Was verstanden Voltaire und seine Zeitgenossen im 18. Jahrhundert schon von „Industrie“? Nicht viel, mögen die meisten glauben, kam die Industrielle Revolution historisch doch erst später richtig in Gang. Daher musste den französischen Aufklärern auch jede Vorstellung davon fehlen, was mit diesem Begriff einmal gemeint sein würde. Florian Schui widerspricht dieser weit verbreiteten Ansicht und zeigt in seiner Cambridger Dissertation, wie viele der Kategorien, mit denen wir das Phänomen der Industrialisierung heute erfassen, bereits im Zeitalter der Aufklärung diskutiert worden sind. Zwar bleibt nach wie vor richtig, dass Dampfmaschine, Eisenbahn und Fließbandarbeit Erfindungen des 19. und 20. Jahrhunderts sind, und auch die Schornsteine der französischen Fabriken rauchten zu Voltaires Zeiten noch sehr verhalten. Doch bereits im 18. Jahrhundert war in Frankreich, England und in Teilen Deutschlands ein fundamentaler Wandel von Arbeit, ökonomischer Nachfragestruktur und Produktionsweisen zu spüren, der von den Zeitgenossen, die in der Tat eine neue Zeit heraufziehen sahen, auch öffentlich reflektiert worden ist.
Nun hat die wirtschaftsgeschichtliche Forschung bis heute die Frage nicht eindeutig beantworten können, wann die Industrialisierung eigentlich wirklich begann, und auch Schui liefert auf diese in der Forschung umstrittene Frage keine Antwort. Dies ist aber auch nicht seine Absicht. In erster Linie geht es ihm um eine Rekonstruktion von zeitgenössischen Vorstellungen, die sich in der Epoche Voltaires mit dem Begriff „Industrie“ verbanden, weniger um eine wirtschaftsgeschichtliche Spurensuche nach den Anfängen der Industrialisierung. Daher handelt es sich bei Schuis Studie vor allem um eine ideengeschichtliche Arbeit, die jedoch auch Wirtschaftshistoriker/innen etwas zu sagen hat, weil sich in französischen Debatten über Industrie bereits im 18. Jahrhundert viele jener historischen Transformationsprozesse widerspiegeln, die der Industriellen Revolution später zur Voraussetzung wurden. Schui greift methodisch auf den ideengeschichtlichen Ansatz der Cambridge School um J. G. A. Pocock und Quentin Skinner zurück, entwickelt ihn jedoch weiter, indem er die zeitgenössischen Ideen über Industrie nicht nur in ihrem intellektuellen Kontext stellt, sondern gezielt auch in ihrer Interaktion mit den parallelen ökonomischen und sozialen Wandlungsprozessen untersucht. Damit berührt er Fragestellungen, die seit einigen Jahren auch in Publikationen aus dem Umfeld des Centre for History and Economics in Cambridge und des Eighteenth Century Centre in Warwick thematisiert werden.1 Schui beschäftigt sich ohne Ausnahme mit den großen Denkern der Epoche, die meistens sehr komfortabel durchs Leben schritten. Seine Untersuchung sollte daher zusammen mit den Arbeiten von Hans Medick und anderen Vertretern der Mikrohistorie gelesen werden, welche die frühen Abschnitte der Industrialisierung „von unten“ her betrachten.2
Die Leitfrage am Beginn von Schuis Untersuchung lautet: Was meinte man im 18. Jahrhundert eigentlich mit Industrie? Schui sucht zunächst nach den begriffsgeschichtlichen Ursprüngen dieses heute sehr gebräuchlichen Schlagwortes. Dabei zeigt Schui im Übrigen, dass es keineswegs Leibniz war, der das Wort Industrie im Deutschen zuerst verwendet hat. Die Verfasser des entsprechenden Artikels in den „Geschichtlichen Grundbegriffen“, die diese Zuschreibung vornahmen, sind demnach Opfer eines Übersetzungsfehlers aus dem 19. Jahrhundert geworden (S. 74 ff.). Im Französischen war „Industrie“ anfangs noch kein eindeutiger Begriff. Auf der einen Seite verstand man darunter individuelle Qualitäten wie Fleiß oder Erfindungsgabe, doch auch als Sammelbezeichnung für unterschiedlichste Produktionsweisen und -prinzipien fand das Wort bereits Verwendung. Somit gab es zwei Bedeutungsebenen, eine ältere, qualitative („industrieux“) und eine neuere, sektorale („industriel“), die zunächst schwer voneinander zu trennen waren. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts allerdings verschob sich der Wortgebrauch in die sektorale Sinnebene, auch wenn die ursprünglichen Inhalte des Begriffs noch lange gegenwärtig blieben. Diese semantische Verschiebung lässt sich kaum allein mit der aufklärerischen Vorliebe für die Erfindung von Kategorien aller Art erklären, sondern ist doch eher als Reaktion auf eine sich wandelnde gesellschaftliche Wirklichkeit zu verstehen. Schui zufolge bestand dieser Wandel nicht erst in der Ausbreitung einer maschinengestützten Produktionsweise im 19. Jahrhundert, mit der heute viele Wirtschaftshistoriker/innen die Industrialisierung beginnen lassen, sondern reicht historisch weiter zurück. Schon im 18. Jahrhundert, so formuliert Schui im Anschluss an die Untersuchungen des in Kalifornien lehrenden Historikers Jan de Vries, beobachtete man die Transformation des institutionellen Rahmens, in dem ökonomisches Handeln stattfand, sowie einen fundamentalen Wandel individueller ökonomischer Verhaltensweisen. Diese „industrious revolution“ war der eigentliche Gegenstand aufgeklärter ökonomischer Zeitdiagnostik und schuf zugleich erst die Voraussetzungen, unter denen sich die „industrial revolution“ später entfalten sollte. Und sie kam nicht durch die Hintertür. Schui betont die große Aufmerksamkeit, mit der die europäischen Aufklärer die ökonomischen Entwicklungen ihrer Zeit verfolgten: „The new word did not appear quietly: it was formed in some of the most heated debates of the eighteenth century.“ (S. 10)
