J. A. Steiger (Hg.): 500 Jahre Theologie in Hamburg

Titel
500 Jahre Theologie in Hamburg. Hamburg als Zentrum christlicher Theologie und Kultur zwischen Tradition und Zukunft


Herausgeber
Steiger, Johann Anselm
Reihe
Arbeiten zur Kirchengeschichte 95
Erschienen
Berlin 2005: de Gruyter
Anzahl Seiten
504 S.
Preis
€ 128,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uwe Schmidt, Großhansdorf

Vierzehn Autoren waren (mit einer Ausnahme) an einer Ringvorlesung an der Universität Hamburg im Jahre 2004/2005 beteiligt, welche dem vorliegenden Buch den Namen gegeben hat. Anlass war die Gründung der Theologischen Fakultät fünfzig Jahre zuvor. Die Beiträge des Sammelbandes gelten der Darstellung großer Hamburger Theologen von Johann Bugenhagen (1485-1558) bis zu Helmut Thielicke (1908-1986), der ersten Ansätze weiblicher Theologie und den Außenseitern wie Wilhelm Heydorn, Hermann Strasosky und Kurt Leese. Das Buch dient darüber hinaus der Vermittlung theologischer Fachfragen, Kontroversen und geistesgeschichtlichen Grundfragen.

Entgegen der Erwartung, welche der Titels auslöst, 500 Jahre Theologie in Hamburg zu präsentieren, befasst sich der Sammelband ausschließlich mit der Theologie des Protestantismus, an deren Beginn, eingeführt durch Traugott Koch (S. 1-15), der Reformator Johann Bugenhagen steht. Ihm verdankt Hamburg seine kirchliche Grundordnung und die Gründung der Gelehrtenschule des Johanneums 1529. Die auf ihn folgende lutherische Orthodoxie stellt Martin Mulsow (S. 81-111) in seinem Beitrag über den Theologen und Philologen Johann Christoph Wolf (1683-1739) als den Anfang eines ”Spannungsbogens” dar, der sich über 250 Jahre bis in die Zeit einer ”im Kern toleranten Gelehrsamkeit” des Aufklärungszeitalters erstreckte. Die hier ausgetragenen gelehrten Kontoversen haben in Hamburg, der ”Stadt der üppigen Privatbibliotheken”, zu reichen Bücherschätzen geführt. Wolf war einer der Protagonisten dieser Bücherfreunde und -kenner. Mulsow bezeichnet ihn daher als den eigentlichen Begründer der heutigen Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek. Einen ergänzenden Langzeitüberblick über 150 Jahre Hamburger Geistes- und Theologiegeschichte vermittelt der Herausgeber Johann Anselm Steiger (S. 113-130): Hamburg wurde von der Aufklärung erst mit Verspätung erfasst. Entscheidende Impulse verdankte das neue Denken dem Professor für Moral und Eloquenz Johann Albert Fabricius (1688-1736), dessen Wirksamkeit als Philologe auch der christlichen Überlieferung Ralph Häfner würdigt (S. 35-57). Sein kosmologisch-theologisches Hauptwerk ”Physico-Theologie oder Natur-Leitung zu Gott” (1730) erschien in vierunddreißig Auflagen und fand größte internationale Beachtung.

Der Hamburger Ratsherr Barthold Hinrich Brockes (1680-1747) gestaltete, wie Anne Steinmeier (S. 17-33) eindrucksvoll ausführt, ein neues Gottesverständnis im Gleichklang mit der Natur dichterisch aus und wurde hierbei gleichermaßen durch Fabricius wie durch den älteren Philipp Nicolai (1601-1608) angeregt, der als Hauptpastor in St. Katharinen mit seinem ”Freudenspiegel” und seinen bis heute bekannten Liedtexten (”Wie schön leuchtet der Morgenstern” und ”Wachet auf, ruft uns die Stimme”) den Menschen in Zeiten der Pest Trost und Hilfe geben wollte. Als geistiger Nachfahre kann der Wandsbeker Dichter Matthias Claudius (1740-1815) angesehen werden. Brockes erregte mit seinem kosmologisch getönten Gottesverständnis, wie Andreas Großmann verdeutlicht (S. 59-78), den Argwohn der lutherischen Orthodoxie, personifiziert in der Gestalt des Hauptpastors an St. Katharinen, Johann Melchior Goeze (1717-1786). Dessen mit großer Erbitterung ausgetragene Kontroverse mit Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) ist Teil der europäischen Geistesgeschichte geworden. Das im Kern bis heute unvermindert aktuelle Thema „Theologie und Wahrheit“ hat auf weniger als 20 Seiten (S. 133-152) Gerhard Freund verständlich und für den Leser nachvollziehbar aufbereitet. Lessings Publikation der nachgelassenen Fragmente von Hermann Samuel Reimarus (1694-1768) provozierte mehr als dreißig Gegenschriften, die von Freund typologisch geordnet werden. Reimarus hatte im Namen der kritischen Vernunft die Notwendigkeit einer historischen Betrachtung der überkommenen Religion verdeutlicht, indem er den jüdischen Kontext für das Leben und Wirken Jesu herausstellte und ihn von der späteren Deutung durch Paulus abhob.

