W. Angress: ...immer etwas abseits

Titel
...immer etwas abseits. Jugenderinnerungen eines jüdischen Berliners 1920-1945


Autor(en)
Angress, Werner T.
Erschienen
Berlin 2005: Edition Hentrich
Anzahl Seiten
335 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcus Pyka, Center for Jewish Studies, Harvard University

So richtig treffend erscheint der Titel von Werner T. Angress’ Jugenderinnerungen nach der Lektüre nicht zu sein. Auch wenn der deutsch-amerikanische Historiker in seiner Jugend sich nicht unbedingt als Familienmensch gefühlt haben mag, und auch wenn ihm als Juden in seinen verschiedenen Berliner Schulen von Mitschülern, Lehrern und der deutschen Gesellschaft insgesamt zahlreiche Steine in den Weg gelegt worden sind – seine Memoiren beschreiben viel zu differenziert eine bemerkenswerte Jugendzeit, als dass sie sich so einfach auf den Nenner einer simplen „Der Jude als Außenseiter“-Erzählung bringen ließen. Zumal Angress spätestens mit dem Eintritt in die jüdische Jugendbewegung durchaus im Zentrum des Geschehens steht. Mehr noch, es handelt es sich zwar durchaus um die „Jugenderinnerungen eines jüdischen Berliners“, wie der Untertitel des hier zu besprechenden Bandes lautet, doch werden darin weitaus mehr als nur Erlebnisse in der damaligen Reichshauptstadt geschildert.
Angress, Jahrgang 1920, gliedert seine „Jugenderinnerungen“ in neun thematisch-chronologische Kapitel, die sich teilweise überschneiden. Die einzelnen Schritte behandeln Familiengeschichte und Jugend, dann seine Zeit in der jüdischen Jugendbewegung in Berlin sowie auf dem Auswandererlehrgut Groß Breesen in Schlesien. Er wird hier besonders von der Persönlichkeit Curt Bondys beeindruckt, aber auch von dem Geist von dessen Reformpädagogik. Es folgt Angress’ plötzliche Flucht mit seiner Familie zuerst nach London, dann nach Amsterdam, von wo aus dem damals neunzehnjährigen jungen Mann allein die Übersiedlung in die USA gelingt. Dort kommt er auf einer Art Fortsetzung von Gross Breesen in Virginia unter, Hyde Farmlands. Dieses Unternehmen scheitert jedoch bald, und Angress meldet sich freiwillig zum Militär. Nach wenigen Monaten hört er überraschend und unerwartet – wie die meisten seiner Zeitgenossen – von einem ihm bis dahin völlig unbekannten Ort namens Pearl Harbor, und nach einigen weiteren Wochen der Unsicherheit wird er nach dem Kriegseintritt der USA nach Europa geschickt. Als Fallschirmspringer nimmt er am D-Day teil, erlebt die deutsche Ardennenoffensive und schließlich das Kriegsende. Im befreiten Amsterdam sieht er seine Mutter und seine beiden Brüder lebend wieder, doch muss er erfahren, dass sein Vater nach Auschwitz deportiert und dort ermordet worden ist. Zuvor bereits hatte er einen unmittelbaren Einblick in den Horror der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik auch außerhalb der eigentlichen Vernichtungslager gewinnen müssen, als seine Einheit in Mecklenburg eher zufällig auf das Konzentrationslager Wöbbelin beim mecklenburgischen Ludwigslust stieß.

Gestützt nicht allein auf sein Gedächtnis, sondern auch auf sein seit 1935 geführtes Tagebuch sowie seine Jugendkorrespondenz, gelingt es Angress, eine Vielzahl von Themen anzuschneiden und miteinander zu verflechten. So bemüht er sich erfolgreich, im Unterschied zu dem üblicherweise eher einem Bildungsroman ähnelnden Genre der Memoirenliteratur stets die Zufälligkeiten vieler Entwicklungen bewusst zu halten. Dies gilt nicht nur im Falle all der Unwägbarkeiten, die seine Emigration im letzten Moment noch hätten verhindern können. Entsprechend handelt es sich bei seinen insgesamt spannend und mit trockenem Humor geschriebenen Jugenderinnerungen nicht um einen Band, bei dem der Stoßseufzer: „noch einer“ gerechtfertigt wäre, sondern durchaus um einen Bericht, dem es immer wieder gelingt, das Besondere dieses Lebensweges in einem größeren Kontext aufscheinen zu lassen. In den Kapiteln über das Leben als junger Jude im immer stärker fühlbar werdenden „Dritten Reich“ irritiert nicht allein die Unverfrorenheit, mit der die Hausmeisterfamilie plötzlich das Radio (für Führerreden!) und das Klavier der Familie Angress „mitbenutzen“; vielleicht mehr noch fällt das Schweigen auf, mit dem sich manch einer der von Angress Portraitierten im neuen Regime eingerichtet hat ungeachtet einer Vergangenheit als Kommunist oder als aufrechter Demokrat. Doch das scharfe Auge des Verfassers erschöpft sich nicht in solchen anekdotenhaften Begebenheiten. Insbesondere die Teile über die erfolgreiche (heimliche) Ausreise aus Deutschland und die darauf folgende nervenzehrende Zeit des Wartens in London und Amsterdam bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs sind atmosphärisch dicht und gehören ungeachtet ihres eher unerquicklichen Gegenstandes zu den spannendsten Kapiteln dieses insgesamt lesenswerten Berichts.

So findet denn Angress am Ende ein in seiner Einfachheit sehr adäquates Resümee: „Es war eine bewegte Zeit, und ich bin heute noch froh, dass ich sie überlebt habe.“ (S. 332) Dieses Understatement charakterisiert ziemlich treffend den Geist, der den ganzen Text bestimmt. Selbst die kleineren Redundanzen und (wenigen) Längen können an dem durchweg gegebenen Lesevergnügen nichts ändern. Lediglich ein größerer Wunsch bleibt am Ende offen – eine Fortsetzung über 1945 hinaus. Selbst wenn er hierin „nur“ die Erfahrungen und Wahrnehmungen auf seinen Besuchen im Nachkriegsdeutschland und dann der Bundesrepublik beschrieben hätte – dass Werner T. Angress dies gleichfalls interessant zu erzählen wüsste, darüber kann kein Zweifel bestehen.

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