Was heißt Verliererjustiz? Die Leipziger Prozesse gelten in der Forschung gemeinhin als „Prolog zu Nürnberg“1, aber entgegen der Bedeutung, welche die Zeitgenossen ihnen beimaßen, hat die Forschung sie bis vor wenigen Jahren kaum beachtet.2 Nach Gerd Hankel3 liefert nun Harald Wiggenhorn, Rechtsanwalt in München und Lehrbeauftragter der Berliner Humboldt-Universität, eine ausführliche Untersuchung. Er gliedert sie in sieben Großkapitel. Nach einer kurzen Einleitung widmet er sich zunächst den historischen und rechtlichen Grundlagen der Prozesse. Das zweite Kapitel ist dem ersten Prozess vom Januar 1921 sowie der deutschen Verfolgungspolitik gewidmet. Im dritten Kapitel behandelt Wiggenhorn die neun Hauptprozesse des Jahres 1921 und im vierten den zehnten Prozess im Jahre 1922. Es folgt eine Darstellung der restlichen Verfahren und der heimlichen Revisionen ab 1922. Das sechste Kapitel ist der juristischen und rechtshistorischen Rezeption der Leipziger Prozesse gewidmet; das siebte schließlich der „Verliererjustiz“. Die einschlägigen Gesetzestexte sind im Anhang abgedruckt. Die Quellengrundlagen von Wiggenhorns Arbeit sind insbesondere die Aktenbestände der Reichsanwaltschaft, des Reichsgerichts und des Auswärtigen Amts sowie entsprechende Akten in Paris, Brüssel und London.
Die komplexen juristischen Fälle untersucht Wiggenhorn vor dem Hintergrund der historischen Situation mit begrifflicher Klarheit, analytischer Schärfe und konsequent systematischer Herangehensweise. Er erhebt nicht den Anspruch zu klären, inwieweit und von welcher Kriegspartei im Ersten Weltkrieg tatsächlich Verbrechen begangen wurden (S. 6). Wiggenhorn verwendet die Begriffe „Kriegsverbrechen“ und „Kriegsverbrecher“, weil sie aufgrund des Gesetzes „zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und Kriegsvergehen“ vom 18.12.1919 in die deutsche Rechtssprache eingeführt worden seien und sich durchgesetzt hätten (S. 5f., S. 42, S. 401). In Leipzig ging es um die damals wie heute brisante Frage, „ob, auf welcher Grundlage und unter welchen Bedingungen ein Strafgericht Soldaten wegen ihrer völkerrechtswidrigen Kriegstaten zur Verantwortung ziehen kann“ (S. 5).
Im Ersten Weltkrieg beklagten sich alle Seiten über an ihren Soldaten oder der Zivilbevölkerung verübte Kriegsverbrechen. Während die Deutschen am Prinzip der Amnestierung festhielten (zuletzt 1918 in Brest-Litowsk), das Friedensverträge bis 1914 kennzeichnete, wollten die Alliierten im Krieg begangene deutsche Verbrechen ahnden. Gemäß den Versailler Strafbestimmungen verlangten sie die Auslieferung von rund 900 Personen. Trotz des Sturmes der Entrüstung, der sich in Deutschland erhob, stellte sich die Reichsregierung auf die Situation ein. Schon im August 1919 wurde ein Untersuchungsausschuss zur Prüfung etwaiger Völkerrechtsverletzungen eingesetzt und im Dezember 1919 das „Gesetz zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und Kriegsvergehen“ erlassen. Im Februar 1920 verzichteten die Alliierten vorerst auf die Auslieferung und nahmen das deutsche Angebot an, die Beschuldigten selbst vor Gericht zu stellen. Sie übergaben eine „Probeliste“ mit 45 Beschuldigten, deren Aburteilung sie forderten. Zunächst aber führte das Reichsgericht einen Prozess gegen drei Soldaten, die auf keiner Liste standen. Die Angeklagten – einfache Pioniere – wurden im Januar 1921 wegen Plünderungen in Belgien zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Während die Urteile von der bürgerlichen Presse als Signal gedeutet wurden, dass man es mit der aufgezwungenen Strafverfolgung ernst meine, brandmarkten linke Presseorgane sie als krassen Fall von Klassenjustiz.
