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Title
Teichiussa. Näherung und Wirklichkeit


Author(s)
Voigtländer, Walter
Published
Rahden in Westfalen 2004: Verlag Marie Leidorf
Extent
XI, 386 S., 37 Abb., 177 Taf.
Price
€ 79,80
Reviewed for H-Soz-Kult by
Oliver Hülden, Anatolian Civilizations Institute, Koç University, Istanbul

Die Siedlung Teichiussa im Südosten der milesischen Halbinsel steht im Zentrum der Studie von Walter Voigtländer. Von 1985 bis 1989 hat er dort Feldforschungen durchgeführt, deren erste Ergebnisse er in mehreren Aufsätzen vorgelegt hat.1 Teichiussa ist wohl hauptsächlich als Herkunftsort des Branchiden Chares geläufig, dessen marmorne Sitzfigur im British Museum aufbewahrt wird. Die Siedlung selbst dürfte dagegen weitgehend unbekannt sein, obgleich es sich um einen bedeutenden Fundort an der kleinasiatischen Südwestküste handelt.2 So liegt mit "Altteichiussa" auf der Halbinsel Kömür Adası die neben Milet selbst wohl wichtigste früh- und mittelbronzezeitliche Siedlung der Milesia vor. Auf diese folgt auf der unweit entfernten Halbinsel Saplı Adası eine befestigte Kleinstadt, die wohl vom späten 8. bis in die Mitte des 5. Jahrhunderts v.Chr. bewohnt war, um schließlich womöglich weiter westlich neugegründet zu werden (diese Siedlung ist heute überbaut). Dem archaischen und klassischen Teichiussa lassen sich zudem zahlreiche Gehöfte, Hirtenbauten und Gräber in der Umgebung zuordnen, die in einem deutlichen Gegensatz zur sonstigen gleichzeitigen Besiedlung der Milesia stehen und wahrscheinlich mit karischen Bevölkerungsteilen in Verbindung gebracht werden können.3 Damit liegt ein Denkmälerbestand vor, der die Nahtstelle zwischen griechischer und indigener Bevölkerung bezeichnet und für die Kenntnis des "Karischen" ebenso bedeutsam ist wie für die Beobachtung von Akkulturationsprozessen. Voigtländer kam zudem der durch zunehmenden Tourismus und Intensivierung der Landwirtschaft bedingten Zerstörung der Kulturlandschaft auf der milesischen Halbinsel um wenige Jahre zuvor (vgl. etwa S. 374, Anm. 526). Aus den genannten Gründen ist eine recht hohe Erwartungshaltung gegenüber der abschließenden Publikation seiner Forschungen zu Teichiussa gerechtfertigt.

