G. Besier u.a. (Hgg.): Politische Religion und Religionspolitik

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Titel
Politische Religion und Religionspolitik. Zwischen Totalitarismus und Bürgerfreiheit


Herausgeber
Besier, Gerhard; Lübbe, Hermann
Reihe
Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung 28
Erschienen
Göttingen 2005: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
415 S.
Preis
€ 32,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Árpád von Klimo, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Der Band, basierend auf einer Dresdner Tagung vom Herbst 2004, versammelt 20 Vorträge namhafter Juristen, Philosophen, Theologen, Religions- und Sozialwissenschaftler, die sich aus verschiedenen Perspektiven mit dem Verhältnis von Religion bzw. Religiosität und Modernisierung in Europa und den USA beschäftigen. Entgegen der Annahme unterschiedlicher Säkularisierungsthesen haben die Modernisierungsprozesse des 20. Jahrhunderts nicht zu einer „Entzauberung“ (Max Weber), zu einem Rückgang oder einem Verschwinden religiöser Phänomene geführt. Zugleich lässt sich im Gefolge der Globalisierung eine fortschreitende Pluralisierung des religiösen Feldes in Form der Vermehrung sich religiös definierender Gruppen und in Gestalt einer zunehmenden Binnendifferenzierung innerhalb traditioneller religiöser Institutionen beobachten. Beide Entwicklungen führen nach Ansicht der Herausgeber dazu, dass sich Fragen der politischen und rechtlichen Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen religiösen Einstellungen, Praktiken und Institutionen einerseits und der politischen und staatlichen Sphäre andererseits neu stellen.

Der Sammelband vergleicht v.a. drei verschiedene Typen von Religionsrecht: die nordamerikanische „religionsfreundliche Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften“, den französischen Laizismus und das u.a. in Deutschland bestehende Staatskirchenrecht. Diese werden auf „Nutzen und Nachteil in ihrer unterschiedlichen Kapazität zur Verarbeitung religionskultureller Modernisierungsprozesse“ hin untersucht (S. 10). Die einzelnen Beiträge sind wiederum nach drei Perspektiven gruppiert, einer zeithistorischen, einer zeitgenössischen und einer systematischen. Da es disziplinär, zeitlich und thematisch sehr unterschiedliche Abhandlungen sind, können im Folgenden nur einige allgemeine, zusammenfassende Bemerkungen zu ihren Ergebnissen gemacht werden.

Im zeithistorischen Teil werden der Marxismus-Leninismus und der Nationalsozialismus als „politische Religionen“ untersucht, bzw. deren religiöse Elemente und Praktiken aufgezeigt. Ob damit die beiden Systeme hinreichend erklärt werden können, mag dahingestellt bleiben. Gerhard Besier analysiert in seinem Beitrag die Bedeutung katholischer „berufsständischer“ Ordnungsmodelle in einigen autoritären Diktaturen der Zwischenkriegszeit (Portugal, Österreich, Polen u.a.), die von Pius XII. gegenüber demokratischen Staaten bevorzugt worden seien. Besier weist nur am Rande darauf hin, dass die Umsetzung des theokratischen und modernitätsfeindlichen Programms der „Königsherrschaft Christi“, die sich hinter dieser Tendenz verbarg, überall auf Schwierigkeiten stieß, da die Diktatoren meistens die Einmischung der Kirche in ihre Politik ablehnten. Dass die vatikanische Diplomatie sich außerdem vehement für den Frieden eingesetzt hat, wird ausgespart.

Als Kontrast zum krisen- und kriegsgeschüttelten Europa (der Zeit vor 1945) mit seinen totalitären und autoritären Regimen – selbst das laizistische Frankreich wurde von rechtsradikalen Strömungen erfasst, die allerdings nicht aus eigener Kraft die Republik stürzen konnten –, erscheinen nun die USA. Die größte Demokratie der Welt ist aus Sicht einer ökonomischen Betrachtungsweise (wie sie Michael Zöller in seinem Beitrag einnimmt) nicht nur demokratischer und freiheitlicher, sondern auch von einer zunehmend religiöser werdenden Kultur geprägt, eine Entwicklung, die er unter anderem auf den Wettbewerb der Religionsgemeinschaften untereinander zurückführt. Die Gegenüberstellung der religionsgeschichtlichen Entwicklung der USA mit jener Europas in der Zeit vor 1945 ergibt aber meines Erachtens ein schiefes Bild, zumal religiös motivierte rechtsradikale Tendenzen (Antisemitismus, Antikatholizismus, Rassismus), die es dort auch gab, überhaupt nicht thematisiert werden: Während in Europa die Religion (bis 1945) totalitäre Tendenzen hervorbrachte oder zumindest begünstigte, förderte das nordamerikanische Verhältnis zwischen Religion und Politik die Demokratie. Dies ist doch ein etwas einfaches Bild! Wenn nun Besier die demokratische Traditionslinie des Katholizismus allein den Laienbewegungen zuschreibt, dann kann er „das Papsttum“ als „antidemokratisches“ „Kraftfeld“ des Katholizismus bezeichnen, und dies sogar bis zur Gegenwart: „Der politische Katholizismus, bis heute eine vitale Kraft, hat mindestens zwei Seiten“: eine demokratische und eine antidemokratische (S. 79). So gesehen versteht sich auch der Untertitel des „zeithistorischen“ Abschnittes des Buches besser: „Die Funktion von Religion in den autoritären und totalitären Diktaturen Europas einerseits und in den USA andererseits.“

Die beiden zeitgenössischen bzw. systematischen Themenblöcke des Bandes sind dagegen „vieldeutiger“, wie es im Untertitel des letzten Abschnittes heißt. Hier wird zwar auch das deutsche Staatskirchenrecht massiv angegriffen, etwa von dem ehemaligen Verfassungsrechtler Jürgen Kühling, der in den Amtskirchen geradezu eine Gefahr für die „offene Gesellschaft“ sieht. Andere Autoren, wie der Frankfurter Rechtsanwalt Hermann Weber oder der Jenaer Pädagoge Joachim Süss beklagen die „Diskriminierung“ von „neureligiösen“ Gruppen wie Scientology. Hermann Lübbe entlarvt in seinem Beitrag zu „Fundamentalismus, religiöse[m] Pluralismus und Aufklärung“ dagegen die „wissenschaftliche Weltanschauung“ als „Religionsersatz“ und polemisiert gegen die Postulierung eines von Kant abgeleiteten „Menschenbildes“: „Die großen politischen Weltanschauungen haben […] den Menschen am hohen ideologischen Bild seiner selbst gemessen und ihn zum Unmenschen erklärt, wenn er diesem Bild nicht entsprach.“ (S. 295) Die US-amerikanischen Religionswissenschaftler Charles H. Lippy und Derek Davis weisen in ihren Beiträgen auf die Konflikthaftigkeit und Unabgeschlossenheit des in einigen deutschen Beiträgen idealisierten US-amerikanischen Religionsrechts hin.

Das Buch dokumentiert eine teilweise sehr scharf, teilweise auf höchstem Niveau geführte, spannende Diskussion um die zukünftige Ausgestaltung der Religionspolitik in Europa angesichts von Pluralisierung und zunehmender Konflikthaftigkeit religiöser Fragen.

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