Während in den letzten Jahrzehnten die frühneuzeitliche Stadt und ihre Stadtbürger meist hinsichtlich ihrer Bedeutung für den Modernisierungsprozess bzw. den Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts Gegenstand großer Forschungsprojekte (Bielefeld, Berlin, Frankfurt am Main, München) waren, rücken die Autoren des hier vorzustellenden Sammelbandes den historischen Ort der frühneuzeitlichen Stadt sowie ihre zeitgemäße Kommunikation und Interaktion in den Mittelpunkt ihrer Forschungen. Nicht unsere heutigen Wertvorstellungen und Normen oder die des 19. Jahrhunderts werden als Bewertungsmaßstab der historischen Analyse zugrunde gelegt, sondern es wird ganz bewusst nach den der jeweiligen Zeit adäquaten Handlungs- und Kommunikationsmöglichkeiten gefragt. Dieser Paradigmenwechsel ermöglicht eine andere Sichtweise und Wertung der städtischen Kultur und er sollte nicht nur auf die Frühe Neuzeit beschränkt bleiben. Die „Fußkranken des Fortschritts“ könnten so zu ganz achtenswerten Stadtbürgern und die städtische „Fundamentalpolitisierung“ zur zeitgemäßen kommunalpolitischen Kultur mutieren.
Der Sammelband, der aus einem Teilprojekt des Konstanzer Sonderforschungsbereichs 1 und einer im Jahr 2000 veranstalteten Konferenz hervorging, beinhaltet 17 Einzelbeiträge, die hier leider nicht alle detailliert besprochen werden können.
Einleitend beschreibt Rudolf Schlögl die dem Band zugrunde liegende kommunikationstheoretisch ausgerichteten Vorstellungen von Macht und Politik. „Die These dieses Sammelbandes ist, dass es notwendig und zwischenzeitlich auch möglich ist, einen Begriff von der Politik der vormodernen Stadt zu entfalten, der nicht in erster Linie die traditionsstiftenden Kontinuitäten, sondern die historische Differenz betont.“ (S. 11) Wie konstituierte sich politische Macht infolge sozialer Prozesse und wie verfestigte sich Herrschaft institutionell – das sind zentrale Fragen dieses Bandes. Ausgehend von den Handlungsmöglichkeiten in der frühneuzeitlichen Stadt definiert Schlögl Politik als Kommunikation unter Anwesenden. „Politik wird hier verstanden als (bedeutungsvolles) soziales Geschehen, in dem bezogen auf Kollektive Entscheidungen hervorgebracht und so kommuniziert werden, dass sie allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen können.“ (S. 21) Durch eine vielschichtige Analyse der komplexen Kommunikations- und Interaktionsprozesse vor Ort, die bewusst nicht auf die Dichotomie von Herrschaft und Untertanen reduziert wurden, werden neue Einblicke in die städtische Politik der Frühen Neuzeit gewährt.
Im ersten Komplex werden kommunikative Prozesse in Recht und Politik beschrieben. Andreas Würgler untersucht die Ursachen und Gründe der anfänglich gelungenen politischen Integration der Berner Stadtbevölkerung. Das änderte sich dann im 17. und frühen 18. Jahrhundert. Während in konfliktarmen Zeiten Rituale und Symbole die Integration trotz reduzierter direkter Beteiligung der Stadtbürger an der Entscheidungsfindung ermöglichten, reichten diese Formen der Integration in Krisenzeiten nicht aus. Wie sehr Symbole der Macht die Münsteraner und ihr Verhältnis zum Landesherrn nach der erfolgten gewalttätigen bzw. mächtigen Kommunikation seitens des Fürstbischofs von Galen veränderten, stellt Uwe Goppold in seinem Beitrag überzeugend dar. Die bürgerliche (kommunale) Öffentlichkeit vor der Aufklärung, die sich ja aus verschiedenen öffentlichen Räumen zusammensetzte, und deren Beitrag zur Entwicklung der politischen Kultur Kölns, untersucht Gerd Schwerhoff. Die Kommunikationsmodi in spätmittelalterlichen Stadtgerichten wurden von Franz-Josef Arlinghaus beschrieben. Ihm gelingt der Nachweis, dass Kommunikationsstrukturen einen entscheidenden Beitrag zur Legitimität des Gerichtswesens leisteten. Andreas Blauert analysiert die Verfahrensbesonderheiten in der Rechtssprechung der sächsischen Stadt Freiberg. Um den städtischen Frieden zu wahren bzw. wieder herzustellen, wurden die Verfahrenstypen und Sanktionsformen in der Praxis durchaus flexibel gehandhabt. Diese Flexibilität interpretierte Blauert als bewusst verfolgte Strategie der städtischen Politik (S. 179). Auch die Forschungen Joachims Eibachs zur Strafjustiz der Stadt Frankfurt am Main belegen, dass die Ausübung der dortige Strafjustiz in hohem Maße eine konsensuale Angelegenheit zwischen der Ratsobrigkeit und den politikfähigen Bürgern war (S. 190).
