L. Kenis u.a. (Hrsg.): The Transformation of the Christian Churches

Cover
Titel
The Transformation of the Christian Churches in Western Europe (1945-2000).


Herausgeber
Kenis, Leo; Billiet, Jaak; Pasture, Patrick
Reihe
KADOC Studies on Religion, Culture and Society 6
Erschienen
Anzahl Seiten
352 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benjamin Ziemann, Department of History, University of Sheffield

Der vorliegende Band ist auf den ersten Blick eine leichte Enttäuschung. Der Titel verspricht Aufschlüsse über die Transformation der christlichen Kirchen seit 1945. Aber die protestantischen Kirchen werden in keinem einzigen Beitrag substanziell behandelt. Zwei Beiträge zur Entwicklung der ökumenischen Idee (von Anton Houtepen und Hans Ucko), in der zweiten, „Some Basic Issues in Postwar Church Life“ betitelten Sektion, nehmen Lutheraner und Reformierte zumindest indirekt in den Blick. Aber dies geschieht bei Houtepen mehr aus theologischer Perspektive denn in historisierender Absicht und bei Ucko vornehmlich mit Blick auf die ökumenische Arbeit des seit 1948 in Genf angesiedelten „World Council of Churches“. Die Beiträge der dritten Sektion des Bandes widmen sich zur Gänze der Rezeption des Zweiten Vatikanums – in der Kurie selbst, bei den Katholischen Orden und aus der Perspektive protestantischer Theologie. Insgesamt geht es also beinahe ausschließlich um die katholische Kirche. Das versteht sich in gewisser Hinsicht von selbst, lehren doch alle drei Herausgeber an der Katholischen Universität in Leuven. Aber einige einschränkende Hinweise in der konzisen Einleitung von Patrick Pasture und Leo Kenis, die zentrale Themen der gegenwärtigen religionsgeschichtlichen Forschung für die Zeitgeschichte nach 1945 umsichtig diskutiert, hätten die Enttäuschung etwas gemildert.

Auch Westeuropa als im Titel angezeigter geographischer Rahmen des Bandes wird nur sehr selektiv behandelt. Belgien, Frankreich und die Niederlande stehen empirisch im Zentrum der meisten Beiträge. Die katholischen Kirchen in der Bundesrepublik und in Italien (von der Kurie abgesehen) werden lediglich in zwei Beiträgen behandelt, und dort nur ausschnitthaft. Mit Irland, Spanien, Portugal und Österreich werden gleich vier wichtige katholische Länder Westeuropas überhaupt nicht thematisiert. Gewiss, im Rahmen eines vergleichenden Sammelbandes lässt sich eine wirklich gleichmäßige geographische Behandlung nur ausnahmsweise realisieren. Aber dennoch fehlen hier wichtige Gesichtspunkte für einen systematischen Vergleich der Entwicklungspfade katholischer Kirchen in Westeuropa seit 1945 im Spannungsfeld von Säkularisierung und Verkirchlichung.

Es ist allerdings auch von den wichtigen substanziellen Beiträgen und inhaltlichen Perspektiven zu sprechen, die der Band eröffnet. Sie finden sich vor allem in der umfangreichen ersten Sektion, die sich den „Continuities und Discontinuities in Religiousness“ widmet. Besonders ist Hugh McLeod zu nennen, der die seit den 1960er-Jahren erkennbare Krise der Kirchen in Westeuropa in längere historische Zusammenhänge einordnet und dabei Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit früheren Einbrüchen in der organisierten Christlichkeit herausarbeitet. Entscheidende Unterschiede in der Situation seit den 1960er-Jahren bestehen McLeod zufolge in der starken Abschwächung der Verbindungen zwischen Religion und Politik sowie in der Homogenisierung von Lebensstilen in den westlichen Industriegesellschaften seit 1945, welche die spezifische Verknüpfung von Klasse, Religion und regionalem Milieu auflöste. In Anknüpfung an Robert Wuthnow arbeitet Jon Butler in einem brillanten, vergleichenden Überblicksartikel zu den USA die „amalgamation of religion with a strongly general sense of politics“ als Kernmerkmal der dortigen religiösen Szene heraus (S. 163). Die Unterschiede und Identitätsmarkierungen zwischen den Denominationen haben demnach gegenüber einer Zuordnung zu politischen Flügeln an Bedeutung verloren. Glaubensbekenntnisse und doktrinäre Unterschiede treten zugunsten von breit konzipierten Wertemodellen zurück, die als liberal, konservativ oder moderat beschrieben werden.

Gerd-Rainer Horn fasst seine Forschungen zum Linkskatholizismus vor allem in Frankreich, Belgien und Italien von 1945 bis zum Vatikanum zusammen.1 Figuren wie Don Primo Mazzolari, Jacques Maritain oder Don Zeno Saltini sind inmitten der Erfolgsgeschichte des christdemokratischen Konsensmodells oft vergessen worden. Dass dazu kein Anlass besteht, zeigt Horn in einer umsichtigen Analyse der von diesen und anderen Exponenten einer der Hierarchie kritisch gegenüberstehenden Strömung entworfenen Ideen und praktischen Reformexperimente. Worin aber besteht die historische Bedeutung dieser Strömung? Gewiss, manche von ihnen, wie Marie-Dominique Chenu, beeinflussten als Berater von Bischöfen aus Afrika zumindest indirekt die Verhandlungen des Zweiten Vatikanums (S. 88). In politischer Hinsicht formulierten sie „historical alternatives“ zu De Gasperi und anderen Christdemokraten (S. 94). Wichtiger noch erscheint mir, dass die Exponenten des Linkskatholizismus unkonventionelle und alternative Formen der Frömmigkeit und Spiritualität lebten und vergemeinschafteten – wie Don Zeno Saltini in der Stadt Nomadelfia, die 1952 auf Intervention des Vatikans geschlossen werden musste. Damit avancierten sie indirekt zu Vorläufern des Vatikanums, antizipierten aber mehr noch den wichtigen Trend zu einer Pluralisierung der Frömmigkeitsstile und katholischen Gemeinschaftsformen, der seit den 1960er-Jahren zu beobachten ist.