In den zeitgenössischen Debatten über Industrie herrschte unter französischen und deutschen Beobachter/innen wenig Einvernehmen über eine Reihe wichtiger Fragen. Es ist jedoch bemerkenswert genug, dass diese Fragen überhaupt gestellt wurden: Ist Industrie etwas Gutes oder etwas Schlechtes? Macht es ein Land arm oder reich? Führt Industrie zu moralischer Korruption? Kann oder muss man sie wirtschaftspolitisch steuern, und wenn ja – wie? Die Argumentationslinien können hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden, doch es mag nicht überraschen, dass etwa Jean Jacques Rousseau, den Schui nur am Rande erwähnt, kein Freund der Industrie war, weil er dahinter nur einen Schritt zur weiteren Entfremdung des Menschen von seiner Natur vermutete. Der Abbé de Saint-Pierre wiederum unterschied auf der einen Seite zwischen der Produktion und Konsumption von Luxusgütern (die er für moralisch verwerflich hielt) und der wohltuenden Wirkung der Arbeit an nutzbringenden Produkten auf der anderen Seite. Voltaire machte eine solche Unterscheidung nicht. Industrie war für ihn generell wünschenswert, doch sie konnte seiner Meinung nach nur unter einer weisen Regierung gedeihen, die dafür die notwendigen Rahmenbedingungen schafft. Anders als Saint-Pierre hielt er die Wirtschaftspolitik Colberts unter Ludwig XIV. diesbezüglich für beispielgebend, aber auch die Modernisierungsbestrebungen Friedrichs II. in Deutschland. Die Physiokraten dagegen, die selbst mehr an der Landwirtschaft interessiert waren, gaben sich marktliberal; sie plädierten für einen weitgehenden Rückzug des Staates aus der Wirtschaft und fanden mit dieser Haltung Zustimmung bei Adam Smith und Turgot.
Ähnlich kontrovers verliefen im 18. Jahrhundert die Debatten über die europäische Übersee-Expansion, die ebenfalls in diesen Zusammenhang gehören. Einigkeit bestand lediglich darin, dass die Entwicklung der Industrie vor nationalen Grenzen nicht haltmacht und der transkontinentale Handel mit all seinen politischen und kulturellen Folgen in Zukunft noch an Bedeutung gewinnen würde. Weniger klar war jedoch, wie dies zu beurteilen sei. Die radikalen Literaten Raynal und Diderot verurteilten die kolonialen Aktivitäten europäischer Mächte in Übersee moralisch auf das Schärfste, hielten sie aber für durchaus profitabel, weswegen bekanntlich auch Voltaire sein Geld bei der französischen Ostindienkompanie gut angelegt sah. Montesquieu dagegen hielt Europas Investitionen in Ost- und Westindien für Geld- und Zeitverschwendung. Gleichzeitig, im Jahr 1750, sorgte Friedrich II. mit seiner Gründung der Preußischen Asiatischen Handlungscompanie für große Unruhe unter den konkurrierenden Kolonialmächten Europas. Dass sein Unternehmen einige Jahre später Schiffbruch erleiden sollte, konnte zu diesem Zeitpunkt noch niemand ahnen.
Schui zeigt in seiner flüssig geschriebenen Studie, wie die europäische Aufklärung Ideen von Industrie entwickelt hat, die in mancher Hinsicht ihrer vollständigen Verwirklichung noch voraus lagen. Voltaire und seine Zeitgenossen haben den wirtschaftlichen Entwicklungen ihrer Epoche wohl weit mehr Aufmerksamkeit gewidmet, als dies bisher gesehen worden ist. Damit beleuchtet Schui einen von der Wirtschaftshistorie bisher nur selten wirklich ernst genommenen Aspekt aufgeklärter Debatten im 18. Jahrhundert und bemüht sich gleichzeitig um eine Verbindung von Ideen-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte, die inzwischen auch im deutschsprachigen Raum zunehmend auf Interesse stößt.3
Anmerkungen:
1 Siehe unter anderem: Rothschild, Emma, Economic Sentiments. Adam Smith, Condorcet and the Enlightenment, Cambridge 2001; Sonenscher, Michael, Work and Wages. Natural Law, Politics, and the Eighteenth-Century French Trades, Cambridge 1989; Stedman Jones, Gareth, An End to Poverty? A Historical Debate, London 2004; in Warwick vor allem die Publikationen von: Berg, Maxine (Hg.), Luxury in the Eighteenth-Century. Debates, Desires, and Delectable Goods, Basingstoke 2003; Jones, Colin, The Great Nation, London 2002.
2 Etwa Medick, Hans, Weben und Überleben in Laichingen 1650-1900. Lokalgeschichte als allgemeine Geschichte, Göttingen 1996.
3 Berghoff, Hartmut; Vogel, Jakob (Hgg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt am Main 2004.