Im zweiten Themenkomplex „Das Politische und seine Normen. Die Konfliktfähigkeit der Stadt“ werden verschiedene Fallbeispiele vorgestellt. Patrick Oelze beschäftigt sich mit der Gemeinde als strukturierendem Leitmotiv in der Auseinandersetzung zwischen dem Konstanzer Rat und Kaiser Maximilian 1510/1511. Die Beiträge von Ernst Riegg, Stefan Rohdewald und Philip R. Hoffmann zeigen, dass sich die verschiedenen Gemeinden (Bürger-, Zunft- oder Kirchengemeinde usw.) zu einem mächtigen Symbol der politischen Kommunikation in der jeweiligen Stadt entwickelten. Ob es um konfessionelle Auseinandersetzungen ging wie in Nürnberg und Polock oder um politische Ordnungskonflikte wie in Leipzig – die Fallbeispiele zeigen, dass sich über die Konfliktfähigkeit und die Konfliktbewältigung städtische Politik manifestierte. Die Reflexion der städtischen Politik thematisiert dann Marcus Sandl in seinem Beitrag „Die Stadt, der Staat und der politische Diskurs am Beginn der Moderne“ an Hand ausgewählter kameralistischen Schriften.
Die politische Kultur und die soziale Ordnung der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadt, die aus den vielschichtigen städtischen Kommunikationsprozessen und Interaktionen resultierten, beduften jedoch auch der rituellen und zeremoniellen Wahrnehmbarkeit, der Inszenierung. Die „Medien der Politik und der Identitätsbildung: Literalität, Visualität, Performanz“ bilden daher den dritten Themenbereich dieses Sammelbandes. Jörg Rogge befasst sich mit der Praxis der öffentlichen Inszenierung und Darstellung von Ratsherrschaft in Städten des deutschen Reiches um 1500 und verweist gleichzeitig auf noch ausstehende Forschungen. Regula Schmid und Thomas Fuchs widmen sich der Geschichtsschreibung als einer Möglichkeit der Selbstdarstellung. Während die kommunalen Inschriften in Bern und Basel immerhin als Ausdruck städtischer Selbstdarstellung zu deuten sind, wie Schmid nachweist, kann Fuchs für Hessen-Kassel nur in Ausnahmefällen eine städtische Geschichtsschreibung ausfindig machen. Die Bürger schrieben dort die Geschichte der Landgrafen. Doch nicht nur die schriftlichen Formen der Inszenierung gehörten zur städtischen Selbstdarstellung, sondern auch die so genannten Performanz, wie Kathrin Enzel am Beispiel der „Großen Kölner Gottestracht“, Katrin Kröll am Beispiel der Umzüge und Theaterspiele der Schreinergesellen sowie Uwe Dörk am Beispiel von Beerdigungen und deren Brauchtum überzeugend darstellen.
Die einzelnen gut strukturierten Beiträge belegen die große Vielfalt der sozialen Praxis in verschiedenen frühneuzeitlichen Städtetypen. Der angestrebte Bezug zum Hauptthema ist in den einzelnen Beiträgen gut nachvollziehbar. Der regionale Schwerpunkt lag jedoch im mitteldeutschen Raum. Eine Ausnahme stellt die von Rohdewald untersuchte weißrussische Stadt Polock dar. Es bleibt also noch zu untersuchen, ob sich in den Städten anderer Regionen/Territorien ähnliche oder andere Kommunikationsprozesse unter Anwesenden nachweisen lassen und ob der Städtetyp (Residenz-, Reichs-, Landstadt usw.) und deren Einbettung in eine spezifische Städtelandschaft diese beeinflussten. Eingedenk der Theorie der Strukturierung von Anthony Giddens 2 wird man also noch viele Ensemble aus Regeln und Ressourcen sowie deren soziale Systeme untersuchen müssen, um die Tragfähigkeit der oben beschriebenen kulturwissenschaftlichen Theorie weiter zu untermauern. Zweifelsohne wird dieser Sammelband die entsprechenden Forschungen forcieren.
Anmerkungen:
1 Siehe zum Sonderforschungsbereich: http://www.uni-konstanz.de/FuF/sfb485/forschungsprogramm.
2 Giddens, Anthony, Die Konstituierung der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung, Frankfurt am Main 1997.