Die Pluralisierung von Moralnormen und Wertvorstellungen ist eines der Themen, die auch in dem Aufsatz von Lodewijk Winkeler anklingen. Dieser fasst hier seine bahnbrechenden, auf einer aufwändigen historischen Netzwerkanalyse beruhenden Forschungen zu katholischen Intellektuellen und humanwissenschaftlichen Experten in den Niederlanden erstmals in englischer Sprache zusammen. Katholische Pädagogen, Psychologen und Psychiater waren, als Vertreter der Bewegung für eine „geestelijke volksgezondheid“, bereits in den frühen 1950er-Jahren mit der Inadäquatheit eines rigiden Korsetts von Moralnormen vertraut. Durch ihre intensive Vernetzung und nachhaltige institutionelle Verankerung in ‚Thinktanks’ wie PINK und KASKI nahmen katholische Experten aus diversen Humanwissenschaften entscheidenden Einfluss auf den progressiven Reformkurs der niederländischen Kirche in den 1960er-Jahren. Winkeler zeigt aber auch die Grenzen und Bruchstellen des zunehmend radikaleren intellektuellen Engagements in der Kirche auf, die seit 1968 zur Entfremdung von einer eher gemäßigten Strömung innerhalb des Kirchenvolkes führten.

Wilhelm Damberg und Patrick Pasture diskutieren die Restauration und Erosion des versäulten Katholizismus in Westeuropa. Dieser Beitrag leidet unter begrifflichen Unschärfen und der empirisch äußerst fragwürdigen Entscheidung, die Gültigkeit einer von den Autoren wohl missverstandenen Säkularisierungsthese erst seit den 1960er-Jahren anzusetzen. Für die erste Dekade seit 1945 nehmen Damberg und Pasture eine erneuerte Austrahlungskraft und Festigkeit des katholischen Milieus an. Sie formulieren dies zwar nicht so entschieden, wie es in der Einleitung geschieht, wo es für die Zeit um 1950 heißt, dass die christlichen Kirchen das Leben von Millionen Menschen „probably more intensively than ever before in history“ beeinflusst hätten (S. 7). Aber in leicht abgeschwächter Form vertritt auch der Beitrag von Damberg und Pasture diese These (S. 56, S. 61ff.). Sie ist, um dies deutlich zu sagen, unhaltbar. Abgesehen davon, dass keine empirischen Kriterien angegeben werden, die die These bestätigen könnten, ignoriert sie (neben vielen weiteren Befunden) die Hinweise alarmierter Beobachter in Frankreich, Deutschland und anderen Ländern, die bereits unmittelbar vor oder nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges von einer dramatischen Schwächung der sozialen Substanz des christlichen Glaubens ausgingen. Sie sprachen deshalb, wie Ivo Zeiger SJ dies für Deutschland formulierte, von einem „Missionsland“.2 Die Christdemokratischen Parteien als Beleg für eine Erneuerung des Milieus heranzuziehen, wie Damberg und Pasture es tun, ist verfehlt. Diese Parteien waren Agenten der Säkularisierung, da sie klerikale Beeinflussung überwanden, auf der Basis einer strikten Trennung von Religion und Politik zuallererst auf Machterhalt zielten und auch in ihrer Operationsweise jegliche religiöse Unterfütterung konterkarierten. Nichts demonstriert dies besser als die Tätigkeit von Funktionären der erfolgreichsten Partei Westeuropas, der CDU, auf Kreisebene. In protestantischen Regionen übernahmen vor allem ehemalige Offiziere der Wehrmacht solche Posten – einer Organisation, die sich nicht gerade der Förderung des Christentums verschrieben hatte.3

Fazit: Der vorliegende Band versammelt wichtige Forschungen zur Transformation der katholischen Kirche in ausgewählten Ländern Westeuropas seit 1945. Neben wegweisenden Arbeiten finden sich allerdings auch manche begrifflichen Unschärfen und empirisch fragwürdige Thesen. Angemerkt sei schließlich, dass ein besseres Lektorat den Leser, um nur ein Beispiel zu nennen, vor einem zudem einem falschen Autor zugeschriebenen Terminus wie „Fundamentalpolarisiering“ (S. 56 – gemeint ist „Fundamentalpolitisierung“) bewahrt hätte.

Anmerkungen:
1 Vgl. ausführlich Gerd-Rainer Horn, Western European Liberation Theology. The First Wave (1924–1959), Oxford 2008.
2 Vgl. Henri Godin / Yvan Daniel, La France, pays de Mission?, Paris 1943; Ivo Zeiger, Um die Zukunft der katholischen Kirche in Deutschland, in: Stimmen der Zeit 141 (1947/48), S. 241-252, Zitat S. 245.
3 Frank Bösch, Funktionäre in einer funktionärsfeindlichen Partei, in: Till Kössler / Helke Stadtland (Hrsg.), Vom Funktionieren der Funktionäre, Essen 2004, S. 265-282, hier S. 274.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch