Die Alte Geschichte fristete in der DDR lange Zeit ein Schattendasein. Als Folge des Zweiten Weltkrieges war im Jahr 1955 kein einziger Lehrstuhl mehr besetzt, und auch in den folgenden Dezennien konnte das Fach nur an den Universitäten in Berlin, Halle an der Saale, Jena und Leipzig einigermaßen etabliert werden. Als Zentrum der altertumswissenschaftlichen Forschung in der DDR kristallisierte sich das 1969 eingerichtete "Zentralinstitut für Alte Geschichte und Archäologie" (ZIAGA) an der Ostberliner Akademie der Wissenschaften heraus. Nicht zuletzt aufgrund der langjährigen wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchungen des Marburger Althistorikers Karl Christ darf das Nischenfach seit der Vereinigung beider deutscher Staaten nicht mehr als Terra incognita gelten.1
Zur bedeutendsten Althistorikerin der DDR avancierte Elisabeth Charlotte Welskopf (1901-1979). Als Quereinsteigerin war die überzeugte Antifaschistin und Kommunistin erst Ende der 1940er-Jahre zur Alten Geschichte gekommen, wurde als erste Frau in die Berliner Akademie der Wissenschaften aufgenommen und begründete an der Humboldt-Universität eine liberale marxistische Forschungstradition. Popularität in der DDR erlangte Welskopf aber weniger durch ihr recht überschaubares wissenschaftliches Œuvre, sondern als Kinder- und Jugendbuchautorin. Der wirtschaftliche Erfolg ihrer Indianergeschichten, die sie zu einem weiblichen "Karl May des Ostens" werden ließen, ermöglichten ihr im Verbund mit ihrem politischen Einfluss eine im DDR-Wissenschaftsbetrieb selten anzutreffende Unabhängigkeit.2 Die DDR-Althistorie im Allgemeinen und Elisabeth Charlotte Welskopf im Besonderen standen im Mittelpunkt einer Tagung, die im November 2002 etwa 60 bis 70 Wissenschaftler/innen in Halle an der Saale zusammenführte. Der vorliegende Tagungsband umfasst rund zwei Dutzend kleinere Beiträge und Statements, die nicht immer mit den auf der Tagung gehaltenen Vorträgen identisch sind. Sie behandeln ein weit gespanntes Themenspektrum, das von Fragen der Alten Geschichte im Nationalsozialismus über den Geschichtsunterricht in der DDR und die Diskussion um die "asiatische" Produktionsweise bis zu persönlichen Erinnerungen an Welskopf reicht. Die nachfolgenden Anmerkungen beschränken sich auf die Aufsätze, die die DDR-Althistorie im engeren Sinne betreffen.
Nichts Neues enthält der Beitrag von Wolfgang Schuller über "Inhalte althistorischer Forschung in der DDR", der in der Substanz noch aus "Vor-Wende-Zeiten" stammt.3 Dem Geschichtsbild des Leipziger Althistorikers Rigobert Günther wendet sich Burkhard Meißner zu; er charakterisiert ihn als parteilichen Wissenschaftler/innen im Dienste der SED. Verdienstvoll sind die historischen Rückblicke von Detlef Lotze auf die Alte Geschichte in Jena und von Hans-Dieter Zimmermann auf die Alte Geschichte in Halle. Beide Zeitzeugen ergänzen, präzisieren und korrigieren wo nötig bereits vorliegende Untersuchungen, die aus der Distanz die Entwicklung zu erfassen suchten. Überaus lesenswert sind darüber hinaus die profunden Ausführungen von Hans Kloft zur antiken Wirtschaftsgeschichte in der DDR.
Wilfried Nippel setzt sich im Stile einer ausführlichen Rezension mit der 1957 erschienenen Welskopf-Monografie "Die Produktionsverhältnisse im Alten Orient und in der griechisch-römischen Welt" auseinander. Als Bilanz seiner umfassenden Analyse konstatiert Nippel, das Buch stelle ein "wissenschaftliches Desaster" dar (S. 183). Kurt Raaflaub widmet sich der Untersuchung der "Hellenischen Poleis" (4 Bde.) und den "Sozialen Typenbegriffen im alten Griechenland und ihr Fortleben in den Sprachen der Welt" (7 Bde.), die von Welskopf als internationale und interdisziplinäre Werke herausgegeben bzw. postum veröffentlicht wurden. Weitere Informationen zur Bedeutung von Welskopf liefert die Herausgeberin des Tagungsbandes, Isolde Stark, anhand von Archivmaterialien. Dabei gerät die Sequenz über die Entstehungsgeschichte der "Hellenischen Poleis" zu einer persönlichen Abrechnung mit ihrem früheren Vorgesetzten im ZIAGA, Joachim Herrmann, der mit Lug und Trug versucht habe, das Welskopf-Projekt zu verhindern.4 Allerdings wird aus der Darstellung Starks nicht recht deutlich, warum die "Hellenischen Poleis" trotz des starken Widerstandes der Institutsleitung wenig später erscheinen konnten. Einen weiteren biografischen Beitrag widmet Christian Mileta Heinz Kreißig, dem bedeutendsten Schüler von Welskopf, den er als "Mittler" zwischen verschiedenen Interessengruppen und Hierarchien im DDR-Wissenschaftsbetrieb einstuft. Nachhaltigen Eindruck hinterließ auf der Hallenser Tagung ein Vortrag der langjährigen "Klio"-Redakteurin Gabriele Bockisch, der die politische Repression gegenüber nichtmarxistischen Wissenschaftler/innen an der Leipziger Universität 1957/1958 zum Gegenstand hatte und in dem schwere Vorwürfe gegen den damaligen Aspiranten Rigobert Günther erhoben wurden. Warum der Vortrag von Bockisch unangekündigt in das Tagungsprogramm aufgenommen, aber im vorliegenden Protokollband nicht abgedruckt wurde, kann nur gemutmaßt werden.5
