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Titel
Das belagerte Leningrad 1941-1944. Die Stadt in den Strategien von Angreifern und Verteidigern


Autor(en)
Ganzenmüller, Jörg
Erschienen
Paderborn 2005: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
412 Seiten
Preis
€ 38,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Alexander Brakel, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Die zuständigen Rezensionsredakteure von H-Soz-Kult glauben, dass das Buch von Jörg Ganzenmüller über die Belagerung von Leningrad in verschiedene Richtungen hin gelesen werden kann. Sie haben deshalb zwei Rezensionen in Auftrag gegeben: eine aus der Perspektive des Osteuropahistorikers (Lars Karl), eine aus der Perspektive der Geschichte der Wehrmacht und NS-Herrschaftspolitik (Alexander Brakel).

An einem Haus auf dem Nevskij-Prospekt, der Prunkstraße Petersburgs, ist noch heute eine Aufschrift zu erkennen, die vor drohendem Artilleriebeschuss warnt und dem Besucher ins Gedächtnis ruft, dass die Stadt an der Neva während des Zweiten Weltkriegs Schauplatz erbitterter Kämpfe war. Um wirklich zu verstehen, was die Bewohner des damaligen Leningrads in der Zeit der 900 Tage währenden Belagerung durch die deutsche Wehrmacht durchgemacht haben, sollte der Tourist aber einen Abstecher in den nordöstlichen Außenbezirk der Stadt, zum Piskarevskoe Friedhof machen. Schier endlose Gräberreihen, in denen mehrere hunderttausend Menschen begraben liegen, verdeutlichen das ganze Ausmaß der Tragödie.

Aber nicht nur in der sowjetischen, sondern auch in der deutschen Geschichte, nimmt die mehr als zweieinhalbjährige Schlacht um die Stadt an der Ostsee einen besonderen Raum ein, und nicht umsonst füllen die Erinnerungen und Darstellungen beider Seiten inzwischen ganze Regale. Umso erstaunlicher ist es, dass bisher noch kein Historiker den Versuch unternommen hat, eine Gesamtschau beider Seiten zu verfassen. Diese Lücke will der in Jena lehrende Historiker Jörg Ganzenmüller mit dem vorliegenden Buch schließen.

Im ersten Teil seiner Arbeit untersucht er die Strategie der Deutschen in Bezug auf Leningrad, wobei er in erster Linie der Frage nachgeht, wie es zu dem Entschluss kam, die Stadt nicht einzunehmen, sondern systematisch auszuhungern. Dabei kommt er zu dem interessanten Ergebnis, dass die Führung um Hitler und das OKW bereits früh die Möglichkeit einer militärischen Eroberung der Stadt verworfen hatte, die Führung der mit der Belagerung betrauten 18. Armee jedoch zunächst über diese Pläne nicht informiert war. Erst als deren Verpflegung knapp wurde und die verantwortlichen Stellen in Berlin die Lieferung zusätzlicher Lebensmittel zur Versorgung kategorisch verweigerten, richtete auch der die 18. Armee kommandierende General Küchler seine Strategie auf das Aushungern der Stadt ein, um deren Bewohner nicht ernähren zu müssen. Aus Angst, die Millionenbevölkerung Leningrads entweder versorgen zu müssen oder sie ausgehungert im eigenen Rücken zu haben, sollte eine Kapitulation der Stadt abgelehnt werden. Zivilisten, die auf eigene Faust versuchten überzulaufen, sollten erschossen werden. Zurecht weist Ganzenmüller darauf hin, dass die angespannte Ernährungslage zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Akzeptanz der in Berlin ausgearbeiteten Hungerpolitik war: Erst die Diskussion dieser Politik im Vorfeld des Krieges hatte dafür gesorgt, dass die verantwortlichen Militärs im hunderttausendfachen Hungertod unschuldiger Zivilisten den einzigen Ausweg aus einer zumindest partiell selbstverschuldeten Zwangslage sah. Dass dieser Hungertod, nachdem er einmal beschlossen war, nicht nur hingenommen, sondern aktiv beschleunigt und herbeigeführt wurde, zeigt der gezielte Beschuss von Lebensmittellagern innerhalb der Stadt. Nicht nur wegen des Resultats, der über einer Million Todesopfer, die Ganzenmüller in Abgrenzung von älteren Zahlen berechnet, sondern auch wegen dieser unmenschlichen Intention der deutschen Belagerer spricht er berechtigterweise von einem „Genozid“ (S. 17).