Der geradezu programmatische Untertitel "Näherung und Wirklichkeit" macht jedoch stutzig, vermag aber durchaus das zu treffen, was Voigtländer auf den folgenden 386 Seiten vor seiner Leserschaft ausbreitet: Teichiussa und die Befunde in seinem Umland dienen ihm lediglich als Aufhänger für eine Reihe von grundsätzlichen Überlegungen zu einem vielfältigen Themenrepertoire. Voigtländers Ziel besteht nach eigenem Bekunden darin, "erdachte Grenzen aufzuheben, Übersehenes aufzudecken, neue Wege der Archäologie zu verschütteten und verstellten Kontexten einer komplexen ägäischen Kulturgeschichte zu erkunden und über modifizierte Hermeneutik […] sich vorantiken und antiken Wirklichkeiten zu nähern" (S. 286). Der Weg, den er dazu einschlägt, verlangt dem Leser allerdings ein hohes Maß an Geduld und bisweilen auch an Nachsicht ab. Dies hat seine Ursache einerseits darin, dass Voigtländer seine Studie aus Manuskripten zusammengefügt hat (S. 2), die zu verschiedenen Zeiten entstanden sind und zudem unterschiedliche Themenkomplexe berühren, deren Verbindung miteinander nur mit Mühe gelingt. Andererseits stellt der Autor zahllose Hypothesen auf, die zumindest als gewagt, mitunter aber als abstrus bezeichnet werden können. Er scheint sich dessen jedoch bewusst zu sein, denn schon in seinem Prolog wendet er sich prophylaktisch an den kritischen Leser und potentiellen Rezensenten (S. 1), was sich im Verlauf des Buches mit Regelmäßigkeit wiederholt (z.B. S. 146, 267, 293). In diesem Kontext ist wohl auch die Behauptung zu betrachten, die "Griechen stellen den großen Karer [Thales] seit Platon als tumben Toren dar, indem sie gleich befangenen Rezensenten Leistungen mißliebiger Menschen zu beeinträchtigen suchen" (S. 171). Nicht zuletzt diese Aussage, die in gewisser Weise als symptomatisch für das gesamte Werk betrachtet werden kann, dürfte erkennen lassen, dass eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Voigtländers Hypothesen kaum möglich ist. Auch wenn an der einen oder anderen Stelle durchaus diskussionswürdige Ansätze zu finden sind, verlieren sie sich doch nahezu vollständig in einer Mischung aus bisweilen recht bizarren Denkansätzen und - aufgrund eines sparsamen Anmerkungsapparats - häufig nicht nachprüfbaren Behauptungen. Insofern soll im Folgenden lediglich eine Inhaltsangabe gegeben werden, die weitgehend auf korrigierende oder wertende Kommentare verzichtet.

Kapitel I ist mit "Spurensuche" überschrieben. Auf eine knappe Einführung, in der sich Voigtländer mit der historischen Entwicklung Kleinasiens, damit zusammenhängenden chronologischen Fragen und einer Skizzierung seiner weiteren Vorgehensweise beschäftigt, folgt ein Abschnitt zu Herodot und dessen Verhältnis zu Karien. Herodot wird als Exponent einer karerfeindlichen Gesinnung entlarvt, die bis heute ihre Nachwirkungen zeige und daher auch den objektiven Blick der Forschung auf Karien verstelle (bes. S. 22f.). Daran schließen sich diffuse Überlegungen zur Chronologie der späten Bronze- und frühen Eisenzeit sowie zu den damaligen Migrationsbewegungen an. Im Anschluss wendet sich der Autor der als karisch geltenden Göttin Hekate zu, in deren antiker Überlieferung durch die griechische Tradition er wiederum antikarische Züge zu erkennen glaubt (S. 47). Zudem bestehe ein Zusammenhang zwischen der Gottheit, die er als "zeitlose Manifestation im ägäischen Zeitraum" betrachtet (S. 46), dem bronzezeitlichen Kreta, dem früharchaischen Böotien und der Küste Kariens (S. 60), ein Gedanke, der später nochmals aufgegriffen wird (Appendix A).

Bevor sich Voigtländer in seinem zweiten Kapitel endlich mit Teichiussa selbst beschäftigt, verliert er sich in eher allgemeinen Ausführungen zur frühbronzezeitlichen Fundkeramik. Dem schließen sich etwas abrupt einige Überlegungen zum Megaron und der Verbreitung des zugrunde liegenden Baugedankens an, wobei er sich auf dessen Herleitung aus dem bulgarischen Raum festlegt (etwa S. 73). Von dort aus soll sich der Gedanke einerseits nach Osten, also nach Lydien und Lykien, und andererseits nach Westen, auf einer westlichen "Megaron-Route", auf die ägäischen Inseln und die Peloponnes ausgebreitet haben (S. 106f.). Im Anschluss macht sich Voigtländer auf die ergebnislose Suche nach Anknüpfungspunkten für die palatiale Architektur des bronzezeitlichen Beycesultan. Diesen weitgehend zusammenhanglosen Exkursen folgen schließlich Beschreibungen und Interpretationen der aufgrund des keramischen Befundes in die Periode SM I datierten Baureste von "Altteichiussa". Voigtländer vermag es hier weder, einen klaren Eindruck von diesem Fundplatz zu vermitteln, noch überzeugt sein Vorschlag, zwei unterschiedliche Bevölkerungsgruppen zu scheiden, von denen die eine minoischer Herkunft sein soll (S. 130).

Sein drittes Kapitel ist dem eisenzeitlichen Teichiussa gewidmet. Zunächst stellt Voigtländer Mutmaßungen zur Herkunft und Zusammensetzung der dortigen Bevölkerung an. Dann vermittelt er einen Eindruck von den Bauten und den Funden, die, wie gesagt, vom späten 8. bis vor die Mitte des 5. Jahrhunderts v.Chr. reichen. Der Siedlung lassen sich zudem zwei Bestattungsareale in Ufernähe zuordnen, wobei die in den Gräbern der älteren Nekropole A gefundenen Gefäße offensichtlich etwas älter als die früheste Siedlungskeramik sind. Die Gräber von Nekropole B lassen sich den jüngeren Jahrzehnten des 6. Jahrhunderts v.Chr. zuordnen. An Grabtypen finden sich insgesamt Urnen- und Pithosbestattungen, Steinkistengräber, kleine Tumuli, Felsspaltengräber sowie ein Tonsarkophag. Im Anschluss verläßt Voigtländer die Siedlung schon wieder und lässt erneut zwei Exkurse folgen, die sich mit altägäischen Maßeinheiten und dem Naturphilosophen Thales beschäftigen. Dann wendet sich der Autor den Befunden des Umlandes zu, wobei sich insbesondere das Problem stellt, dass er weder über deren genaue Lage noch über deren konkrete Beziehung zueinander Auskunft gibt. Voigtländer behandelt zwei archaische Gehöfte, von denen er das eine aufgrund bestimmter Maßverhältnisse als "Thalesbau" und das andere als "Pythagorasbau" bezeichnet. Ferner spekuliert er über deren mögliche sepulkrale oder sakrale Funktion (etwa S. 191f.).

Es schließen sich die Beschreibungen weiterer Gehöfte und von Hirtenbauten an; darüber hinaus erfolgt ein Überblick über die als Hochgräber bezeichneten terrassen- und podiumsartigen Grabanlagen der Region. Insbesondere diese behandelt Voigtländer ausführlich und macht sich Gedanken über den angeblich singulären Grabtyp. Die Suche nach Vergleichen führt ihn über Gavurkalesi bis nach Kreta, wobei er glaubt, von dortigen bronzezeitlichen Gräbern die Ursprünge der Bauidee herleiten zu können (S. 271f.).4 Es folgen Überlegungen zu Steinwällen, -haufen und -halden in der Milesia5, zu geometrischen Tumuli und zu jüngeren Gräbern, darunter der bekannte hellenistische Grabbau Ta Marmara. Verfehlt ist die Datierung und Deutung eines gewiss vorkaiserzeitlichen, wenn nicht vorhellenistischen Steinkistengrabes als Grab eines kirchlichen Würdenträgers byzantinischer Zeit (S. 283-286). Das in eine Steinplatte eingemeißelte Kreuz stammt mit Sicherheit von einer sekundären Nutzung und kann auch nicht als Hinweis auf eine priesterliche Funktion des Bestatteten verstanden werden. Abrupt erfolgt der Übergang zu einem Exkurs zu den Branchiden, wobei Voigtländer zu dem Schluss kommt, das Gebiet um Teichiussa habe als "Nutzungs- und Rückzugsgebiet dieser Priesterkaste" gedient (S. 288).

Ein Katalog der zumeist keramischen Kleinfunde, die von der Bronzezeit bis in die klassische Zeit reichen, bildet Kapitel IV. Auch wenn die Auflistung der Funde als eigenwillig bezeichnet werden kann, lässt sich doch in Kombination mit den Umzeichnungen und Fotos ein recht guter Überblick von ihnen gewinnen. Das abschließende Kapitel V beinhaltet drei Appendices, die nur in vagem Zusammenhang mit Teichiussa stehen. Appendix A beschäftigt sich mit dem Zeusheiligtum von Panamara, gefolgt von eher ungeordneten Überlegungen zur Entwicklung von terrassenartigen Temene in Karien, die unter anderem nach Gerga, Labraunda und Stratonikeia führen. Den Abschluss bildet der abenteuerliche Versuch, die Karer als Philanthropen im Gegensatz zu den intoleranten Athenern zu beschreiben und über Hekate nochmals die Verbindung zwischen Karien und dem Böotien Hesiods herzustellen (S. 343). Appendix B versucht über die Mythologie den karisch-lykischen Raum mit der Argolis zu verbinden, und die letzte Appendix C enthält noch einige zusammenhanglose Gedanken zum Apollonheiligtum von Didyma.

Nach dieser Inhaltsangabe ist es wohl verständlich, wenn am Ende beim Rezensenten eine gewisse Ratlosigkeit und Resignation zurückbleibt. Darüber können auch die durchwegs guten Fotos und Pläne nicht weghelfen. Die neuen Wege der Archäologie, die Walter Voigtländer zu beschreiten glaubt, haben sich zwar als lang und verzweigt erwiesen, aber es werden einsame Wege bleiben. Bedauerlich ist, dass die Chance vertan wurde, diese so bedeutenden bronze- wie früheisenzeitlichen Siedlungsspuren an der kleinasiatischen Südwestküste adäquat zu analysieren und zu publizieren.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Voigtländer, Walter, Umrisse eines vor- und frühgeschichtlichen Zentrums an der karisch-ionischen Küste. Erster Vorbericht, Survey 1984, in: Archäologischer Anzeiger (1986), S. 613-667; Ders., Akbük - Teichiussa. Zweiter Vorbericht - Survey 1985/86, in: Archäologischer Anzeiger (1988), S. 568-625.
2 Vgl. Lohmann, Hans, Survey in der Chora von Milet. Vorbericht über die Kampagnen der Jahre 1994 und 1995, in: Archäologischer Anzeiger (1997), S. 288-290.
3 Vgl. Lohmann, Hans, Survey in der Chora von Milet. Vorbericht über die Kampagnen der Jahre 1996 und 1997, in: Archäologischer Anzeiger (1999), S. 446f.
4 Dass aus Lykien schon seit geraumer Zeit nicht nur vergleichbare, sondern auch zeitlich nahe stehende Gräber bekannt sind, die bei der Beurteilung der karischen Pendants nicht unberücksichtigt bleiben können, ist Voigtländer offenbar entgangen. Zumindest das zunächst für spätbronzezeitlich gehaltene terrassenartige Grab von Seyret hätte ihm bekannt sein können; zu ihm vgl.: Borchhardt, Jürgen; Wurster, Wolfgang, Megalith-Gräber in Lykien, in: Archäologischer Anzeiger (1974), S. 518-520 u. 536. Mittlerweile legen zahlreiche Vertreter dieses Grabtyps, der in archaischer und klassischer Zeit in Zentrallykien verbreitet war, eine ebensolche Datierung für dieses Grab nahe. Eine ausführliche Darstellung des Grabtyps (mit älterer Literatur) bietet in Kürze Hülden, Oliver, Gräber und Grabtypen im Bergland von Yavu (Zentrallykien). Studien zur antiken Grabkultur in Lykien (im Druck).
5 Eine Auseinandersetzung mit den Untersuchungen von Gregor und Barbara Borg zu diesem Phänomen (Die unsichtbaren Steinbrüche. Zur Bausteinprovenienz des Apollon-Heiligtums von Didyma, Antike Welt 29. 6, 1998, S. 509-518) fehlt ebenso wie eine solche mit den Ergebnissen des Surveys von Hans Lohmann (vgl. Anm. 2 und 3).

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