Als dann von elf Fällen der Probeliste mit insgesamt 14 Beschuldigten bzw. Angeklagten nur sechs mit Verurteilungen endeten, schrieben englische Zeitungen schon von der „Leipzig farce“ (S. 187). In den drei von Großbritannien angestrengten Prozessen, deren Gegenstand die Misshandlung englischer Kriegsgefangener war, wurden die angeklagten Lageraufseher aufgrund eindeutiger Beweislage zu mehreren Monaten Gefängnis verurteilt. Im Fall des von einem deutschen U-Boot versenkten Lazarettschiffs „Dover Castle“ wurde der geständige Oberleutnant allerdings freigesprochen, weil das Gericht die Versenkung als von höherem Befehl gedeckt sah. Dieses Urteil war ein „außenpolitisches Debakel“ (S. 256) für die Reichsregierung. Von höheren Strafen im Fall des ebenfalls von einem U-Boot versenkten Lazarettschiffs „Llandovery Castle“, dessen Insassen zudem fast alle getötet worden waren, erhoffte man sich deshalb einen Umschwung der öffentlichen Meinung im Ausland. Zwei Oberleutnants zur See wurden wegen Beihilfe zum Totschlag zu jeweils vier Jahren Gefängnis verurteilt, nicht jedoch der ebenfalls angeklagte, aber flüchtige Kommandant.
In den von belgischer bzw. französischer Seite vorgebrachten fünf Fällen, in denen es um Grausamkeiten und die Tötung Verwundeter bzw. Gefangener ging, wurden sechs der sieben Angeklagten freigesprochen. Hervorzuheben ist der Prozess gegen General Karl Stenger, der als Brigadekommandeur Ende August 1914 befohlen haben sollte, keine Gefangenen zu machen. Zu den Offizieren, die den Befehl ausgeführt hatten, gehörte der ebenfalls angeklagte Major Benno Crusius. Stenger indes bestritt, einen solchen Befehl gegeben zu haben. Das Reichsgericht sprach ihn frei, verurteilte aber Crusius wegen fahrlässiger Tötung zu zwei Jahren Gefängnis. Freigesprochen wurden auch die anderen Angeklagten, trotz schwerwiegender Vorwürfe: Die Generäle Kruska und von Schack wurden beschuldigt, die Ausbreitung einer tödlichen Typhusepidemie unter Kriegsgefangenen nicht verhindert zu haben. Oberleutnant Adolf Laule, im Krieg in der Brigade Stengers eingesetzt, wurde die Tötung eines französischen Kriegsgefangenen vorgeworfen und dem Unteroffizier Max Ramdohr, belgische Kinder gequält und Geständnisse erpresst zu haben. Dem Arzt Oskar Michelsohn schließlich legte man zur Last, Kranke misshandelt und seine ärztlichen Pflichten vernachlässigt zu haben. In diesen Prozessen tendierte das Gericht dazu, die ausländischen Zeugenaussagen grundsätzlich in Zweifel zu ziehen.
Die Perzeption der Prozesse war in Deutschland und im Ausland ebenso verschieden wie die Wahrnehmung der Kriegsgräuel insgesamt. Während deutsche Soldaten beim Vormarsch im Westen geglaubt hatten, Belgier und Franzosen führten einen völkerrechtswidrigen Volkskrieg, der nur mit harten Präventiv- und Repressionsmaßnahmen zu bekämpfen sei, wähnten sich Belgier und Franzosen systematischem deutschem Terror ausgesetzt. Die unterschiedlichen Auffassungen begründeten verschiedene Erinnerungskulturen: Während man in Belgien und Frankreich den Franktireurmythos nicht als Ursache der deutschen Gewaltakte anerkannte, verschloss man sich in Deutschland der Einsicht, dass es überhaupt zu Grausamkeiten gekommen war.4 Vor diesem Hintergrund wurden die Leipziger Verfahren von den Alliierten als juristische Farce gewertet und in Deutschland als Zumutung empfunden. Deutsche Behörden erblickten in den sechs Verurteilten denn auch politische Häftlinge und keine Verbrecher. Schon bald zogen die Siegermächte ihre Prozessbeobachter aus Leipzig ab und erklärten, ihre Rechte gemäß dem Versailler Vertrag künftig wieder selbst wahrzunehmen. Ab 1923 wurden Hunderte von Deutschen in Belgien und Frankreich in Abwesenheitsverfahren verurteilt, während das Reichsgericht bis 1927 etwa 1.700 Verfahren stillschweigend einstellte.