Ohne dass die äußere Struktur des Sammelbandes dies signalisiert, stellt der Beitrag von Hans-Martin Gutmann (S. 156-188) über Johann Hinrich Wichern (1808-1881) einen thematischen Einschnitt dar: Mit seinem Beitrag nähern sich die AutorInnen des zweiten Teils (273 Seiten gegenüber dem 152 Seiten umfassenden ersten Teil) unserer eigenen Zeit. Wicherns bis heute aktuelle und „ernstzunehmende Perspektive“ (S. 187) ist, dass er sich in besonderem Maße der sozialen Lebensprobleme der Ärmsten der Gesellschaft angenommen hat. Gutmann zieht hieraus die Folgerung: „In der gegenwärtigen Krise der sozialen Sicherungssysteme muss an diese evangelische Tradition angeknüpft werden.“ - Die Kirchen- und Dogmengeschichtlerin Inge Mager widmet sich (S. 189-223) den Hamburger Theologinnen Amalie Sieveking (1794-1859) und Elise Averdieck (1808-1907) und ihrem sozialen Wirken. Ihr Engagement als Privatlehrerinnen für Mädchen (S. 209, 211) erhielt dadurch ein besonderes Gewicht, dass Hamburg bis 1870 kein allgemeinbildendes staatliches Schulwesen besaß Mager führt (S. 421-432) auch in die Hamburger Theologischen Promotionen ein, die – 280 an der Zahl – übersichtlich in Form einer Tabelle (S. 433-473) präsentiert werden. Rainer Hering behandelt (S. 225-243) die Geschichte der Hamburger theologischen Fakultät und gibt einen Überblick (S. 361-397) über theologische Außenseiter. Michael Monter (S. 317-333) und Christian Hermann (S. 335-359) widmen sich dem zu Lebzeiten außerordentlich populären Theologen und Prediger Helmut Thielicke.

Acht der insgesamt neun Beiträge dieses zweiten Teils halten sich nach Umfang und Art der Darstellung – knapp, informativ und kritisch – an den Duktus, den die AutorInnen des ersten Teils exemplarisch vorgeführt haben. Lediglich der überlange und unklar strukturierte Beitrag von Theodor Ahrens über „Missionswissenschaft in Hamburg” (S. 245-314) fällt aus diesem Rahmen. Langatmige Inhaltsangaben aus der einschlägigen Literatur überfrachten den Text, in dessen Zentrum die Gestalt von Walter Freytag (1889-1959), Hamburger Missionsdirektor und Vorsitzender des Deutschen Evangelischen Missionsrates, steht. Ahrens verteidigt mit fehlerhaften Zitaten und suggestiven Formulierungen das lange dominierende unkritische Bild von Freytag als eines noblen Gelehrten und diplomatisch agierenden Missionspolitikers, integer auch gegenüber den Zumutungen und Anfechtungen des Nationalsozialismus und seiner Ideologie, gegen neuere, auf inzwischen erschlossenen umfangreichen Quellenstudien basierende Erkenntnisse des Hamburger Kirchenhistorikers Rainer Hering (1990) und des Birminghamer Missionswissenschaftlers Werner Ustorf (1999).1 Wie die meisten evangelischen Christen hat Freytag zu den Auswirkungen der Reichspogromnacht 1938 ebenso geschwiegen wie zur Deportation der Hamburger Juden 1941. Wie andere prominente protestantische Theologen hatte auch Freytag an den rassenideologischen, kolonialpolitischen und nationaltheologischen Verirrungen im Vorfeld des Nationalsozialismus und während der Diktatur teil. Diese wissenschaftlichen Defizite des Beitrags sind dem Verfasser und dem Herausgeber anzulasteten. Ohne den Beitrag von Ahrens hätte der Sammelband alle Chancen gehabt, zu einem historisch-theologischen Standardwerk zu werden.

Auf die aktuelle Problematik zu Beginn des 21. Jahrhunderts – Restauration, Säkularisierung, Pluralismus – und ihre Auswirkungen auf die Theologie macht schließlich der Systematiker und Religionsphilosoph Jörg Dierken (S. 399-419) aufmerksam. Die Urteilsfähigkeit in Religionsdingen zu stärken, ist, so resümiert er, die ureigenste Aufgabe der theologischen Wissenschaft: „Religion durch ihre Verbindung mit wissenschaftlicher Reflexion zu kultivieren, ist nicht nur ein Gewinn für die Kirchen, sondern auch für die Gesellschaft insgesamt“, denn „Religion ist eine gesellschaftliche Tatsache“ (S. 403).

Vorbildlich sind die beigefügten Register über die Promovierten (S. 475-478), die Fakultätsangehörigen (S. 479-483), die Nachweise zu insgesamt 21 in den Text einbezogene Abbildungen (S. 493-494) und das sorgfältig zusammengestellte Personenregister (S. 495-504).

Trotz der angeführten Einschränkungen erfüllt der Sammelband insgesamt seinen im Untertitel genannten Anspruch, Hamburg als ein Zentrum christlicher Theologie und Kultur auszuweisen. Die in dieser Stadt nicht zu übersehenden, von den AutorInnen lebendig dargestellten theologischen und geistesgeschichtlichen Kontroversen und öffentlichen Auseinandersetzungen geben dem Spannungsbogen zwischen Tradition und Zukunft eine herausfordernde Aktualität.

Anmerkungen:
1 Hering, Rainer, Die Missionswissenschaft in Hamburg 1909-1959, in: Ders.: Theologische Wissenschaft und “Drittes Reich”. Studien zur Hamburger Wissenschafts- und Kirchengeschichte im 20. Jahrhundert (Reihe Geschichtswissenschaft 20), Pfaffenweiler 1990, S. 35-85; Ders.: Theologie im Spannungsfeld von Kirche und Staat. Die Entstehung der Evangelisch-Theologischen Fakultät an der Universität Hamburg 1895 bis 1955 (Hamburger Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte 12), Berlin-Hamburg 1992; Ustorf, Werner, Sailing on the Next Tide. Missions, Missiology, and the Third Reich (Studien zur interkulturellen Geschichte des Christentums 125). Frankfurt am Main 2000.

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