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Titel
Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert


Autor(en)
Polaschegg, Andrea
Reihe
Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte
Erschienen
Berlin 2004: de Gruyter
Anzahl Seiten
614 S.
Preis
118,00 Euro
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Wolfgang G. Schwanitz, Deutsches Orient-Institut Hamburg

Goethe steht mit seinem „West-östlichen Diwan“ in einer Tradition der Perzeption des Orients. Orientalismus nennt das die Berliner Germanistin Andrea Polaschegg. In ihrer Dissertation fragt sie nach Regeln, wie dies Deutsche vor zwei Jahrhunderten sahen. Sie möchte das Allgemeine mit dem Besonderen auf dem Forschungsfeld des deutschen Orientalismus verbinden. Dafür studierte sie in Bochum und Berlin auch Orientalistik. Sie schlägt Brücken von der Germanistik zur Orientalistik. Sabine Mangolds Problemgeschichte der Orientalistik 1 verdunkelt aus ihrer Sicht mehr als sie erhellt. Zwar teile ich das nicht, doch lässt sich dies über Polascheggs Werk sagen: es ist stark, wo sie literarische Fallbeispiele ausdeutet, und schwach, wo es um große Zusammenhänge geht. Vor allem fehlt ihr ein klarer Ansatz, weshalb es hier nur um ihn gehen soll.

Goethe sprach 1816 von „seinem Orientalismus“. Sicher ist auch bei ihm dieser Begriff ein Lehnwort aus dem Englischen. Hier hätte die Germanistin tiefer gehen müssen. Das führt zum Grundproblem: sie verbucht jede auf den Orient bezogene wissenschaftliche und künstlerische Äußerung als Orientalismus. Alles sieht sie nur in diesem Prisma. Sie spricht vom deutschen, europäischen oder historischen Orientalismus wie auch vom deutschen Orient, doch ohne diese hinreichend zu definieren. Dabei ignoriert sie die Debatten im islamischen Raum seit 1655, etwas vom Westen zu lernen, wie auch die dortige Kontroverse im vorigen Jahrhundert. Sie übersieht den „Orientalismus“ Anwar Abd al-Maliks, der diesen Begriff 1963 aufbrachte, dem Edward Said dann zu zweifelhaftem Ruf verhalf. Ohne die profunde Kritik Sadiq Galal al-Azms an Said von 1992 zu nutzen, sieht sie auch nicht, dass Saids Ansatz ein ideologisierter Ausfluss des Kalten Krieges war. Unkritisch benutzt sie ihn: der Orient werde als weiblich repräsentiert („unhinterfragte Wahrheit der Orientalismus-Forschung“), ja er sei eine westliche Idee. Nur weil er dem Westen unterlegen war, sei er zu dessen Anderem geworden. Die Saidsche Kausalität zwischen westlicher Identität, Verzerrung des Orients und der Macht wäre „ein grundlegender Konsenspunkt der Orientalismus-Forschung“. Weder gibt es den Konsens, noch solch eine etablierte Forschung.

Andrea Polaschegg folgt einerseits Saids Thesen. Andererseits stellt sie Kritik an ihm dar, so von Sadiq Galal al-Azm, entwirft dazu aber keine eigene Synthese. Der Syrer sah, dass weder Techniken der Abgrenzung noch der Vereinnahmung des Anderen spezifisch westlich sind. Zwar fragt die Autorin dann, warum es im Orient keine den Orient-Experten analoge Institution oder eine der Orientalistik gleiche Disziplin gebe, doch geht sie dem nicht nach. Man denke an Institute, die den Westen behandeln, oder an Hasan Hanafis Einführung in die Okzidentalistik, muqaddima fi ilm al-istighrab. Was die Autorin dazu schreibt, zeigt, dass sie dieses Hauptwerk nicht kennt. Nach den ersten 60 von 600 Seiten fehlen eine Definition des Orientalismus, eine Synthese und Hypothesen.

Im Zwischenfazit stellt die Autorin zum einen Leitfragen, die sie mit den Beispielen Goethe, Hauff und Wilhelm IV. nicht repräsentativ beantwortet: unter welchen Bedingungen, wann und ob überhaupt der Orient als kulturell „Anderer“ wahrgenommen worden ist, wodurch und in welchem Ausmaß er sich aus dem Bereich des Vertrauten gelöst hat, zum „Fremden“ geworden ist und ob die orientalische Fremde als die eigene oder die des Anderen erschien. Zum anderen wählt sie das Eigene und das Fremde als Koordinaten ihres Werkes. Sie versucht, sich der Sache geografisch zu nähern. Herauskommt ein Begriff des Orients ohne Russland, aber mit Griechenland. Ersteres hat sozialhistorisch viel mit dem Nahen, Mittleren und Fernen Orient gemein, von dem Teile zu russischen Reichen gehörten. Dazu gibt es eine Literatur, die Orient und Okzident als Realität (und nicht wie bei ihr nur als literarische oder sonstige Idee) und als Zivilisationen erfasst. Ein Ableger ist der alte Streit, ob Russland typologisch zu Europa oder Asien gehört.

Griechenland war bis zum Befreiungskrieg im Osmanischen Reich, zählt seiner antiken und modernen Struktur nach aber zum Westen. Gut erhellt Polaschegg die Mehrfachkodierungen in philhellenistischen Werken und die Verschiebung deutscher Orientbilder. Orient und Okzident sind zwei universalhistorische Formationen, keineswegs „völlig analoge Zivilisationen“ (S. 277). Sie verfehlt, den Wortkern im Orientalismus typologisch zu begreifen. Daher denkt sie, dass Länder, Völker, Sprachen, Religionen und Lebensformen, die einst zum Orient gerechnet wurden, so bunt wären, dass die Suche nach einem gemeinsamen Nenner, der diese Phänomene zum Orient verbindet, ergebnislos bleibe. Wäre dem so, warum dann am Orient und jenem „-ismus“ festhalten?

Was aber kann Orientalismus oder orientalism meinen? Erstens einen Kult oder eine Spezifik orientalischer Völker. Da das Englische nicht zwischen dem „-ismus“ und der Disziplin „-istik“ trennt, betrifft es zweitens die Orientalistik (Adjektiv orientalistisch); drittens eine orientalische Art, die sich Westler zu eigen machen, to adopt oriental traits or attitudes by Westerners. Das bedeutet, etwas Orientalisches in westliche Literatur, Architektur oder Musik zu bringen. Goethe nannte es einmal sich orientalisieren, wenn ein Europäer dies schöpferisch aufgreift. Hier spielt bei der Imagination des Orients die stilistische Überhöhung oder Karikatur eine ähnliche Rolle wie stereotype Portraits im Western, also in Filmen darüber „how the West was won - and lost“. Dieses überspitzte Pointieren ist ein künstlerisches Verfahren, das oft unverstanden Gründe für manche Polemiken liefert.

Viertens kann man auch jemanden oder etwas orientalisieren, to orientalize, etwa Menschen oder Architektur. Dies steht oft unter kognitiven, kommerziellen oder politischen Vorzeichen. Die „zunehmende Orientalisierung der Bibel“, die die Autorin um 1800 entdeckt, betrifft im Westen die Bewusstmachung der regionalen Ursprünge dieser Schrift, der eigenen Religion und des Weltbildes. Dieser ewig generative Prozess hält an und erfährt in neuen weihnachtlichen TV-Dokumentationen über das Leben Jesu, Pontius Pilatus oder die Jungfrau Maria eine enorme Popularität.

Das Orientalisieren ist auch der Kunst und der Weltanschauung eigen, mit der Anderen etwas ideell und reell Orientalisches zugeeignet wird. Eine solche Differenz erzeugt auch die Ideologie des okzidentalen Orientalismus, die im Orient typische Macht-, Staats- und Sozialformen wähnt. Ihre Unterformen sind der orientalistische, der künstlerische und der populäre Orientalismus. Um die letztgenannten drei geht es Andrea Polaschegg, dabei auch mehr um Orientbilder als um eine Ideologie (S. 280). Sie erwähnt dabei Schillers Regeln des Bild-Orientalismus und eine orientalistische Bilder-Ordnung. Sie spricht von orientalistischen Alterisierungsstrategien, merkt aber wohl nicht, dass sie alles durch jenes sich auf Orientalistik beziehende Adjektiv eingrenzt. Hier bremst sie die schwache Begriffsklärung. Nicht jede akademische oder künstlerische Befassung mit dem Orient ist auch Orientalismus. Keilschrift und Hieroglyphen zu entziffern oder eine Geschichte der arabischen Literatur zu schreiben, das hatte wenig mit Ideologie zu tun. Auch daher ist die Saidsche Schuldvermutung Unsinn, Orientalisten hätten erst das Wissen zur Kolonisierung des Orients geliefert.

Im Orient, darunter in Israel, gibt es einen orientalischen Orientalismus als Selbstidentifikation und -inszenierung. Dies zuweilen unter außenpolitischen Vorzeichen, um westlichen Bildern gerecht zu werden. Dereinst importierte Ägyptens Herrscher einen in Preußen gusseisern vorgefertigten Palast in islamisierender Architektur zur Eröffnung des Sueskanals, der dann Gästehäusern im Orient zum Vorbild gereichte. Umgekehrt wird seit dem 20. Jahrhundert die Stereotypisierung des Westens im Orient auch Okzidentalismus genannt, so jüngst auch im 9-11-Report.

Da das Englische nicht zwischen Orientalistik als Disziplin und Orientalismus als Ideologie unterscheidet, entsteht viel Konfusion. Das Arabische hingegen trennt zwischen ilm al-istishraq und istishraqiyya (umgekehrt Okzidentalistik und Okzidentalismus als ilm al-istighrab und istighrabiyya). Andrea Polaschegg verdunkelt ihr Thema, indem sie die künstlerische und wissenschaftliche Wahrnehmung des Orients gleich behandelt. Da sie aber sehr verschiedenen Regeln, Zielen und Methoden unterliegen, durchzieht ihr Werk eine Unschärfe. Sind zum Beispiel die Ägyptologie und Goethes Lieblingsdichter Hafiz nur „Spielarten der Gestaltung des Orients“ (S. 287)?

Sie verallgemeinert oft unhaltbar (S. 55-56). Zum Verdruss von Philologen meint sie, die deutsche Orientwissenschaft des 19. Jahrhunderts sei anders als die französische und britische (sic!) eine „historische Wissenschaft hermeneutischer Provenienz“ (S. 57). Zudem behauptet sie, es gäbe keine Beschäftigung mit europäischer Kulturgeschichte im Orient, keine kommentierten Ausgaben mit Anhang und Begriffserklärungen. Falsch. Referenzwerke kommen im arabischen Raum seit 1865 vielfach auf. Und wenn es ein Gebiet gibt, auf dem eine besondere Aneignung anhält, dann ist es die Rezeption der westlichen Literatur, Malerei, Musik und Filme, wofür unter anderem arabische Beethoven-Biografien und Debatten um die Filmproduktion in diesem Raum sprechen.

Das Deutsche Reich besaß sehr wohl Kolonien im Orient, nämlich im Fernen Orient (S. 5, 159). Die erste Intifada nach dem Zweiten Weltkrieg (Aufbegehren in Palästina 1921 oder 1936 hießen auch Intifada) begann nicht 1981 (S. 13), sondern 1987. Holger Preißler 2 fand heraus, dass Morgenland und Orient nicht, wie die Autorin mit dem Grimmschen Wörterbuch von 1885 folgert (S. 64), synonym waren.

Das Osmanische Reich war nicht nur türkisch, sondern unter anderem auch arabisch, kurdisch oder koptisch (S. 79-80). Der Orient fiel überhaupt nicht selbstverständlich in die Kategorie der Zivilisation und Orientalen hatten durchaus etwas mit Naturvölkern gemein (S. 135), denn nicht nur ihre Beduinen galten als solche. Die Orientalistik ist nicht allein aus dem philologischen Zweig der protestantischen Theologie entstanden (S. 319), sondern sie hat viele weitere Quellen, darunter Forscher, die aus Neugier den Orient bereisten, um dort zu lernen wie die Engländer Adelhard aus Bath, Robert aus Chester, Daniel aus Morlez und Michael Scot, von den vielen jüdischen Entdeckern des Orients und des Islams wie Abraham ben Ezra aus Toledo ganz zu schweigen.

Wünschenswert wäre gewesen, wenn Andrea Polaschegg die von ihr gesuchten Regeln der deutsch-morgenländischen Imagination einmal gesondert ausgewiesen hätte. So hinterlässt ihr Band einen zwiespältigen Eindruck: kluge Ausflüge in die Literatur und ihre Exegese verlieren sich im diffusen Ansatz, bei dem der Gegenstand zu ungenau definiert und die wissenschaftliche von der künstlerischen Aneignung der orientalischen Zivilisation zu wenig unterschieden sind. Ob dies Prolegomena einer Geschichte des deutschen Orientalismus sind, steht dahin. In jedem Fall aber ist es der bislang umfänglichste und anregendste Versuch des Baus von Brücken, selbst wenn manche windig sind, die zum Orientalismus oder zur ideologiearmen Normalbetrachtung des Orients in der Orientalistik, Kunst und Literatur führen können.

1 Mangold, Sabine: Deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert, 2004, vgl. meine Besprechung http://geschichte-transnational.clio-online.net/rezensionen/type=rezbuecher&id=59295929

2 Preißler, Holger: Die Anfänge der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft. In: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, 145 (1995) 2, S. 1-92.

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