T. Pierenkemper: Wirtschaftsgeschichte

Titel
Wirtschaftsgeschichte. Eine Einführung - oder: Wie wir reich wurden


Autor(en)
Pierenkemper, Toni
Reihe
Internationale Standardlehrbücher der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften
Erschienen
München 2005: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
218 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Vera Ziegeldorf, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die verstärkte Hinwendung zu wirtschaftshistorischen Fragestellungen innerhalb der Geschichtswissenschaften hat es notwendig gemacht vor allem für Studierende Einführungen in diesen Themenkomplex bereitzustellen und so verwundert zunächst angesichts der bereits vorliegenden Publikationen das Erscheinen einer weiteren Darstellung. So fragt schließlich auch der Autor Toni Pierenkemper, Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität zu Köln, in der Einleitung seiner Publikation ob eine weitere gerade angesichts der Defensive, in der sich das Fach befindet, noch einen Sinn macht und seine Antwort überrascht nicht: „Ich denke ja!“ Denn seine mit dem Buch insbesondere verbundene Absicht ist die Anschlussfähigkeit der Wirtschaftsgeschichte an die Wirtschaftswissenschaften durch eine an den Kategorien und Theoremen der Ökonomie orientierte Analyse des Wachstumsprozesses insgesamt voranzutreiben. (S. 3) Ausgangspunkt seiner Darstellung ist so denn auch nicht die Struktur des Faches, seine kontroversen Forschungsdebatten oder theoretische Ansätze, Pierenkemper greift sich vielmehr das Herzstück der Wirtschaftswissenschaften heraus, was nicht nur Wirtschaftswissenschaftler sondern vor allem Historiker seit Jahrzehnten fesselte: das Wachstumsparadigma. Die dabei vor allem von der Neuen Institutionenökonomik an diesem Konzept ausgehende Kritik wertet er als Ergänzung und Erweiterung des Paradigmas. Die leitende Frage ist dabei, wie „es den westlich geprägten Gesellschaften in den letzten gut zweihundert Jahren gelang, die Fessel der Armut, die die Menschheit seit ihrem Anbeginn gefangen hielt, abzuschütteln“. Pierenkemper legt mit seinem Buch daher vor allem eine Einführung in die Industrialisierung und die Entwicklung des Wohlstands in der Neuzeit vor und zielt damit auf die Darstellung der Zusammenhänge wirtschaftlichen Wachstums. Die Darstellung ist dabei sowohl chronologisch (Kaptitel 2) als auch konzeptionell (Kapitel 3 und 4) angelegt. Beispiele beziehen sich dabei sowohl auf Deutschland, Westeuropa als auch die USA. Mit diesem Konzept reiht sich Pierenkemper nicht nur in das weite Feld der Einführungsliteratur in die Wirtschaftsgeschichte sondern auch zur industriellen Revolution bzw. Industrialisierung, was angesichts der Komplexität des Themas kein leichtes Vorhaben ist, zumal hier nicht auf einzelne Regionen, Sektoren oder Perioden begrenzt wird. Pierenkemper schränkt jedoch seine Darstellung dahingehend ein, dass er erstens die langfristige Entwicklung der Wirtschaft und damit nicht Krisen oder konjunkturelle Schwankungen in den Blick seiner Untersuchung nimmt. Zweitens werden die Ausführungen auf Westeuropa und hier vor allem Deutschland und England beschränkt. Und schließlich drittens findet eine Konzentration auf die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts statt, wodurch angrenzende Zeiträume nur gelegentlich zu Vergleichszwecken herangezogen werden. (S. 6)

