, Bildung in Russland zu sprechen. Gerade die fehlenden Möglichkeiten der Regierung Nikolaus´ I. zu einer Kontrolle der Gesellschaft gaben den unter Katharina entwickelten Vorstellungen und Realitäten von Individuum und Öffentlichkeit genug Raum, eine eigene Dynamik zu entfalten. Bildung bedeutete für viele Mitglieder der Eliten eben nicht nur „Ausbildung“, sondern auch selbstständiges Denken und Gestalten. So schufen Bildungskonzepte und -politik trotz aller Schwierigkeiten langfristig Gesellschaft, Wissen und Identitäten.

Während viele „revisionistische“ Vorstellungen von Russland, die ein traditionelles Rückständigkeitsbild in Frage stellen, sich eher auf Details und ein bewusst enges Feld konzentrieren, wird im Buch von Kusber deutlich, dass gerade auch das Konzept einer – wenn auch nicht übermäßig langen – longue durée neue Perspektiven schaffen kann. Die von Hildermeier vor zwei Jahren aufgestellte These, man dürfe, um Katharinas Reformen beurteilen zu können, den Blick nicht nur auf das späte 18. Jahrhundert richten, sondern müsse eine Linie zwischen Katharina und der Zeit der Reformen der 1860er-Jahre ziehen 1, wird hier eindrucksvoll bestätigt und illustriert.

Obwohl mancher Leser sich mitunter eine etwas lebendigere und weniger trockene Sprache wünschen mag, ist dies ein wichtiges und sehr reiches Buch, an dem Lehre und Forschung nicht vorbeikommen werden.

Anmerkungen:
1 Hildermeier, Manfred, Traditionen "aufgeklärter" Politik in Russland, in: Historische Zeitschrift 276 (2003), S. 75-94.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension