S. Diekmann u.a. (Hgg.): Szenarien des Comic

Cover
Titel
Szenarien des Comic. Helden und Historien im Medium der Schriftbildlichkeit


Herausgeber
Diekmann, Stefanie; Schneider, Matthias
Erschienen
Berlin 2005: SuKuLTuR
Anzahl Seiten
217 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kathrin Kollmeier, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Als künstlerische und erzählerische Ausdrucksform sind Comics längst aus der Popkultur in die Tempel der Kunst aufgestiegen, wie kürzlich die kanonisierende Ausstellung „Masters of American Comics“ in Los Angeles demonstrierte.1 Dennoch sind wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem hybriden Medium Comic, das zwischen den Referenz- und Produktionsräumen von Hoch- und Populärkultur ebenso oszilliert wie zwischen den Zeichensystemen von Text und Bild, in der deutschen Forschungslandschaft noch immer auf wenige Arbeiten und Interessenten beschränkt.2 Ein Forum für die Kunst- und Kulturgeschichte der „Neunten Kunst“ bot das Symposion „Szenarien des Comic. Helden und Historien im Medium der Schriftbildlichkeit“, das im Rahmen des 1. Internationalen Berliner Comicfestivals im August 2003 stattfand und dessen Beiträge nun in dem gleichnamigen Band vorliegen.

Dem/der Herausgeber/in und Veranstalter/in, der Medien- und Theaterwissenschaftlerin Stefanie Diekmann und Matthias Schneider, künstlerischer Leiter des Comicfestivals, ist es gelungen, einen anregenden Querschnitt anspruchsvoller Analysen von ausgewiesenen Comickennern/innen und -theoretikern/innen zu versammeln. Dabei bildet die Frage nach comicspezifischen Formen der Geschichtsdarstellung einen Schwerpunkt, und damit fordert der Band erneut ein, Comics auch als Medium der Historiografie ernst zu nehmen.3 Die Beiträge stellen somit ein Spektrum historischer Darstellungsweisen und -intentionen zwischen episodischen und epischen Erzählungen, historischen Rekonstruktionen, Mythenbildung und Erinnerungsarbeit vor. Als heimliche These hinter diesen „Spielarten historiografischer Darstellung im Comic“ (S. 14) scheint auf, das bilderzählende, panelisierte Medium Comic sei zur Reflexion über Zeitlichkeit und ihre Darstellung besonders geeignet.

Den „Helden“, den Protagonisten und Figuren, ist die erste Buchsektion gewidmet – durchaus in historischer Perspektive. Behandelt werden ebenso kommerziell-klassischen Serien wie künstlerischen Autorencomics. Analysen zur Kulturgeschichte der „Neunten Kunst“ bilden etwa Roger Sabins Beitrag zur Vermarktung am Beispiel der Figur „Ally Sloper“, die in Großbritannien vor dem Ersten Weltkrieg nicht nur zum beliebtesten Serienheld der Funny Papers aufstieg, sondern zugleich als eigene, multimedial verbreitete Marke etabliert wurde. Diese „Sloper-Industrie“ beschreibt Sabin als neuen Produktionskreislauf in den am Massenmarkt orientierten Freizeitindustrien. Auch Ole Frahm erweitert die (Bild-)Textanalyse des legendären Serienhelden „Superman“ um die Untersuchung seiner Rolle als Teil der Kulturindustrie. Frahm plädiert dafür, eine Kultur- und Medienkritik der Comics sollte die Unheimlichkeit ihrer Materialität nicht einebnen, sondern sie gerade ausstellen und betonen (S. 46). Die Schwierigkeit, das Bild-Text-Medium Comic mit einem kunst- oder literaturwissenschaftlichen Instrumentarium präzise zu erfassen, thematisiert Björn Quiring. Charakterisiert durch Simultaneität und Sequentialität bilden Comics ein System enger Beziehungen zwischen Text und Bild, Bild und Bild und Text und Text. Quiring untersucht Comics und künstlerische Avantgarde am Beispiel der mikrozephalen Kunstfigur „Zippy“, eines freakigen Superhelden der Waren- und Medienwelt, der als Popularisierer künstlerischer Avantgarde-Bewegungen und massenkultureller Mediator wirke. Weitere Heldenszenarien widmen sich dem Marvel-Serienhelden „Silver Surfer“ (Bernd Villhauer) und, als doppelte Antithese zu den übermännlichen, singulären Heroen, britischen Mädchencomics der Nachkriegszeit und des Kalten Krieges als Teil der (weiblichen) Jugendkultur. Mel Gibson stellt hier das Genre der Geschichten über „Cliquen“ als Gegenentwurf einer Konzentration auf die Opferfigur der „kleinen Heldin“ in Mädchencomics vor.

