„Um Ostpreußen tobt seit 1945 so etwas wie ein Glaubenskrieg“ (S. 9), stellt Andreas Kossert, Historiker am Deutschen Historischen Institut in Warschau, einleitend in seinem Buch „Ostpreußen. Geschichte und Mythos“ fest. Damit meint er zum einen die außerordentlich scharfe Polarisierung, mit der jede öffentliche Thematisierung Ostpreußens in den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften einherging. Die eine Seite hatte dabei mit dem Erbe einer seit dem 19. Jahrhundert deutschtumszentrierten Historiografie zu kämpfen, die in der Tradition Heinrich von Treitschkes 1 „mit Hilfe abstruser Konstruktionen“, den „urdeutschen“ Charakter der Provinz zu beweisen suchte, wie Kossert festhält (S. 10). Die andere Seite, nicht weniger ideologisch argumentierend, betrachtete dagegen die Westverschiebung Polens als eine Art historisch moralische Wiedergutmachung für den verbrecherischen deutschen „Drang nach Osten“ und subsumierte kurzerhand alles, was mit Ostpreußen zu tun hatte, unter dem Stichwort „Revanchismus“ – und tabuisierte damit sämtliche Diskussionen oder Gefühlsäußerungen. Doch zur polarisierten Rezeptionsgeschichte Ostpreußens und der Frage des ersten Kapitels „Wem gehört Ostpreußen“ (S. 9-22) gehören nicht nur die unterschiedlichen deutschen Perspektiven. Ein Reizwort war Ostpreußen nämlich auch hinter dem Eisernen Vorhang, wo polnische, sowjetische und litauische Historiker ebenfalls ihre eigenen politischen Interessen bei der Geschichtsschreibung verfolgten: So leitete etwa die polnische Seite aus der ethnisch polnischsprachigen Dominanz in der Bevölkerung Masurens und des südlichen Ermlandes ihren Anspruch auf das südliche Ostpreußen als „urpolnisches“ Land ab, während sich Litauens Forderung nach „Wiedervereinigung“ mit dem großlitauischen Mutterland auf Preußisch Litauen im Nordosten erstreckte.
Allein diese angedeuteten Kontroversen zeigen an, wie sehr ein Paradigmenwechsel in der Geschichtsschreibung Ostpreußens nötig und gleichzeitig mit dem Ende des Kalten Krieges 1989 auch möglich geworden ist. Seit 1989 sind es nun vor allem jüngere Historiker/innen aus Deutschland, Polen, Litauen und Russland, die einen frischen, undogmatischeren Blick auf die Vergangenheit Ostpreußens als einer kulturellen Schnittstelle zwischen Preußen, Litauen, Polen und Russland werfen.2 Gleichwohl ist hier ein merkwürdiges Gefälle zu konstatieren: Denn dem Aufschwung und den Einsichten dieser neuen Geschichtsforschung steht eine davon weitgehend unberührte Medienöffentlichkeit gegenüber. Diese zeichnet sich unter anderem durch einen verstärkten Drang zur Wiederbelebung verloren gegangener Klischees und der (Neu-)Inszenierung ostpreußischer Stimmungsbilder aus. Kosserts im Siedlerverlag erschienenes Buch ist daher ein dringend notwendiger Brückenschlag zwischen moderner und international orientierter Geschichtsforschung und den Bedürfnissen einer breiten, historisch interessierten Leserschaft. Wie wichtig dieser ist, zeigt die enttäuschte Reaktion eines Lesers 3, der unter der Überschrift „Von Mythos keine Spur“ gerade dieses Fehlen vergangener Ostpreußensehnsüchte und einer erzählenden Heimatgeschichte beklagt und damit doch genau, wenn auch ungewollt, das Zentrum des vorliegenden Buches beschreibt: Denn in seiner chronologisch aufgebauten, sachorientierten Geschichte Ostpreußens vom Mittelalter bis in die jüngste Zeit nimmt sich Kossert besonders dieser Mythen an: Er untersucht ihre Entstehung, entfaltet ihren historischen Ort und entlarvt schließlich ihre politische oder soziale Funktion. Ob es sich dabei um die angebliche Wehrhaftigkeit des Deutschen Ordens (S. 32-40), die Schlacht von Tannenberg 1410 (S. 40-50), die Rede von Hindenburg als dem „Retter Ostpreußens“ (S. 196-208) oder die Kontinuitätslinien der „Ostforschung“ (S. 46-48) handelt – Kossert entmythologisiert, indem er historisch aufklärt.
