Bei der großangelegten, von Werner Paravicini und Michael Werner herausgegebenen und auf insgesamt 11 Bände angelegten „Deutsch-Französischen Geschichte“ handelt es sich um ein – gemessen an der Bedeutung der deutsch-französischen Beziehungen – längst überfälliges Projekt. Ziel des Gesamtwerkes, das neben wichtigen deutschen und französischen Nachwuchswissenschaftler/innen auch auf die Kompetenz der Fachreferenten des Deutschen Historischen Instituts (DHI) Paris zurückgreifen kann, ist es, „ein möglichst umfassendes Bild der vielfältigen Berührungen zwischen Deutschland und Frankreich auf allen ihren Ebenen – der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen ebenso wie der bisher meist privilegierten politischen – zu vermitteln“ (S. 9).
In dieser Reihe ist jetzt der Band für den Zeitraum von 1500 bis 1648 erschienen. Der Verfasser, zuständig am DHI Paris für die erste Hälfte der Frühen Neuzeit, stellte seinen Sachverstand zum Thema „Reich und Frankreich“ durch einschlägige Veröffentlichungen mehrfach unter Beweis.
Es gelingt dem Verfasser, angesichts des beachtlichen Bearbeitungszeitraums von anderthalb, die europäische Geschichte fundamental verändernden Jahrhunderten, einen pointierten Überblick zu bieten. Der Aufbau des Bandes folgt dabei einer auch in anderen historischen Kompendien erprobten Struktur: einem in die geschichtlichen Eckpunkte der Epoche einführenden Überblick schließen sich die Forschungssituation erörternde „Fragen und Perspektiven“ sowie eine auf die Gliederung des Bandes bezogene systematische Bibliografie an.
Es ist zweifelsohne dem von der politischen Historiografie dominierten Forschungsstand geschuldet, daß der 1. Teil gewissermaßen sein Schwergewicht auf die Entwicklung der Beziehungen auf der staatlichen Ebene zwischen den politischen Akteuren und Territorien legt. Der Verfasser präsentiert diesen darstellenden Teil trotz der großen Materialfülle überschaubar und überzeugend. Zum einen wird deutlich, in welchem Maß sich der französisch-habsburgische Antagonismus als machtpolitischer Hegemonialkonflikt der Formung Europas aufgezwungen hat, wobei mit der Konfrontation zwischen dem eher national verfaßten Königtum der Franzosen und dem übernationalen und mit der Kaiserkrone ausgestatteten dynastischen Herrschaftsverband der Habsburger sich zwei grundverschiedene Ordnungsmodelle gegenüber standen.
Plausibel ist auch die chronologische Dreiteilung des behandelten Zeitraumes:
Die erste Phase wird symbolisiert durch Person und Herrschaft Karls V., für Frankreich geradezu die Verkörperung des Programms der „Universalmonarchie“. Hier bildeten sich Perzeptions- und Handlungsmuster heraus, die auch nach der Abdankung des Kaisers und über die deutsch-französische Geschichte im engeren Sinne hinaus für Europa als pluralistisches und konkurrierendes politisches Gefüge prägend blieben.
Im zweiten Abschnitt des 16. Jahrhunderts drehte sich für Frankreich die Situation: Dem Triumph, die Pläne Karls V. erfolgreich abgewendet zu haben, folgte der Niedergang durch die Bürger- und Konfessionskriege, die Staat und Königtum an den Rand der Auflösung führten und die französische Außenpolitik – die Kooperation mit protestantischen Potentaten im Reich und in Europa rückte in den Mittelpunkt – einmal mehr zum reinen Überlebenskampf werden ließen. Der Verfasser unterstreicht, in welch verhältnismäßig kurzer Zeit es der Politik Heinrichs IV. gelang, über die innere Konsolidierung das Land wieder in den Kreis der europäischen Mächte zurück zu führen und gleichzeitig durch die vielschichtige Interventionspolitik im Reich die Grundlage für die später durchschlagenden Erfolge Frankreichs gegen Habsburg zu legen.
So erscheint die dritte Phase – die Entscheidung des französisch-habsburgischen Gegensatzes in der 1. Hälfte des 17. Jahrhunderts – als folgerichtiger Kulminationspunkt: Das Reich wurde für die Außenpolitik Richelieus zu einem Ort, an dem die Zukunft Europas im Sinne des Staatenpluralismus geprägt entschieden wurde. Die vom Verfasser präsentierten Ergebnisse einer dazu ergiebigen Forschungslandschaft belegen sehr anschaulich diese grundlegende Entwicklungsphase deutsch-französischer Geschichte bis hin zum Westfälischen Frieden.
