Mit Blick auf die gegenwärtig stockenden Gestaltungsprozesse in der EU verweist bereits der Titel des Buches von Gerhard Wagner auf eine oft unreflektierte Facette des Europäischen Einigungsprozesses. Wagner versteht Europa als ein Projekt; dieses ist als solches in erster Linie sozial konstruiert. „Europa ist [...] eine Konstruktion, räumlich und sozial, oder besser gesagt: eine Reihe von Konstruktionen, die ungefähr vor drei Jahrtausenden begonnen hat.“ (S. 93) Diese „projekthafte“ Lesart schließt das Aushandeln von räumlichen und sozialen Verhältnissen ebenso wie Fortschritte, Rückschritte und Stagnationen im Gestaltungsprozess mit ein und bildet so Grundlage für eine Erörterung, die Europa nicht als feste Einheit sondern als dynamische Vielfalt begreift. Europa als Projekt muss selbstverständlich auch als die Konstruktion eines gemeinsamen identitätsstiftenden Wirtschafts- und Sozialraumes verstanden werden. Der Verlauf der jüngeren wie der älteren europäischen Geschichte lehrt, dass diese Identitätsbildung gleichzeitig integrativ und distinktiv verläuft. Zu zeigen, wie die „Projektidentität“ Europas sich über integrative und distinktive Prozesse gebildet hat und weiterhin herausbildet, ist die „Aufgabe“, welche Wagner seinem Buch voranstellt (S. 9).
Die konstruktivistische Auslegung Europas als Projekt setzt bereits in sinnlogischer Weise eine Erfindung voraus. Wagner sieht deshalb auch im Blick auf die Geschichte eine „Tradition der Erfindung“ Europas, die er aufgrund ihrer mangelnden geografischen Einheitlichkeit notwendigerweise in Form eines „pseudogeografischen“ Charakters illustriert. Die Erfindung Europas, als eine Antwort auf die Frage nach der sozialen Konstruktion Europas, beginnt bereits mit der Mythologie der alten Griechen. Sie findet ihr vorläufiges Ende und ihren Höhepunkt im 19. Jahrhundert, wo sich Europa als Zentrum der Welt denken und fühlen kann. Eng verwoben mit dieser Auffassung Europas als Zentrum der Welt ist die Genesis der bürgerlichen Gesellschaft. Ihr liegt das Modell des autonom handelnden und besitzenden Subjekts zugrunde; sie breitet sich durch den ständig fortschreitenden Handel und Verkehr immer mehr aus. „Tatsächlich ist diese Gesellschaft ihrer Idee nach unbegrenzt.“ (S. 63) Bürgerliche Gesellschaft kann in ihrer Dynamik also tendenziell als Weltgesellschaft verstanden werden; sie steht allerdings der Konstruktion Europas aufgrund ihrer Unbegrenztheit als Herausforderung entgegen.
Vollzieht sich die Geburt Europas bereits im griechischen Mythos, so liefert Wagner mit der Betrachtung Polens als „Christus der Nationen“ (S. 29) ein triftiges Beispiel wie auch Nationen aus einem Mythos konstruiert werden können. Die Crux der Wagnerschen Analyse ist jedoch das kulturelle Gedächtnis. Sowohl der Mythos, wie die kulturelle Konstruktion Europas und der Nation sind alle Bestandteile bzw. Kristallisationen im kulturellen Gedächtnis.
Das ursprünglich von dem französischen Soziologen Maurice Halbwachs 1 in seiner Kollektivpsychologie ausgearbeitete Konzept wurde vor wenigen Jahren bereits vom Ägyptologen Assmann 2 zur Schilderung der sozialen Konstruktion von Vergangenheit aufgegriffen. Es bildet auch den Argumentationsrahmen für Wagner. Wagner versteht das kulturelle Gedächtnis als eine durch Zerdehnungen von Kommunikationssituationen entstandene Entkopplung von Information und Interaktion (S. 17). Folgerichtig konstituiert sich in dieser Auffassung Europa vornehmlich als Mnemotop. Denn: „Ebenso wie das Individuum sein Selbst possessiv durch Inbesitznahme von Gütern bildete, sollte sich die zur Nation aufwerfende bürgerliche Gesellschaft ihre Identität durch ein Anhäufen von Besitztümern begründen.“ (S. 129) Was für die Nation Gültigkeit besitzt, kann auch für das supranationale Gebilde Europa gültig gemacht werden. Der Ort, in dem sich der Inhalt des kulturellen Gedächtnisses widerspiegelt, ist u.a. das Museum. Das Modell des Europa-Museums fungiert demzufolge als Konstrukteur einer Identität durch die Konservierung von Tradition. Anders als noch im 19. Jahrhundert seien die Hauptakteure in diesem Konstruktionsprozess jedoch gerade nicht die Intellektuellen, die sich damals wie heute zwar moralisch integer aber fachlich inkompetent zum politischen Geschehen äußerten (S. 9). Wagner schildert dies am Beispiel der tiefen Verankerung der „poetischen Logik“ des polnischen Dichters Mickiewicz in der polnischen Gesellschaft. Das Beispiel Polen erscheint deshalb gut gewählt, weil es sich aufgrund seiner Geschichte stark über seine kulturelle Eigenart definiert. Einen weiteren Aspekt für die These, dass sich die alltägliche Konstruktion einer europäischen Identität über den Kreis der Intellektuellen ausgeweitet hat, sieht Wagner im Kulturtourismus, dessen theoretische Aufarbeitung aber noch ausstehe (S. 139).