Die Publikation gliedert sich in drei Hauptkapitel. Im ersten Kapitel widmet sich Pierenkemper der Industrialisierung, wirtschaftlichem Wachstum und der Entwicklung des Wohlstands in der Neuzeit. Im zweiten Kapitel untersucht er die Triebkräfte des modernen Wirtschaftswachstums. Im dritten Kapitel differenziert er diese Triebkräfte weiter aus und zielt hier vor allem auf prozessuale Phänomene wie sektorale, räumliche und zeitliche Strukturen des Wirtschaftswachstums. In einem Schlusskapitel werden schließlich die Thesen zusammengeführt und verdichtet. Im ersten Hauptkapitel zeichnet Pierenkemper die wirtschaftliche Situation im Europa der vorindustriellen Zeit des 17. und 18. Jahrhunderts nach, die durch weit reichende Armut geprägt war. Ein „circulus vitiosus“ – die Bindung des Einkommens an produktive Arbeit, die jedoch aufgrund der niedrigen Löhne und der stagnierenden Wirtschaft nicht ausreichend zur Verfügung stand. „Es herrschte ein permanenter Mangel an Arbeitsmöglichkeiten, da die Armut der Bevölkerung wiederum die Expansionschancen begrenzte.“ (S. 16) Mit der Industrialisierung bzw. industriellen Revolution setzte dann ein starkes (qualitatives denn extensives) Wachstum der Wirtschaft ein, das erstmals nicht aufgrund natürlicher Grenzen des Produktivitätssystems wieder zum Stillstand kam und nunmehr mit einer Einkommens- und Konsumniveausteigerung und damit einer Verbesserung der Lebensverhältnisse der Bevölkerung verbunden war. Konstituierend für diesen Prozess waren Neuerungen in den Organisationsformen des Wirtschaftens, wodurch der Wachstumsprozess verstetigt wurde und sich damit dieses gleichsam selbst reproduzierte. (S. 33) Daneben wirkte eine intensivere Nutzung der Produktionsfaktoren, mit deren Hilfe die Produktivität gesteigert wurde. Arbeit und Kapital haben dagegen gemeinsam etwa nur die Hälfte des Wachstums des Bruttosozialprodukts bewirkt. Die andere Hälfte entfällt allein auf die Effizienzsteigerung. (S. 39)

Im zweiten Hauptkapitel untersucht Pierenkemper die Triebkräfte des modernen Wirtschaftswachstums: Boden, Arbeit, Kapitalbildung und Finanzierung, Technik und Produktionstechnologie sowie Außenwirtschaft. Die These, dass mit einsetzender Industrialisierung ein dramatischer Bedeutungsverlust der Landwirtschaft, d.h. des Faktors Boden, einhergeht, ist nach Pierenkemper unzutreffend, da die Landwirtschaft bis weit ins 19. oder sogar 20. Jahrhundert hinein in vielen Ländern Europas der dominierende Sektor blieb. (S. 61 f.) Hierzu ist einschränkend zu bemerken, dass obwohl sogar die Erntemengen – und damit der Konsum an landwirtschaftlichen Produkten zunahm – und der Arbeitseinsatz in der Landwirtschaft stiegen, diese insgesamt am Bruttosozialprodukt relativ zur Industrie an Bedeutung verlor. Für England gilt zumindest, dass der industriellen Revolution eine Agrarrevolution vorausging: 1. konnte die Ernährung der wachsenden Bevölkerung sichergestellt werden, 2. wurde aufgrund der steigenden Einkommen eine verstärkte Nachfrage an Industriegütern ermöglicht und 3. konnten die Ersparnisse, die aus der Landwirtschaft resultierten, der Finanzierung der industriellen Expansion zugeführt werden. (S. 71) Für Deutschland gilt diese Annahme nicht in dieser Stärke. Insofern überrascht die These, dass in der frühen Phase der Industrialisierung der europäischen Staaten die Landwirtschaft eine überragende Rolle für das gesamtwirtschaftliche Wachstum spielte. (S. 74) Schwieriger ist dagegen die Bestimmung der Bedeutung des Faktors Arbeit. Diese ist im wesentlichen abhängig von der Effizienz und Qualität, so dass eine allgemeine Einordnung nicht möglich ist. Auffällig ist jedoch, dass seit der Industrialisierung eine deutliche Verminderung der Arbeitszeit bei gleichzeitigem wirtschaftlichen Wachstum statt gefunden hat. Hieraus ist jedoch nicht auf eine Minderung der Bedeutung zu schließen, sondern vielmehr auf eine Effizienzsteigerung. Relativ knapp und damit entgegen der (neo-)klassischen Sichtweise, die die Kapitalbildung und Finanzierung als den zentralen Faktor wirtschaftlichen Wachstums ansieht, werden die drei Faktoren Kapitalbildung und Finanzierung, Technik und Produktionstechnologie sowie Außenwirtschaft abgehandelt. Die explosionsartige Vermehrung des Kapitalstocks während der Industrialisierung, der Kapitalstock stieg dabei überproportional im Vergleich zum Sozialprodukt, deutet auf eine Kapitalintensivierung der Produktion. Die Steigerung der Kapitalbildung, die sich vor allem in der Investitionsquote ausdrückt, wird dabei als zentrale Voraussetzung für die Industrialisierung angesehen. (S. 101) Ob diese nun jedoch tatsächlich nur als Voraussetzung oder Begleiterscheinung der Industrialisierung in Deutschland und des Wachstums anzusehen ist, bleibt umstritten. (S. 102) Der bedeutendste Faktor ist jedoch der technische Fortschritt. Doch so bedeutsam wie er scheint, so wenig ist er auch fassbar. Im Deutschland der Nachkriegszeit entfiel etwa die Hälfte des Wirtschaftswachstums auf den technischen Fortschritt. Eindeutige Zusammenhänge vor allem zwischen staatlichen Förderungsmaßnahmen und wirtschaftlichem Wachstum sind jedoch nur schwer aufzuzeigen. (S. 107, 113.) Die Außenwirtschaft spielte dagegen vor allem in England eine bedeutende Rolle, da die Wachstumsraten des Außenhandels über denen der Gesamtwirtschaft lagen, während für Deutschland die Erschließung heimischer Rohstoffe von Bedeutung war. Das Fazit bleibt jedoch insgesamt nüchtern. Über die Feststellung, dass alle dargestellten Faktoren Beiträge zum wirtschaftlichen Wachstum geleistet hätten, werden keine genaueren Analysen unternommen oder Aussagen getroffen. Da die Wirkung von der jeweiligen historischen Situation abhängt und nur ein Zusammenspiel aller Faktoren wirtschaftliches Wachstum generieren kann, bleibt die Frage, inwieweit einzelne dieser Faktoren hervorgehoben werden können und wie diese Faktoren genau wirken, unklar. (S. 121, 160) Voraussetzungen für die Industrialisierung – verstanden als das überproportionale Wachstum des Anteils des industriellen Sektors an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung – ist die Effizienzsteigerung im nicht-industriellen Sektor mit dem Ziel ökonomische Ressourcen für den Auf- und Ausbau der Industrie zu mobilisieren. Daneben ist eine Ausweitung des Angebots von Arbeit und Kapital, die Entwicklung einer Güternachfrage sowie eine adäquate Organisation zur Steuerung der Prozesse erforderlich. (S. 159 f.) Pierenkemper kommt schließlich zu dem Schluss, dass die Ursache für die Wohlstandssteigerung in den letzten zweihundert Jahren in der effizienten Nutzung der gegebenen Ressourcen begründet liegt.

Erhellend sind daneben die ausführliche Diskussion Pierenkempers der Begriffe Industrielle Revolution und Industrialisierung (S. 21-32), die Erörterungen zur Schwierigkeit der Messbarkeit des Wohlfahrtsniveaus von Staaten (S. 41-56), die das Bewusstsein für die Problematik und Anwendung schärfen, sowie die Querschnitte nach sektoralen, regionalen, zeitlichen und institutionellen Gesichtspunkten. Hinsichtlich der Diskussion statistischer Annahmen hätte man sich eine kritische Auseinandersetzung der Zeitreihen von Walter G. Hoffmann gewünscht. Ärgerlich sind zudem ungenaue Angaben wie bspw. im Literaturverzeichnis oder Tippfehler wie bereits in der ersten Fußnote, als auch die typographischen Uneinheitlichkeiten. Die leitende Frage nach den Ursachen des wirtschaftlichen Wachstums konnte in ihren groben Zusammenhängen nachgegangen werden, was angesichts der Komplexität nicht überraschen mag. Pierenkemper hat jedoch eine sehr gut lesbare und einführende Publikation zur Entwicklung des wirtschaftlichen Wachstums vorgelegt, die Diskussion um die Frage nach den Ursachen bleibt weiter spannend.

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