Wie deutlich geworden sein dürfte, fasst der Tagungsband ein Sammelsurium von disparaten Beiträgen unterschiedlichen Niveaus zusammen, bei dem die Person von Welskopf unter Einbeziehung von Anekdotischem überbetont wird, gleichzeitig aber wesentliche Aspekte der althistorischen Entwicklung in der DDR unterbelichtet bleiben. Pars pro toto ist auf die altertumswissenschaftliche Entwicklung an der Berliner Akademie der Wissenschaften hinzuweisen, die mit dem 1955 gegründeten Institut für griechisch-römische Altertumskunde, später dem erwähnten ZIAGA, seinen organisatorischen Ausdruck fand. Auch vermisst man die konsequente Berücksichtigung der Auslandskontakte beispielsweise im Rahmen des "Eirene-Komitees" oder der Internationalen Historikerkongresse. Dies gilt insbesondere für das Verhältnis zum bundesdeutschen Pendant, etwa anlässlich der Tagungen der "Mommsen-Gesellschaft" oder der Deutschen Historikertage in Ulm 1956 und Trier 1958. Ohne die Berücksichtigung des "historischen Kontextes" von westlichen und östlichen Einflüssen fehlen wesentliche Voraussetzungen zum tieferen Verständnis der DDR-Althistorie.6
Auf die Problematik des Ost-West-Konfliktes geht nur der Beitrag von Elisabeth Herrmann-Otto "Joseph Vogt und die antike Sklavenhaltergesellschaft" näher ein, der sich allerdings nicht auf die DDR, sondern die sowjetische Forschung bezieht. Möglicherweise zu Recht vertritt Herrmann-Otto die Ansicht, der Tübinger Althistoriker Vogt habe das berühmte Sklavereiprojekt der Mainzer Akademie der Wissenschaften 1950 vorrangig aus geistesgeschichtlich-humanistischen, nicht aus antikommunistischen Gründen initiiert. Dass Vogt im Nationalsozialismus zentrale Elemente der NS-Ideologie verbreitete und sieben Jahre zuvor das höchst problematische Gemeinschaftswerk "Rom und Karthago" im Rahmen des "Kriegseinsatzes" der Altertumswissenschaft herausgab, das den "Rassengegensatz" zwischen den antiken Großmächten zur Leitfrage der Forschung erhob, hätte jedoch in diesem Zusammenhang zumindest erwähnt werden sollen.7
Auch wenn der vorliegende Sammelband keinen Meilenstein zur Erforschung der DDR-Althistorie darstellt, ist sein Erscheinen zu begrüßen, da somit die Thematik wieder in das Bewusstsein der Fachöffentlichkeit gerückt wird. Zu bedauern bleibt allerdings, dass das Werk keine marxistischen Sichtweisen widerspiegeln konnte, da ehemalige Vertreter des Historischen Materialismus nicht an der Hallenser Tagung teilnahmen.
Anmerkungen:
1 Vgl. Christ, Karl, Zur Entwicklung der Alten Geschichte in Deutschland, Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 22 (1971), S. 577-593; Ders., Die Entwicklung in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Ders., Römische Geschichte und deutsche Geschichtswissenschaften, München 1982, S. 311-330 in: Fischer, Alexander; Heydemann, Günther (Hgg.), Geschichtswissenschaft in der DDR, Bd. 2, Berlin 1990, S. 59-80; Schuller, Wolfgang, Alte Geschichte in der DDR. Vorläufige Skizze, in: Fischer, Alexander; Heydemann, Günther (Hgg.), Geschichtswissenschaft in der DDR, Bd. 2, Berlin 1990, S. 37-58; Willing, Matthias, Althistorische Forschung in der DDR, Berlin 1991.
2 Audring, Gert, Humanistin und Forscherin, in: Elisabeth Charlotte Welskopf, Das Altertum 33 (1987), S. 121-124; Jähne, Armin, Elisabeth Charlotte Welskopf (1901-1979). Gedanken zu ihrem 100. Geburtstag, in: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät 53 (2002), S. 119-131.
3 Schuller (wie Anm. 1).
4 "Herrmann erdreistet sich zu lügen", so Isolde Stark (Die Alte Geschichte in Berlin, DDR. Zur Bedeutung von Elisabeth Charlotte Welskopf, S. 229-251, hier S. 247).
5 Wie aus dem Beitrag von Burkhard Meißner (Die Alte Geschichte an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Anmerkungen zum Geschichtsbild von Rigobert Günther, S. 90-107, hier S. 101, Anm. 37) hervorgeht, war Bockisch offenbar selber negativ in die Vorgänge in Leipzig involviert und hatte die Aberkennung der akademischen Grade für den aus Leipzig vertriebenen Althistoriker Helmut Thierfelder gefordert.
6 Willing, Matthias, Die DDR-Althistorie im historischen Kontext, in: Quaderni di storia 52 (2000), S. 245-275.
7 Zu Vogt vgl. Christ, Karl, Joseph Vogt (1895-1986), in: Ders., Neue Profile der Alten Geschichte, Darmstadt 1990, S. 63-124; Ders., Homo novus. Zum 100. Geburtstag von Joseph Vogt, in: Historia 44 (1995), S. 504-507; Königs, Diemuth, Joseph Vogt. Ein Althistoriker in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Basel 1995.