Wiggenhorns Studie zeigt, dass Politik und Justiz in Deutschland im Spannungsfeld einer außen- wie innenpolitisch angespannten Situation agierten und mit sehr unterschiedlichen Erwartungen der deutschen und der alliierten Öffentlichkeit konfrontiert waren. Auch wenn die Resultate der Prozesse in juristischer und politischer Sicht niemanden zufriedenstellten, deutet Wiggenhorn sie als wichtigen Schritt der Rechtsentwicklung. Allerdings weist er auf die fehlende Reziprozität hin, welche deutscherseits den stärksten Einwand gegen die Prozesse lieferte (S. 464f.). Die Reichsregierung teilte die verbreitete Ansicht, „dass die einseitige Aburteilung deutscher Kriegsverbrecher unsittlich“ und eine „Vergewaltigung jeden Rechtsgefühls“ sei (S. 283). Aber der Ruf der Zeitgenossen nach der „Gegenliste“, das heißt nach einer Ahndung alliierter Kriegsverbrechen, war so legitim wie aussichtslos, weil der Sieger das „Tu quoque“-Argument nicht zuließ – und wohl niemals zulässt. Für Historiker/innen dürften die „Gegenliste“ und die in ihr verzeichneten alliierten Kriegsverbrechen allerdings einen interessanten, weil bislang vernachlässigten Untersuchungsgegenstand darstellen.
Im Vergleich zu anderen Arbeiten über die Leipziger Prozesse zeichnet sich Wiggenhorns Studie durch eine klare Systematik aus, welche eine tiefenscharfe Analyse der wichtigsten Gerichtsverfahren ermöglicht und das komplexe Thema gut lesbar darstellt. Wiggenhorn belegt, dass die deutschen Juristen die Prozesse gegen ihre Überzeugung führten, so dass die Frage des Rechts letztlich von der Frage der gekränkten nationalen Ehre dominiert wurde. Das machte die „Verliererjustiz“ aus, und deshalb sollten später in Nürnberg die Sieger urteilen. Leipzig ist somit historischer Vorläufer der NS-Kriegsverbrecherprozesse und deren Gegenpol zugleich. Beide Prozessmodelle haben nach Wiggenhorn die vor einigen Jahren erfolgte Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshof begünstigt. Durch ihn werde endlich vermieden, „wie in Nürnberg die Sieger oder wie in Leipzig die Unterlegenen urteilen zu lassen“ (S. 475).
Anmerkungen:
1 Selle, Dirk von, Prolog zu Nürnberg – Die Leipziger Kriegsverbrecherprozesse vor dem Reichsgericht, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 19 (1997), S. 192-209; Willis, James F., Prologue to Nuremberg. The Punishment of War Criminals of the First World War, Westport 1982.
2 Als ältere deutschsprachige Monografie vgl. lediglich: Schwengler, Walter, Völkerrecht, Versailler Vertrag und Auslieferungsfrage. Die Strafverfolgung wegen Kriegsverbrechern als Problem des Friedensschlusses 1919/20, Stuttgart 1982, insbes. S. 344-359.
3 Hankel, Gerd, Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2003 (vgl. hierzu meine Rezension: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-4-077>).
4 Vgl. Horne, John; Kramer, Alan, German Atrocities, 1914. A History of Denial, New Haven 2001, S. 327, S. 419 (siehe auch meine Rezension: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-3-182>). Dt. Ausgabe: Deutsche Kriegsgreuel 1914. Die umstrittene Wahrheit, Hamburg 2004.