So setzt er etwa der nach 1945 in der Bundesrepublik erfolgten Stilisierung des ostpreußischen Adels als Widerstandshochburg gegen Hitler, zu der Walter Görlitz 4 mit dem bekannten Satz über die adligen Mitglieder des 20. Juli („Die besten Namen des ostelbischen Adels waren hier noch einmal vereint“) beigetragen hat, die nüchterne Analyse von Stephan Malinowski 5 entgegen, der zwar dem Satz zustimmte, aber doch betonte, dass die „besten Namen“ des preußischen Adels vor und nach dem gescheiterten Staatsstreich viel zahlreicher in der NSDAP „vereint“ waren (S. 299). Und doch ist Kossert kein destruktiver Mythenzertrümmerer. Indem er nämlich historische Konstruktionen als solche kenntlich macht, schafft er Raum für eine neue Perspektive auf eine der ehemals reichsten kulturellen Regionen Europas. Diese war bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wie kaum eine andere gekennzeichnet von ethnischer Vielfalt und wurde dadurch zu einer Schnittstelle deutscher, litauisch-baltischer, polnischer und russischer Kultur und Kommunikation. Bis 1837 zählte etwa die im Vergleich zum restlichen Preußen gering urbanisierte Provinz Ostpreußen zwei Drittel deutschsprachige sowie ein Drittel polnisch- und litauischsprachige Einwohner. Polnischsprachige Masuren und preußische Litauer lebten in zwei Kulturen, doch da Litauer und Masuren zum Zeitpunkt der Reichsgründung 1870/71 über keine ausgeprägte regionale oder nationale Identität verfügten, fiel die Assimilierung um so leichter.
Kosserts Buch gibt viele anschauliche Beispiele dafür, worin die Besonderheit dieser untergegangenen multiethnischen Kulturlandschaft bestand, macht aber auch die Voraussetzungen und Entwicklungen sichtbar, die schließlich einen aggressiven Nationalismus beförderten und damit zum Untergang Ostpreußens führten. So beschreibt er etwa das sich im Gefolge der Lehre Kants entwickelnde besondere soziale Klima der ostpreußischen Hauptstadt Königberg, das im 19. Jahrhundert Aufklärung und Toleranz ausstrahlte und damit sogar die Integration der jüdischen Bürger ermöglichte. In dieser Tradition sah sich schließlich auch Hannah Arendt, als sie rückblickend feststellte: „In meiner Art zu denken und zu urteilen, komme ich immer noch aus Königsberg.“ (S. 392). Freilich – und auch das entfaltet Kossert – stand diese Königsberger Offenheit im Gegensatz zur junkerlichen Gesamtstruktur Ostpreußens und zum tiefkonservativen Nationalismus der Provinz. Zwar setzte nach 1918 die große Mehrheit der Ostpreußen auf die politischen Linksparteien und befreite sich erstmals aus der von “oben verordneten konservativen Starre“ (S. 232f.). Doch um den Bestimmungen des Versailler Friedensvertrag, der Abtrennung vom Reich und dem ständig durch die Presse geisternden „Gespenst einer drohenden polnischen Annexion“ (S. 279) standzuhalten, erwiesen sich die demokratischen Kräfte als zu schwach: Die „Politische Radikalisierung“ und der scheinbar verheißungsvolle sowie die Auflösung der alten Klassen- und Kulturgegensätze zugunsten der deutschen Volksgemeinschaft versprechende Nationalsozialismus setzten sich mit einem bescheidenen „Elitenaustausch“ durch. (S. 274). Das Monopol der konservativen preußischen Beamtenlinie war damit zwar gebrochen. Doch die „Germanisierung bis zum bitteren Ende“ (S. 280) und der „Exodus“ (S. 318) führten schließlich – wie gegenwärtig aus Film und Fernsehen6 hinreichend bekannt – in den Untergang. Weniger bekannt ist dagegen, und auch dies ist ein Verdienst Kosserts, wie die Geschichte der Ostpreußen und der Umgang mit dem politischen und kulturellen Erbe nach 1945 und dann nach 1989 in Russland, Litauen, Polen und in den beiden deutschen Staaten weiterging. Während die Integration der Vertriebenen mit dem Lastenausgleichsgesetz von 1952 in der Bundesrepublik seit Jahren als gut erforscht gelten kann, war dazu bislang nur wenig über das ostpreußische Erbe in der DDR bekannt, wo man bereits 1945 im Unterschied zu den Westzonen offiziell von den „Umsiedlern“ sprach – und damit eine „vierzig Jahre währende öffentliche Tabuisierung“ (S. 380) etablierte.
All dies sind nur Schlaglichter auf eine facettenreiche Geschichte, in der sich Liberalität, Toleranz, Moderne, Konservativismus und Nationalismus immer wieder kreuzten und in einem spannungsvollen multiethnischen Mit- und Gegeneinander dieser Region ihren spezifischen Stempel aufdrückten. Die Geschichte Ostpreußens, das zeigt Kossert deutlich, lässt sich eben nicht nur mit Blick auf die eine oder die andere Seite schreiben. Vielmehr ist es gerade die Zusammenschau der Schatten- und der Sonnenseiten, die die Besonderheit dieses einmaligen Erinnerungsraumes ausmacht. Das Buch von Andreas Kossert, das nicht zuletzt durch seine sorgfältige Aufmachung (zwei Karten von 1920 und 1991 mit deutscher, polnischer, russischer und litauischer Ortsbeschriftung), zahlreichen unbekannten Abbildungen, einem Personen- und Ortsregister sowie einem Literaturverzeichnis anspricht, bildet mehr als eine historische und mentale Brücke zum Verständnis einer heute so fern und fremd erscheinenden Region.
Anmerkungen:
1 Treitschke, Heinrich von, Das deutsche Ordensland Preußen, in: Ders., Historische und politische Aufsätze, Leipzig 1865.
2 Siehe z.B. Weber, Mathias (Hg.), Preußen in Ostmitteleuropa. Geschehensgeschichte und Verstehensgeschichte, München 2003; Pletzing, Christian, Vom Völkerfrühling zum nationalen Konflikt. Deutscher und polnischer Nationalismus in Ost- und Westpreußen 1830-1871, Wiesbaden 2003; Kroll, Frank-Lothar (Hg.), Ostpreußen. Facetten einer literarischen Landschaft. Berlin 2001; Garber, Klaus; Komorowski, Manfred; Walther, Axel E. (Hgg.), Kulturgeschichte Ostpreußens in der Frühen Neuzeit. Tübingen 2001.
3 Vgl. die Rezensionen zum besprochenen Buch unter <http://www.amazon.de>.
4 Görlitz, Walter, Die Junker, Adel und Bauer im deutschen Osten, Limburg an der Lahn 1981, S. 407. 5 Malinowski, Stephan, Vom König zum Führer, Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat, Berlin 2003.
6 Vgl. beispielsweise die TV-Serie von Knopp, Guido , Die große Flucht (2004), ferner: Aust, Stefan, Die Flucht. Über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, München 2005; Thorwald, Jürgen, Die große Flucht. Niederlage, Flucht und Vertreibung, München 2005.