Wagners Buch ist ein Plädoyer für eine Metaphorologie.3 Er greift die von Blumenberg für den Bereich der Philosophie eingeforderte Reflexion der Konstruktion von Metaphern auf und überträgt diese in den sozialwissenschaftlichen Bereich. Im Bezug auf die Identität Europas ist die Feststellung dann die, dass das kulturelle Gedächtnis eine Vielzahl an Metaphern beherbergt, wie auch die soziale Konstruktion der Welt in weiten Teilen auf Metaphern beruht. So verstanden ist Mieckiewicz poetische Logik eine Metapher zum Zweck der Konstruktion nationaler Identität. Den großen Bestandteil an Metaphern im wissenschaftlichen Denken exemplifiziert Wagner am Beispiel des Körpers bzw. am Begriff des Corpus. Liegt dessen Ursprung in der christlichen Symbolik (S. 57), findet er schließlich auch Einzug in der Soziologie und dient noch Durkheim wie Parsons in Analogie als Beschreibung der Gesellschaft. Die Schiffsmetapher Großbritanniens (S. 74f.) führt Wagner schließlich wieder zurück zu Europa, indem er dieses im Spannungsverhältnis zwischen Nation und Weltgesellschaft deutet. In diesem Bild löst sich Großbritannien als Nation von seiner räumlichen Fixiertheit, in dem es Kurs aufs offene Meer nimmt. Theoretisch rekonstruiert Wagner, wie schon Blumenberg 4, die von Vico mit Descartes geführte Auseinandersetzung um die Legitimität von Metaphern und verknüpft diese geschickt mit der Theorie des kulturellen Gedächtnisses und einem Identitätskonzept in Anlehnung an Castell.
Das Buch Wagners ist nicht als eine weitere Begriffs- oder Ideengeschichte Europas zu lesen. Seine Stärke ist, dass es neben dem Aufgreifen des Konzeptes der kulturellen Gedächtnisse und der Eröffnung einer Metaphorologie aus kultursoziologischer Perspektive die Ebenen der sozialen Konstruktion und Identitätsstiftung Europas aufzeigen kann. Dabei begreift Wagner die europäische Identität konsequent als eine im Spannungsverhältnis von Nation und Weltgesellschaft stehende Konstruktion, deren Entwicklung mit soziologischen Methoden rekonstruierbar ist. Mittels eines wissenssoziologisch-konstruktivistischen Ansatzes gelingt es ihm so die mythischen und metaphorischen Grundlagen des Projektes Europa offen zu legen. Die gegenwärtig diskutierte Frage einer europäischen Identitätsbildung wird von Wagner einerseits auf diese Metaphern und Mythen zurückprojiziert, andererseits auf die noch im Entstehen begriffenen neuen Mnemotope des Kulturtourismus und „Europa-Museums“ gelenkt. An diesem Punkt bietet sich die Möglichkeit künftige Forschung anzuschließen ebenso, wie es gleichzeitig die Wiederaufnahme des Konzeptes des kulturellen Gedächtnisses in eine breite sozialwissenschaftliche Theoriediskussion einfordert. Für die Praxis der politischen Gestaltung Europas ist aus dem Text zu folgern, dass eine gelungene Weiterführung des Projektes Europas die Aufgabe berücksichtigen muss, europäische Erinnerungsräume zu schaffen. Denn die Betonung eines gemeinsamen kulturellen Erbes trägt dazu bei eine europäische Identitätsbildung voranzutreiben.
Anmerkungen:
1 Halbwachs, Maurice, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt am Main 1985.
2 Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 2000.
3 Vgl. auch: Wagner, Gerhard, Surfen für Fortgeschrittene. Plädoyer für eine soziologische Metaphorologie, in: Soziologie 1 (2004).
4 Blumenberg, Hans, Paradigmen zu einer Metapherologie, Frankfurt am Main 1998.