In der zweiten Hälfte des Bandes liegt der Fokus auf den „Historien“. Jaqueline Berndt, Professorin für Kunst- und Medienwissenschaft in Yokohama, kann in ihrem Beitrag „Manga für Erwachsene. Maruo Suehiros vampyristische Nostalgie“ eine bildspezifische historiografische Qualität verdeutlichen: Der Stil von Maruo Suehiro Mangas rekurriert ästhetisch auf die Vergangenheit, indem etwa die politische Symbolik der imperialistischen Sonne zu einem glücksverheißenden Ornament wird (S. 138). Diese zeichnerische Evokation und Befragung von Geschichtsbildern stellt Berndt als „erwachsene“, mehrdeutige Erzählweise vor (S. 133). Ekkehard Knörer reflektiert das Erzählverfahren, Geschichte in partikularer Perspektive an Figuren zu erzählen und ihr so „Gesichter [zu] geben“. An Art Spiegelmans autobiografischer Holocaust-Erzählung „Maus“ und der fiktionalen Kommunismus-Saga „Treibjagd“ des Comicduos Bilal/Christin zeigt er eine weitere Spezifik des Mediums auf: Grafische Lösungen konkretisieren das metaphorische „Gesichtergeben“ auf besondere Weise, in den komplexen, produktionsreflexiven Tiermasken, die Spiegelman verwendet, wie in den eingefrorenen „stone faces“ Bilals. Beide Geschichtsalben verschränken Gegenwart der Erinnerung und erinnerte Geschichte: Spiegelman anhand der individuellen Lebensgeschichte seines Vaters, Bilal/Christin in einer Erzählung, die, 1980 in Polen situiert, in die Realgeschichte des Kommunismus eingebettet wird. Erzähltechnisch wird die Präsentation der Vergangenheit sowohl im Zuweisen von Stimmen und Gesichtern wie im Stil der Bebilderung reflektiert – opulentes Historiendrama bei Bilal, reduzierte Schwarz-Weiß-Grafik bei Spiegelman.

Der Beitrag Pascal Lefèvres über „Belgische Comics und der Kalte Krieg, 1945-1991“ (S. 98-108) zeigt anhand der unterschiedlich deutlich artikulierten Kritik in der frankophonen und der flämischen Comicindustrie der lebendigen Comicnation Belgien, wie sehr Marktbedingungen und politische Rahmenbedingungen zusammenwirken, so im Fall der französischen Zensur gegen politische Anspielungen in belgischen Comicimporten, die von 1949 bis 1968 existierte. John A. Lent präsentiert mit Amar Chitra Katha (dt.: unsterbliche Bildergeschichten) eine, nicht zuletzt durch gezieltes Marketing, populäre indische Comicserie über Geschichte und Mythen. Mit einer seit 35 Jahren entwickelten „Echtzeit-Chronik“, dem US-amerikanischen Zeitungsstrip „Doonesbury“, stellt Dietrich Diederichsen eine kontinuierliche Gegenwartsgeschichtsschreibung vor. Andreas Platthaus entwickelt, angesichts der neuen Blüte von autobiografischem Comic bei jüngeren Zeichnern/innen und Autoren/innen, die Geburt des Comic aus dem Geist der Autobiografie am Beispiel der seit 1918 erscheinenden Serie „Gasoline Alley“ von Frank King. Für eine angesichts der rasanten technischen Weiterentwicklung bereits anstehende Erinnerungsgeschichte „unsere[r] Lieblingskünste Comic und Zeichentrick“ (S. 146) betrachtet der Comickritiker Jens Balzer Museen bedeutender Künstler der europäischen, japanischen und nordamerikanischen Comicuniversen – Moebius, Miyazaki Hayao, Chris Ware – und treibt damit die Selbstreflexivität der Betrachtung noch eine Idee weiter.

Die Internationalität dieser „Szenarien des Comic“ öffnet das Spektrum der Comicwelt über seine anglo-amerikanischen, franco-belgischen, japanischen Regionalgeschichten heraus und macht eine auf die Spezifika des Mediums bezogene vergleichende Auslotung möglich. Dagegen ließe sich die Frage, was das Bild-Text-Medium Comic für Geschichtserzählungen besonders prädestiniert, im Vergleich mit anderen Darstellungsmedien sicher noch schärfen. An der Schnittstelle von Medienwissenschaft und historiografischer Untersuchung eröffnet der interdisziplinäre Sammelband einen Blick auf den Stand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Medium Comic, die hierzulande noch immer voranzutreiben ist. Die liebevolle (typo-)grafische Gestaltung mit zahlreichen Illustrationen und großzügigen Zwischentiteln, welche die „Helden“ ins Bild setzen, macht neben der Qualität und Lesbarkeit der einzelnen Beiträge die Lektüre zu einem besonderen Vergnügen.4

Anmerkungen:

1 “Masters of American Comics”, Ausstellung im Museum of Contemporary Art und The Hammer Museum, Los Angeles, 20.11.2005-12.3.2006; Katalog: Carlin, John; Karasik, Paul; Walker, Brian (Hgg.), Masters of American Comics, New Haven 2005. Die Schau zeigte bemerkenswerter Weise ausschließlich Werke männlicher Meister.
2 Etwa der Sammelband von: Hein, Michael; Hüers, Michael; Michaelsen, Torsten (Hgg.), Ästhetik des Comics, Berlin 2002.
3 Vgl. bereits: Frahm, Ole, Genealogie des Holocaust. Art Spiegelmanns MAUS. A Survivor’s Tale, Paderborn 2005; als systematische Auswertung des Genres: Munier, Gerald, Geschichte im Comic. Aufklärung durch Fiktion? Über Möglichkeiten und Grenzen des historisierenden Autorencomic der Gegenwart, Bielefeld 2000.
4 Umso bedauerlicher, dass der Berliner Verlag SuKuLTuR sich in Zukunft auf sein Kerngeschäft beschränken will.

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