Title
Der deutsche Katholizismus und Polen (1830-1849). Identitätsbildung zwischen konfessioneller Solidarität und antirevolutionärer Abgrenzung


Author(s)
Scholz, Stephan
Series
Einzelveröffentlichung des Deutschen Historischen Instituts Warschau 13
Published
Osnabrück 2005: fibre Verlag
Extent
430 S.
Price
€ 35,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Hans-Jürgen Bömelburg, Nordost-Institut Lüneburg

In der lebhaften Forschung zum Katholizismus im deutschen Sprachbereich des 19. Jahrhunderts ist dessen Verhältnis zu Polen und zum polnischen Katholizismus in den letzten Jahrzehnten kaum in den Blick genommen worden. Behandelt wurden insbesondere für die Zeit vor der Formierung eines katholischen Milieus als sondergesellschaftliche Formierung ältere katholische Subgesellschaften, die ausgreifende öffentliche Frömmigkeit sowie die Ausbildung eines innerdeutschen katholischen und ultramontanen Kommunikationszusammenhangs in Aufnahme und Abgrenzung zum französischen Ultramontanismus. 1

Stephan Scholz fügt in die Untersuchung dieser Selbstdefinitions- und Abgrenzungsdiskussionen ein weiteres Moment ein, nämlich den katholischen Blick auf Polen, den großen katholischen Nachbarn im Osten. Einleitend bestimmt er den polnischen Katholizismus als ein Objekt, an dem sich das Selbstbild der deutschen Katholiken durch Identifizierung, Solidarisierung, aber auch Abgrenzung (insbesondere von den „polnischen Revolutionären“) schärfen konnte. Zudem konnten die polnischen Katholiken als Glaubensgenossen unter der Herrschaft der nichtkatholischen Mächte Russland und Preußen tendenziell Vergleiche mit der Situation der deutschen Katholiken im preußischen Rheinland bis hin zu Solidarisierungseffekten hervorrufen, was Projektionsflächen und Demonstrationsobjekte für eigene weitergehende weltanschaulich-katholische Konzepte geschaffen habe. Deshalb besitze der deutsche Polendiskurs eine erhebliche Bedeutung für die Bestimmung einer eigenen Identität des deutschen Katholizismus als Bewegung (S 20).

Als Zäsuren werden die europäischen Revolutionsjahre 1830 und 1848 gewählt, wobei für die Wahrnehmung Polens neben dem polnischen Novemberaufstand 1830 und dem „polnischen Aufstand“ im Großherzogtum Posen 1848 auch der polnische Aufstand von 1846 in Rechnung zu stellen ist, der in erster Linie gegen die Habsburgermonarchie, die katholische Schutzmacht par excellence, gerichtet war.

Als Quellenbasis dient Scholz in erster Linie die deutschsprachige katholische Presse zwischen 1830 und 1849, wobei sich der Autor der Heterogenität des Materials infolge der Zensurbestimmungen und -phasen bewusst ist. Intensiv herangezogen werden zudem die Presse des Revolutionsjahres 1848 und die stenografischen Berichte der Paulskirchenversammlung.

Gegliedert ist die Darstellung in sechs Kapitel: Nacheinander werden die katholischen Reaktionen auf den polnischen Aufstand 1830, auf die Nachrichten über konfessionelle Unterdrückung in Russland 1830-1848, das Verhältnis zum polnischen Exil in Deutschland und Westeuropa, die Reaktionen auf den Aufstand in Galizien und in der „freien Stadt“ Krakau 1846, die Wahrnehmung der preußischen Kirchenpolitik gegenüber den polnischen Katholiken in den preußischen Ostprovinzen und schließlich – auf ca. 100 Seiten – das Revolutionsjahr 1848 und die Einstellung der deutschen Katholiken zur „Polen-Debatte“ in der Paulskirche behandelt. Diese Gliederung liefert Raum für zahlreiche nuancierte, aber auch gegenläufige Beobachtungen, die das bisherige Wissen über den Polendiskurs der deutschen Katholiken erheblich erweitern.

Der Aufstand 1830 wurde von den deutschen Katholiken verhalten aufgenommen. Im Unterschied zu den französischen Reaktionen eines Lamennais und Montalembert, die das Ideal eines gemeinsamen Kampfes der Katholiken gegen Despotie und Unglauben verfochten, war der deutsche Katholizismus prinzipiell antirevolutionär eingestellt und sah in dem Aufstand in erster Linie Hochverrat und ein Abgleiten in das Chaos: Katholiken, die sich an dem Aufstand beteiligten, hätten als „dekatholisiert“ zu gelten. Im Gefolge dieser Wahrnehmungsunterschiede kam es nach dem päpstlichen Breve 1832, das den Aufstand verurteilte, zu publizistischen Diskussionen zwischen deutschen und französischen Zeitschriften, in denen deutsche ultramontane Stimmen das Polenengagement der französischen Ultramontanen scharf ablehnten. Nur Minderheitenpositionen bildeten aufgeklärt katholische Stimmen, die an die liberale Polenbegeisterung anknüpften oder restaurative Positionen, die den legitimen Kampf eines fromm-theokratischen Volkes hervorhoben.

Die konfessionelle Solidarität mit den polnischen Glaubensbrüdern stellte das wichtigste Band zwischen deutschen und polnischen Katholiken dar, das zudem durch das Konfliktmuster „Staat gegen Kirche“ auch für deutsche Katholiken Aktualität besaß. Scholz zeichnet diese Solidaritätsebene in der deutschen Wahrnehmung der russischen „Katholikenverfolgungen“ nach, differenziert jedoch nicht zwischen russischen Maßnahmen gegenüber Katholiken und Unierten. Im katholischen Stereotypenhaushalt verbreiteten sich infolge dieser Wahrnehmung Vorstellungen von polnischen „Vorkämpfern für den Glauben“ und einem „Bollwerk gegen den Osten“, die bei Bedarf durchaus auch gegen die preußische Konfessionspolitik gewandt werden konnten.

Insbesondere anhand des Münchner Görres-Kreises zeichnet Scholz das Verhältnis zwischen organisiertem deutschen Katholizismus und polnischer Emigration nach: Unmittelbare polnische Stimmen sind in der katholischen Presse nur selten nachweisbar und auch in den wenigen unmittelbaren Beiträgen zur „polnischen Frage“ blieb trotz Bemühungen der polnischen Emigranten der Ton eher distanziert. Lediglich in den Münchner „Historisch-Politischen Blättern“ kamen seit 1838 Emigranten zu Wort, die den spezifisch christlichen „Beruf der Völker“ nachzeichneten, wobei zwischen dem polnischen Beruf als „Bollwerk der Kirche gegen Schisma und Unglauben im Osten“ und dem deutschen Reichsgedanken einer „weltlichen Schutzmacht der Kirche“ Überschneidungsbereiche bestanden.

Dagegen bedeutete der polnische Aufstand in Galizien 1846 gegen die katholische Schutzmacht Österreich ein zentrales Moment der Entfremdung zwischen deutschen und polnischen Katholiken, da die antiösterreichische Ausrichtung des Aufstands unter deutschen Katholiken Unverständnis und Ablehnung auslöste. Selbst die habsburgische Politik des Ausspielens von bäuerlichen Ressentiments gegen den Adel wurde in der katholischen Presse gebilligt und in die Meinungsdifferenzen zwischen (eher propolnisch argumentierenden) französischen Katholiken und den proösterreichisch eingestellten deutschen Katholiken griff sogar mit Joseph Görres der Doyen katholischer Publizistik persönlich ein.

Bemerkenswert ist dagegen, dass eine Wahrnehmung des Konflikts zwischen preußischem Staat und Katholiken in den preußischen Ostprovinzen (Großherzogtum Posen, Westpreußen, Ermland) in der katholischen Publizistik weitgehend unterblieb: Zwar wurde der Kölner „Mischehenstreit“ breit thematisiert, doch fand die parallele Amtsenthebung des Erzbischofs von Posen-Gnesen Marcin Dunin in der katholischen Publizistik nur ein geringes Echo. Scholz argumentiert hier, der Gesichtskreis des deutschen Katholizismus sei weiterhin auf den historischen Erfahrungsraum des Alten Reichs beschränkt gewesen und die weiter östlich gelegenen Regionen seien kaum wahrgenommen worden. Zudem habe die nationalpolnische Komponente in einer Zeit, in der die deutschen Katholiken zu einem Zusammenstehen aufgerufen wurden, Missfallen erregt.

Eine vorübergehende Überwindung des ambivalenten Verhältnisses zwischen deutschen und polnischen Katholiken erfolgte im Revolutionsjahr 1848, als die nun von der Zensur befreite katholische Presse in hohem Maße die deutschen und polnischen parallelen Erfahrungen einer Benachteiligung insbesondere unter dem preußischen Zepter beschwor. Das eigene Gefühl einer ungerechten Zurücksetzung deutscher Katholiken aufgrund ihrer Konfession wurde hier aufgerufen und auf den polnischen Nachbarn übertragen.

Auch in der Frankfurter Nationalversammlung fanden diese Auffassungen in den Stellungnahmen von Abgeordneten des „Katholischen Clubs“, einem informellen Zusammenschluss ultramontan eingestellter Katholiken, ein Echo. Scholz kann anhand der detaillierten Auswertung der Diskussionsprotokolle und des Abstimmungsverhaltens nachweisen, dass neben der bekannten Positionsnahme Robert Blums und linker republikanischer Gruppen auch ein Teil der konservativ-katholischen Abgeordneten eine Polenpolitik aus nationalem Egoismus, wie sie Wilhelm Jordan in seiner Aufsehen erregenden Rede propagierte, ablehnten. Belegt wird dies mit einer Analyse der parlamentarischen Initiativen aus dem „Katholischen Club“, aus dem heraus Ignaz Döllinger und andere eine Teilung des Großherzogtums Posen ablehnten. Hier liegt ein erhebliches Ergebnis der vorgestellten Studie, in dessen Lichte die Frankfurter „Polen-Debatte“ in Zukunft neu analysiert werden muss.

Andererseits müssen zwei Bereiche, die die Studie ausspart und die ein Blick auf den Titel erwarten ließe, benannt werden: Kaum wahrgenommen werden bei Scholz die katholischen Regionen Ostdeutschlands, insbesondere das Ermland, Westpreußen und Schlesien, in denen sich – wenn man das Großherzogtum Posen als Bastion des polnischen Katholizismus nicht berücksichtigt – zu einem erheblichen Maße das Bild des deutschen Katholizismus über Polen formierte. Wiedergegeben werden lediglich Diskussionen seit der Mitte der 1840er-Jahre (S. 253-276). Sicher liegt hier ein Quellenproblem vor, denn bis Mitte der 1840er-Jahre bestanden in Preußen aufgrund der strengen staatlichen Reglementierung kaum Möglichkeiten zur Gründung katholischer Zeitschriften, die neben der staatsloyalen Linie der preußischen Bischöfe (Leopold von Sedlnitzky, Melchior von Diepenbrock, Anastasius Sedlag) katholische Positionen akzentuiert hätten. Dennoch hätten hier preußische Akten genutzt werden können – eine Lücke, die der Autor nicht thematisiert.

Auffällig ist zweitens die Ausblendung des Deutschkatholizismus: Begründet wird dies formal damit, dass der Deutschkatholizismus seit den 1840er-Jahren kein Teil der katholischen Kirche mehr gewesen sei (S. 55). Allerdings ist nachzufragen, ob die Deutschkatholiken nicht dennoch bis 1848/49 Teil eines katholischen Diskussionszusammenhangs bildeten und auch nach ihrem Austritt bzw. Ausschluss sehr wohl als Referenzpunkte für eine Abgrenzung von „Katholizität“ dienten. Die Ausgrenzung des Deutschkatholizismus ist zu bedauern, zumal seine Anhänger auch in Schlesien, im Posenschen (Schneidemühl) und in Westpreußen saßen und eigene Positionen gegenüber den polnischen Katholiken vertraten. Schließlich muss auf zentrale Figuren des Deutschkatholizismus und des deutschen Polendiskurses wie Robert Blum und Franz Schuselka hingewiesen werden, deren Positionen Scholz nur randständig thematisiert.

Insgesamt kommt die Studie zu dem Ergebnis, das Verhältnis zwischen deutschen und polnischen Katholiken sei von großer Zurückhaltung geprägt gewesen: Es habe zwar freundschaftliche Kontakte, aber keine Solidarität und tieferreichende Identifikation im Sinne einer „schwarzen Internationale“ gegeben. Zentrales Hindernis bildete die polnische Verbindung zwischen „Katholizismus“ und Widerständigkeit. „Katholische Revolutionäre“ blieben im deutschen katholischen Selbstverständnis – anders als in Frankreich – eine undenkbare Vorstellung, da die Historizität des Rechts und die Illegitimität der Revolution unhinterfragbare Bestandteile katholischer Identität bildeten.

Aus dieser Perspektive erscheint die internationale ultramontane Bewegung als weniger geschlossen und einheitlich als aus der liberalen Außenwahrnehmung oft aufgefasst – ein Ergebnis, das Scholz als „Kontinent nationaler Katholizismen“ (S. 377) fasst. Die detaillierte Studie bietet einen wichtigen Beitrag zur beziehungsgeschichtlichen und transnationalen Forschung über den europäischen Katholizismus des 19. Jahrhunderts.

Anmerkungen
1 Vgl. die zahlreichen Veröffentlichungen von Bernhard Schneider, Ders., Katholiken auf die Barrikaden? Europäische Revolutionen und deutsche katholische Presse 1815-1848, Paderborn 1998; Klug, Matthias, Rückwendung zum Mittelalter? Geschichtsbilder und historische Argumentationen im politischen Katholizismus des Vormärz, Paderborn 1995.