Von besonderem Wert ist auch der forschungsorientierte 2. Teil des Buches. Vom politik-, diplomatie- und militärgeschichtlichen „Übergewicht“ des 1. Teils sich auf gelungene Weise abhebend werden hier wirtschaftliche, soziale und kulturelle Themen behandelt, wobei in sehr konzentrierter Form vorliegende, zum Teil ältere Forschungsergebnisse mit neuen, weiterführenden Fragestellungen konfrontiert werden, wodurch ein breites und anregendes wissenschaftliches Spektrum entsteht.
Bei der Frage nach kulturellen und sozialen Interdependenzen ist man bislang noch verstärkt auf zum Teil ältere Detailstudien angewiesen. Unter den jüngeren Forschungsrichtungen gilt zu Recht die Kulturtransferforschung als viel versprechende „Analyse einer durch die Fixierung auf die Vorstellung autonomer Nationalkulturen ... noch nicht deutlich gesehenen interkulturellen Verflochtenheit“ (S. 196).
Größere Aufmerksamkeit dürften auch die deutsch-französischen Wirtschaftskontakte beanspruchen, deren Erforschung im allgemeinen weniger beachtete Sachverhalte in den Blick rückt; so beispielsweise die Rolle Lyons als bedeutender Handelsplatz für deutsche Kaufleute, deren Kredite der französischen Krone bei der Finanzierung ihrer Kriege gegen Karl V. weiterhalfen.
Breiten Raum nimmt die Behandlung von „Frühformen nationalen Bewußtseins“ ein. In deutlicher Absetzung vom Massenphänomen des bürgerlichen Zeitalters, so der Verfasser, sei die Untersuchung frühneuzeitlicher europäischer Formen nationaler Selbst- und Fremdwahrnehmung von besonderem Interesse. Im deutsch-französischen Kontext ist demnach für die Zeit zwischen 1500 und der Mitte des 17. Jahrhunderts bereits ein relativ fortgeschrittener Entwicklungsstand nationaler Identitätsmuster zu konstatieren, in denen sich das Bewusstsein historischer, politischer, sprachlich-kultureller und abstammungsmäßiger Gemeinsamkeiten spiegelt.
Das Kapitel „Die Grenze als politische Realität und ideelle Konzeption“ beinhaltet eine nützliche Einführung in die publizistische Diskussion über die „historische“ und „natürliche“ Qualität der Rheingrenze. Die Entwicklung der Souveränitätsproblematik lässt sich exemplarisch an der Ausbildung der Grenzen zwischen Deutschland und Frankreich veranschaulichen: von der faktischen Besetzung von Räumen über den Erwerb von Rechts- und Lehnstiteln bis zur völkerrechtlich sanktionierten Territorialgrenze. In Bezug auf die Wahrnehmung und Sinndeutung von Grenzfragen und ihre Auswirkung auf die Bildung von kollektiven Identitäten gibt es hier noch großen Forschungsbedarf.
Um Abgrenzungen geht es auch in den Ausführungen über „Kaiser und König“. Das Ringen um die machtpolitische Vorherrschaft und den ideellen Vorrang in der Christenheit betraf das deutsch-französische Verhältnis im Kern. So hat die viel zitierte Formel „rex est imperator in regno suo“ ihre markante Prägung erst in der Selbstbehauptung Frankreichs gegenüber den universalen Ansprüchen des römisch-deutschen Kaisertums erhalten, während umgekehrt der den ersten Rang unter den christlichen Herrschern beanspruchende Titel eines „Rex christianissimus“ zur Legitimation einer offensiven außenpolitischen Interventionspolitik herhielt.
Zur Frage nach der Bedeutung von Religion und Konfession und ihren grenzüberschreitenden Wechselwirkungen haben sich in beiden Ländern in den letzten Jahrzehnten wichtige Forschungsparadigmen entwickelt. Neben dem kontrovers diskutierten Themenkreis der französischen Luther-Rezeption und der Entstehung eines eigenständigen Protestantismus in Frankreich hat die Auseinandersetzung mit dem Begriff „Konfessionalisierung“ als einem Forschungskonzept, das die jüngere Historiografie zur Frühen Neuzeit im Reich prägt, auch hier ihre Spuren hinterlassen.
Der 3. Hauptteil des Buches bietet eine ausführliche, an den Aufbau des Bandes angelehnte, 900 Titel umfassende Bibliografie. Den Erwartungen an ein Nachschlagewerk gerecht werden auch eine Zeittafel, ein Personenregister sowie zwei Karten zum deutsch-französischen Grenzraum und den habsburgischen Territorien in Europa.
Es handelt sich insgesamt um ein Handbuch, das gleichermaßen für Forschung und Lehre geeignet ist und aufgrund der guten Lesbarkeit darüber hinaus jeden an der deutsch-französischen Geschichte Interessierten ansprechen kann. Umso bedauerlicher ist die Verlagspolitik, die diesen wie jeden anderen Band der „Deutsch-Französischen Geschichte“ nur mit der gesamten Reihe zu beziehen erlaubt; eine Entscheidung, die einer breiten Rezeption dieses nützlichen Buches von vornherein entgegenwirkt.