I. Hansen-Schaberg: Die Praxis der Reformpädagogik

Titel
Die Praxis der Reformpädagogik. Dokumente und Kommentare zur Reform der öffentlichen Schulen in der Weimarer Republik


Herausgeber
Hansen-Schaberg, Inge
Erschienen
Bad Heilbrunn 2005: Julius Klinkhardt Verlag
Anzahl Seiten
285 S.
Preis
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Dieter Hoof

Inge Hansen-Schaberg bereichert den bildungshistorischen und schulpädagogischen Diskurs um eine materialreiche Studie über 34 reformpädagogische Quellentexte aus Archiven und Veröffentlichungen der Weimarer Zeit. Die Autoren (fünf Frauen, 21 Männer) sind teils bekannte, teils aber auch literarisch weniger in Erscheinung getretene Lehrerinnen und Lehrer. Aus dem Umkreis der sog. „Klassiker“ sind unter anderem Hugo Gaudig, Heinrich Scharrelmann, Lotte Müller, Wilhelm Paulsen und Lydia Stöcker mit Berichten aus der Schule bzw. mit konzeptionellen Beiträgen vertreten. Vom Umfang her ragt ein Beitrag von Fritz Karsen mit 26 Seiten heraus. Darin wird, eingefügt in ein Schulbau-Programm, eine erhebliche Breite reformpädagogischer Ansätze für den Unterricht vermittelt. Aber die Genannten sind keineswegs die alleine maßgebenden reformpädagogischen Lehrerinnen und Lehrer gewesen. Die meisten der im Buche berücksichtigten Autoren sind „vergessene Reformer“.

Die Texte dokumentieren innovative didaktische und pädagogische Gestaltungsabsichten gleichermaßen wie eine realistische Einschätzung unterrichtlicher Möglichkeiten. Die Reformer haben sich mit Hingabe einer Veränderung überkommener Strukturen des Lernens und seiner schulischen Voraussetzungen gewidmet. Die in vielen Texten auch auffindbaren programmatischen Ausführungen haben ihren Ausgangspunkt in der damaligen schulischen Wirklichkeit der betreffenden Lehrerinnen und Lehrer.

Das Buch widmet sich der Pädagogik in konkretisierender Absicht. In der Einleitung lesen wir: „Man möchte näher heran an das tatsächliche Leben in der Schule, als es durch geisteswissenschaftliche und ideengeschichtliche Darstellungen ... möglich ist. Denn bisherige bildungshistorische Darstelllungen der Reformpädagogik haben oft eine genauere Beschäftigung mit den in der Zeit der Reformpädagogik stattgefundenen realen pädagogischen Prozessen in den Hintergrund gedrängt. Demgegenüber wird auf S. 8 des vorliegenden Bandes im Anschluss an Bruno Schonig angeführt, dass sich in historischen Quellen „Merkmale reformpädagogischer Unterrichtspraxis“ spiegeln (können), die ein neues Verständnis über Schüler, Lehrer, Lernen und unterrichtliche Sinngebung anzeigen. Das kann, wie das Buch zeigt, im Wege einer immanenten Hermeneutik herausgearbeitet werden.

