U. v. Hehl (Hg.): Sachsens Landesuniversität

Cover
Titel
Sachsens Landesuniversität in Monarchie, Republik und Diktatur. Beiträge zur Geschichte des Universität Leipzig vom Kaiserreich bis zur Auflösung des Landes Sachsen 1952


Herausgeber
von Hehl, Ulrich
Reihe
Beiträge zur Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte A3
Erschienen
Anzahl Seiten
592 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anja Becker, Leipzig

Getreu der Devise ‚Angriff ist die beste Verteidigung’ endet Ulrich von Hehl das Vorwort mit der Bemerkung, dass es nun seine Pflicht wäre, „seine Brust den erwartungsvoll gespitzten Dolchen künftiger Rezensenten darzubieten“ (S. 8), womit er andeutet, dass er sich der Schwächen des vorliegenden Sammelbandes bewusst ist. Dabei sind die einzelnen Beiträge fundiert und nicht nur in Leipzig von Interesse. Von Hehls Abriss des Standes der Forschung zur Leipziger Universitätsgeschichte (S. 19-50) sowie eine umfangreiche ‚Auswahlbibliografie’ (S. 537-575) bieten Ansatzpunkte für vertiefende Forschung. Die im Anhang kommentarlos angefügte Auflistung der Universitätsleitung (Rektor und Dekane) per Jahr zwischen 1852 und 1944/45 (S. 525-536) deutet allerdings an, dass Struktur und interne Logik des Bandes sowie unterliegende Motivation für die Publikation problematisch sind.

Obwohl Leipzig die zweitälteste durchgehend bestehende Universität Deutschlands ist, gibt es bis heute keine umfangreiche Publikation zu ihrer Geschichte.1 Im Hinblick auf den 600. Jahrestag der Universität Leipzig im Jahr 2009 beschloss man daher bereits 1996 dieses Manko auszugleichen; die Universitätsgeschichte sollte in fünf Bänden aufgearbeitet werden. Allerdings krankt das Gesamtprojekt an Strukturlosigkeit. Einzelne Wissenschaftler/innen stellen ihre individuellen Forschungsergebnisse vor, die aus aktuellem Anlass die Geschichte der Universität berühren.2 Der gleiche Kritikpunkt trifft auch auf den vorliegenden Band zu; eine zusammenhängende Universitätsgeschichte ist das nicht. Von Hehl entschuldigt dies mit der Notwendigkeit, Detailforschung als Grundlage für das eigentliche Unterfangen durchzuführen (S. 20). Doch warum werden diese Vorarbeiten als Universitätsgeschichte verkauft? Der vorliegende Band vereint eher unausgewogen eine viel zu große Themenfülle.

Allein das Kaiserreich bietet genügend Stoff für eine fundierte Detailstudie mit aktueller Brisanz: die Blütezeit der Universität Leipzig wird gewöhnlich auf den Zeitraum zwischen 1870 und 1900 festgelegt. Aber wie wurde Leipzig damals zu einer Universität von Weltniveau? Wieso, wann genau und warum begann der Niedergang? Wolfgang Tischner erwähnt, dass entgegen landläufiger Meinung Leipzigs Stern bereits in den 1880er-Jahren und nicht erst nach der Jahrhundertwende zu sinken begann. Grund hierfür ist u.a. eine Phase „wohlwollender Vernachlässigung“ unter dem Bildungsministers Carl von Gerber (1871-91), wodurch die neusten Wissenschaftstrends „verschlafen“ wurden (S. 96). Dieser Gedanke sollte ausführlicher untersucht werden.3

Insgesamt umfasst der Band sechs Teile, wobei der erste unter der Überschrift „Einleitung und Methodik“ von Hehls Abriss der Universitätsgeschichte sowie einen Artikel über die Bedeutung von Vorlesungsverzeichnissen als historischer Quelle umfasst, der vorrangig im 16. und 17. Jahrhundert angesiedelt ist (S. 51-71). Der Zusammenhang zwischen diesen Vorlesungsverzeichnisse und der Gesamtmethodik ist allerdings unklar, zumal die nachfolgenden Beiträge allesamt im späten 19. bzw. in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts angesiedelten sind. Sie basieren auf zahlreichen Primärquellen aus z.B. dem Leipziger Universitätsarchiv. Zeitungsartikel wurden ebenfalls ausgewertet. Ein methodischer Artikel ist nicht beinhaltet.

Der zweite Teil widmet sich in vier Beiträgen dem Kaiserreich, u.a. dem akademischen Bismarck-Kult (S. 75-90) und dem Universitätsjubiläum 1909 (S. 95-114). Im dritten Teil wird die Weimarer Republik abgehandelt. Bedeutungsschwer im Kontext heutiger Stellenkürzungen bei ansteigenden Studentenzahlen ist der Beitrag von Beatrix Kuchta über das Personalabbaugesetz von 1923/24 (S. 193-220). Sie vertritt die These, dass neben dem Abbau wissenschaftlichen Personals die „Gefahren, die von den Sparmaßnahmen für den – auch in der zeitgenössischen Statistik vernachlässigten – Verwaltungsbereich ausgegangen sind, in der inneruniversitären Diskussion kaum wahrgenommen worden zu sein scheinen“, was „für das Selbstverständnis der Hochschulen als symptomatisch gelten“ kann und „bis heute in der Universitätsgeschichtsschreibung nach[wirkt]“ (S. 214).

Der vierte Teil widmet sich in nur drei Beiträgen „Wissenschaft unter politischen Vorzeichen im Dritten Reich und in der SBZ/DDR“. Markus Wustmann argumentiert hier, dass die „Gesellschaftswissenschaftliche Fakultät in Leipzig 1947-1951“ (S. 289-306) eine „entscheidende Rolle bei der Unterwerfung der Universitäten – nicht nur der Leipziger – unter die kommunistische Herrschaft“ spielte (S. 289). Wustmann möchte sich erstmals nicht aus „Sicht der DDR- bzw. marxistischen Geschichtsschreibung“ (S. 289) dieser Problematik annehmen. Doch reflektiert er eine deutsche Geschichtsschreibung der frühen 1990er-Jahre; so verzichteten 1992 die Herausgeber eines Sammelbandes über das Dritte Reich auf Beiträge von jüngeren Wissenschaftler/innen aus der DDR, da diese sich noch nicht „vom aufgezwungenen ideologischen Ballast“ befreien und „hin zu eigenständiger Forschungsarbeit und entsprechender Publikation hätten profilieren können“.4 Auch Wustmann läuft Gefahr, Geschichte vorrangig aus dem heute vorherrschenden Wertesystem heraus zu begreifen statt aus der Logik ihrer Zeit. Allein aufgrund dieser Problematik ist ein einzelner Beitrag zur SBZ/DDR, der aus einer Magisterarbeit erwuchs, keineswegs befriedigend.

Der vorliegende Band widmet sich vor allem dem Dritten Reich. Zwei Beiträge im vierten Teil besprechen politische Entlassungen zwischen 1933 und 1945 (S. 241-262) sowie die Rolle Leipziger Doktoranden „zwischen Universität und Gegnerforschung“ (S. 263-287). Der zweitgenannte Beitrag von Carsten Schreiber untersucht Doktoranden und Assistenten der philosophischen Fakultät, die zwischen 1939 und 1945 führende Positionen im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) als „Zentrale des nationalsozialistischen Terrors und Vernichtung“ innehatten (S. 263). Dabei wird die Frage aufgeworfen, wieso und inwiefern Akademiker diese besonders dunkle Seite des Dritten Reichs unterstützen konnten; offensichtlich schlossen sich „Liebe zur Literatur und Affinität zum SS-Terror“ nicht aus (S. 266). Schreiber kommt im Sinne der „Dialektik der Aufklärung“ zum Schluss, dass nicht rein wissenschaftliche Arbeit sondern die Förderung einer spezifischen, rationalen Mentalität das primäre Anliegen des RSHA war; insbesondere Wissenschaftlichkeit, Sachlichkeit und Objektivität (S. 287). Trotz der breiten Überschrift „Fächer und Disziplinen“ ist der fünfte Teil in vier von fünf Beiträgen wieder vorrangig mit der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt. Der fünfte Beitrag widmet sich allerdings der Geschichte der Sinologie bis 1925 (S. 309-339). Es handelt sich um eine verkürzte Version der unter BLUWig Reihe B Band 1 veröffentlichten Arbeit derselben Autorin.5 So werden einzelne Fächer doppelt, andere gar nicht oder begrenzt auf eine spezifische Epoche aufgearbeitet.

Durchaus ansprechend ist der sechste Teil, der sich mit der Student/innenschaft auseinandersetzt und in drei Beiträgen auf die Gründung des Allgemeinen Studentenausschusses AStA 1904 (S. 425-448), die Studentische Selbstverwaltung während der Weimarer Republik (S. 449-473) und den Studentenrat 1947-1948 (S. 497-522) eingeht; ein vierter Beitrag beschäftigt sich mit dem Frauenstudium im Dritten Reich (S. 475-495), wobei Sabine Steffens z.B. anhand von Student/innenzahlen aufzeigt, dass mit Hitlers Machtantritt der Anteil an Studentinnen zurückging, seit Kriegsbeginn aber prozentual wieder anstieg (S. 478-480). Die Universität spiegelt also gesellschaftliche Umbrüche und Krisen wieder.

Diese vier chronologisch aufeinander folgenden Beiträge könnten als beispielhaft für einen wohlstrukturierten Gesamtband betrachtet werden. Schade, dass die spezifischen Interessen der einzelnen Autor/innen im Rest des Bandes eine solche Ausgewogenheit nicht zuließen. Alles in allem ist der vorliegenden Band ein ambitioniertes Unterfangen, das jedoch dem Anspruch, einen offiziellen Beitrag zur Geschichtsschreibung der Universität Leipzig zu leisten, nur unbefriedigend gerecht werden kann. Es ist eine weitgefächerte, durchaus anregende Materialsammlung sowie ein Forum für vorrangig junge Wissenschaftler/innen.

Anmerkungen:
1 Zwei Werke illustrieren den Mangel an aktueller Forschung: gern zitiert wird: Rektor und Senat der Universität Leipzig (Hg.), Festschrift zur Feier des 500 Jährigen Bestehens der Universität Leipzig, Leipzig 1909; eine jüngere Veröffentlichung ist: Krause, Konrad, Alma Mater Lipsiensis. Geschichte der Universität Leipzig von 1409 bis zur Gegenwart, Leipzig 2003. Krause gibt einen knappen Überblick, seine Quellenverweise sind allerdings mangelhaft und im vorliegenden Band werden z.B. von Andreas Thüsing faktische Fehler entlarvt (S. 498, n. 8).
2 Bisher erschienen sind: Geisenhainer, Katja, ‚Rasse ist Schicksal’. Otto Reche (1879-1966) (BLUWiG A 1), Leipzig 2002; Gößner, Andreas (Hg.) unter Mitarbeit von Wieckowski, Alexander, Die Theologische Fakultät der Universität Leipzig. Personen, Profile und Perspektiven aus sechs Jahrhunderten Fakultätsgeschichte (BLUWiG A 2), Leipzig 2005.
3 Ich bin zu einem ähnlichen Schluss gekommen: Becker, Anja, For the Sake of Old Leipzig Days… Academic Networks of American Students at a German University, 1781-1914, Dissertation, Leipzig 2005, Kapitel 3.
4 Bracher; K. D., Funke, M.; Jacobsen, H.-A. (Hgg.), Einführung, in: Deutschland 1933-1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, Bonn 1992, S. 9-11, hier S. 11.
5 Leibfried, Christina, Sinologie an der Universität Leipzig. Entstehung und Wirken des Ostasiatischen Seminars (BLUWiG B 1), Leipzig 2003.

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