Bedauerlicherweise verlässt die Darstellung der deutschen Seite an keiner Stelle die strategische Ebene, das Leben und Handeln der Truppenoffiziere wird nicht in den Blick genommen, von dem der einfachen Wehrmachtssoldaten ganz zu schweigen. Ganz anders verhält es sich mit der Beschreibung der belagerten Stadt selbst. Im zweiten, ungleich stärkeren Teil seiner Arbeit spannt Ganzenmüller einen weiten Bogen von den strategischen Überlegungen, die Stalin und die Stavka bezüglich Leningrad anstellten über die kriegswirtschaftliche Bedeutung der Stadt bis zu individuellen Überlebensstrategien ihrer Bewohner. Besondere Beachtung schenkt Ganzenmüller dabei dem gegenseitigen Verhältnis von Partei und Individuum. Er zeigt, dass für Stalin die Schonung seiner Soldaten deutliche Priorität gegenüber der Rettung der eingeschlossenen Zivilisten in Leningrad besaß, dass zuerst kriegswichtige Fabriken und Rohstoffe evakuiert wurden und erst danach die Bevölkerung, und dass die Stalinsche Terror- und Unterdrückungsmaschinerie auch in der belagerten Stadt weiter wütete. Er verweist aber auch auf die beachtliche Leistung, immerhin 40 Prozent der Gesamtbevölkerung aus Leningrad zu evakuieren, wobei nicht nur – wie man vermuten könnte – dringend benötigte Spezialisten und Facharbeiter, sondern auch Frauen und Kinder berücksichtigt wurden. Auch kann er zeigen, dass die Kommunistische Partei trotz der Notlage keine entscheidenden Einbußen in ihrer Autorität hinnehmen musste. Das lag nicht zuletzt daran, dass die zahlreichen Fehler der Parteispitze, die Vetternwirtschaft vor Ort und das weit verbreitete Chaos keine Besonderheit der Kriegszeit waren, sondern an die Zustände der dreißiger Jahre nahtlos anknüpften. Im Unterschied zu der Vorkriegszeit hatten viele Menschen in Anbetracht des gemeinsamen Feindes nun aber erstmals das Gefühl, die Partei setze sich mit aller Kraft für das gleiche Ziel, die Befreiung von den Deutschen ein. Nicht umsonst stieg die Zahl der Parteieintritte während des Krieges in Leningrad deutlich an.

Insgesamt entwirft Ganzenmüller in diesem zweiten Teil ein beeindruckendes Panorama der sowjetischen Kriegsgesellschaft und des Funktionierens des Stalinismus unter den Extrembedingungen einer mehrjährigen Belagerung. Leider gelingt es ihm jedoch nicht, die beiden Teile seiner Arbeit, die deutsche und die sowjetische Perspektive, zu einer zusammenhängenden Gesamtschau zu verknüpfen. Nicht nur durch die Teilung in zwei große inhaltliche Blöcke stehen beide Teile weitgehend unverbunden nebeneinander. Die Gelegenheit, den Kriegsverlauf als Abfolge von Aktion und Reaktion darzustellen, wird somit leider vergeben. Nicht einmal in einem Abschlusskapitel führt er beide Aspekte zusammen, stattdessen zeigt Ganzenmüller in einem Ausblick, wie unterschiedlich und unabhängig voneinander sich die deutsche und sowjetische Gedächtniskultur im Bezug auf Leningrad entwickelt haben. Dennoch ist sein Buch mehr als zwei lesenswerte Einzelstudien: Als einer der allerersten beschreibt Ganzenmüller fachkundig eines der Schlüsselereignisse im deutsch-sowjetischen Krieg aus der Perspektive beider Seiten. Dies ist auch 60 Jahre nach Kriegsende immer noch eine Pioniertat.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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