Das reformpädagogische Grundbewusstsein kennzeichnet Inge Hansen-Schaberg durch die schon damals formulierten Bestimmungen der „Pädagogik vom Kinde aus“ und der „Arbeitsschule“ (S. 8). Zugleich sind damit die beiden ersten Schwerpunkte für die Auswahl und Anordnung der Quellentexte gegeben. Die acht weiteren inhaltlichen Schwerpunkte für die 34 Texte sind: „Lehrplankritik und Lehrplanentwicklung“, „Schulorganisatorische Rahmenbedingungen“, „Schulkonzeptionen“, „Didaktisch-methodische Überlegungen“, „Unterrichtsbeispiele“ (sechs Texte), „Gemeinschaftserziehung der Geschlechter“, „Demokratie in der Schule“ und „Schulkultur“. Natürlich stehen die einzelnen Texte nicht jeweils isoliert nur für einen Aspekt. So z. B. sind in den „Unterrichtsbeispielen“ - und darin koinzidiert das reformpädagogische Bewusstsein der Lehrenden - implizit oder explizit auch weitere Aspekte aus den genannten Schwerpunkten damaliger Reformen erkennbar. Die Schwerpunkte verdeutlichen – in Verbindung mit den. o. a. „Merkmalen“ - den historischen Strukturzusammenhang „Reformpädagogische Schule“. Ihre Herausstellung stellt einen ergebnisorientierten wissenschaftlichen Ansatz dar, von dem aus neben der unterrichtspraktischen und konzeptionellen zugleich die bildungstheoretische Dimension der Schule differenziert in den Blick genommen werden kann. Jede der einem Schwerpunkt zugeordneten Textsammlungen bildet ein Kapitel mit einem Einleitungstext. Diesem wiederum ist ein (das jeweilige Problemfeld betreffende) „Grundsatz“-Zitat eines reformpädagogischen Autors vorgesetzt, der nicht zu den Autoren des Kapitels gehört. Das erste Kapitel über die Pädagogik „Vom Kinde aus“ wird mit dem berühmt gewordenen, die Gärtner-Metapher darstellenden Bilde eingeleitet, welches Johannes Gläser in seinem 1920 herausgegebenen Sammelband mit dem Titel „Vom Kinde aus“ veröffentlicht hat. Dieser Titel hat ja auch der Reformströmung den Namen gegeben.

Im Umschlagtext wird das Buch als „Studienausgabe“ bezeichnet. Das ist zwar richtig, aber zu knapp gegriffen. Es handelt sich primär um eine originale, reich ausgestattete Quellen-Studie. Sie leistet einen differenzierten Beitrag zur historiographischen Aufarbeitung des Bereichs „Schule“, im besonderen der stattgefundenen, konkreten Unterrichts- und Erziehungsprozesse und des tragenden reformpädagogischen Potenzials. Einem verbreiteten erziehungswissenschaftlichen Grundverständnis folgend, werden die historischen Konzepte und Realisierungen aber nicht nur historiographisch, sondern zugleich in ihrer Bedeutung für das sich fortentwickelnde Schulwesen und für das Bewusstsein handelnder wie auch angehender Lehrer verstanden. Die dahingehende Absicht wird bereits im Umschlagtext ausdrücklich hervorgehoben.

Die Frage stellt sich in aller Deutlichkeit: War (ist) das in den ideengeschichtlich orientierten Gesamtdarstellungen strukturierte pädagogische Wissen bedeutsam für die wissenschaftliche Grundlegung des pädagogischen Berufes? Oder bedarf es statt dessen mehr der Fähigkeit, konkrete Sachverhalte aus Vergangenheit und Gegenwart, unterrichtspraktische Zusammenhänge, wie sie in den Quellen berichtet oder in schulpraktischen Studien beobachtet werden, durchschauen zu können und auf eigene Handlungsimpulse hin zu befragen? Geht man „von oben“ oder „von unten“ an die Bestimmung der Bildungsaufgaben heran? Auf S. 14 formuliert die Verfasserin im Zusammenhang der „Pädagogik vom Kinde aus“ nochmals prägnant: „In der geisteswissenschaftlich angelegten Ideengeschichte kam die von den Lehrkräften gestaltete pädagogische Praxis, die Umsetzung von Ideen und Theorien in Unterricht und Erziehung kaum in den Blick.“ Eine solche Praxis zeigt etwa, um ein Beispiel anzuführen, der Text des Reformers Alfred Ehrentreich (S. 190 ff.), worin die „freie Arbeitsform“ im Schriftlichen und Mündlichen theoriegeleitet beschrieben wird. Bei Inge Hansen-Schaberg heißt es weiter: „Erst in jüngster Zeit hat sich eine Forschungsrichtung entwickelt, die versucht, Annäherungen an das Verhältnis von praktischer Schularbeit und die Praxis reflektierender Theoriebildung zu leisten...“ Diese beginnt bereits in der pädagogischen Situation selbst und setzt sich in der nachgehenden Forschung fort.

Historische schulpädagogische Studien als ein hauptsächliches Teilgebiet Historischer Bildungsforschung sind sui generis auf lebensweltliche Zusammenhänge hin gerichtet, auf die Welten der lernenden Kinder. Das wurde oft verkannt. Schule erschließt sich wesentlich in stattgefundenen Unterrichtsverläufen und in den schulischen Bedingungs- und Handlungsrahmen (Quartier, Organisation, amtliche Vorgaben, Kollegium, Ausstattung), das heißt in singulären „kleinen“ Ereignisfolgen, die in einem Zusammenhang stehen. Bedeutungsvoll sind daher die von den Lehrerinnen und Lehrern in der Zeit des Aufbruchs mehr oder minder ausformulierten pädagogischen und didaktischen Reflexionen, namentlich ihre Aussagen über Unterrichts- und Bildungsprinzipien. Oft finden wir in den Ausführungen bei aller Professionalität große Begeisterung, manchmal auch Pathos.

Angesichts der unüberschaubaren Zahl von Unterrichts- und Erziehungsprozessen, die in den Schulen stattgefunden haben, qualifiziert sich eine Untersuchung daran, ob sie gleichermaßen damalige „Wirklichkeit“ („Wirklichkeiten“) in ihren subtilen Zügen erhellen kann und ebenso übergreifende bildungsgeschichtliche Entwicklungen aus einem Insgesamt von Schulen in den Blick bekommt. Reformpädagogisch orientierte Schulen in der Weimarer Zeit stellen aus dem Insgesamt der Schulen einen Ausschnitt von fundamentaler Bedeutung dar. Aber dieser Ausschnitt kann im Grunde auch nur exemplarisch vorgestellt werden. Eben das leistet das vorliegende Buch.

Auf S. 10 in Anm. 4 werden, unter Bezug auf Hanno Schmitt, Zahlen von ausgewiesenen reformpädagogischen Schulversuchen an städtischen und ländlichen Versuchsschulen und in Landerziehungsheimen aufgeführt. Auch finden sich auf S. 31 f. Zahlenangaben über Schulversuche aus der Ursprungszeit der Arbeitsschulbewegung. Ein quantitativ-empirischer Aspekt, und damit die übergreifende Bedeutung der reformpädagogischen Strömungen, ergibt sich ebenfalls aus dem Umfang des Quellenverzeichnisses, das außer den ungedruckten Quellen 165 zeitgenössische Titel nennt. (Wir dürfen aber davon ausgehen, dass viele reformpädagogisch engagierte Lehrer und Kollegien nicht zur Feder gegriffen haben.) Außerdem enthält das Buch eine respektable einschlägige Bibliographie, deren Titel oft direkt zu reformpädagogischen Quellen hinführen. (Leider fehlt der Auflage noch ein Personen-Register. Ein solches wäre angesichts der vielen Namen, die im Buche vorkommen, recht nützlich gewesen.)

Historische schulpädagogische Studien bringen einen bereichsspezifischen Ausschnitt unseres „historischen Gedächtnisses“ neu zum Bewusstsein, einerseits als ein in sich bedeutsamer schulpraktischer wie theoriebestimmter Zusammenhang, andererseits im Sinne eines Beitrags zur Fundierung des pädagogischen Handelns in der sich fortentwickelnden Lebenswelt mit immer neu erwachsenden „Anforderungen“ an Erziehung und Bildung. Das historische Gedächtnis bewahrt Prinzipien und Formen früherer Erziehung und Bildung; sie können heute verworfen oder fortentwickelt werden.

Inge Hansen-Schaberg führt aus, „dass die Darstellungen reformpädagogischer Praxis ... keineswegs eine Vorbildfunktion haben können...“, jedoch können sie „als brauchbare Denkansätze zur Lösung heutiger schulpädagogischer Probleme zur Diskussion anregen...“ (S. 9 f.). Und weiter heißt es: „...mit der ... Quellensammlung ist beabsichtigt, einen Beitrag zur Bildungsreform nach der PISA-Studie zu leisten ...“ Die pädagogischen Reformbewegungen haben in ihrer Zeit „vom Kinde aus“ und vom Arbeitsschulverständnis her solche Lern- und Lehrformen, Sozial- und Kommunikationsformen erprobt und reflektiert, welche die Schule menschlich und lerneffektiv machen konnten und prinzipiell gültig bleiben.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension