A. Müller: Institutionelle Brüche und personelle Brücken

Cover
Titel
Institutionelle Brüche und personelle Brücken. Werkleiter in Volkseigenen Betrieben der DDR in der Ära Ulbricht


Autor(en)
Müller, Armin
Reihe
Wirtschafts- und Sozialhistorische Studien 15
Erschienen
Köln 2006: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
384 S., 21 s/w Abb.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Friederike Sattler, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Mit seiner Untersuchung zur Werkleiternachfolge in volkseigenen Betrieben der DDR leistet Armin Müller nicht nur einen empirischen Beitrag zur ostdeutschen Elitenforschung, er zeigt gleichzeitig, welche Erklärungskraft ein theoretisch reflektierter unternehmensgeschichtlicher Ansatz auch bei der – bisher kaum erfolgten – Anwendung auf einen planwirtschaftlichen Kontext entfalten kann.

Für seine Analyse hat Müller einen sozial- und kulturwissenschaftlich angereicherten institutionenökonomischen Ansatz entwickelt. Gestützt auf fünf Fallstudien zu Betrieben in Jena und Leipzig arbeitet er damit die Sozialprofile und Wirkungszusammenhänge bei der Bewältigung von Nachfolgeprozessen heraus. Unter den ausgewählten Betrieben befinden sich der VEB Carl Zeiss Jena sowie Betriebe, die später in die Kombinate Polygraf und TAKRAF eingingen. Was zunächst etwas willkürlich ausgewählt wirkt, stellt sich bald als ein facettenreiches Spektrum von betrieblichen Problemlagen dar, die sich aus der Spannung zwischen tradierten Unternehmenskulturen einerseits und politisch induzierter Transformation im Zusammenhang mit Entnazifizierung, Demontagen, Reparationen, Enteignungen und Einbindung in übergeordnete Planungs- und Lenkungsstrukturen andererseits ergaben.

Müller legt zunächst knapp und präzise die theoretischen Prämissen seiner Untersuchung dar, klärt die für ihn zentralen Begriffe „Macht“, „Vertrauen“ und „Sekundärsozialisation“ und umreist in Grundzügen den institutionellen Handlungsrahmen, den die sozialistische Planwirtschaft für volkseigene Betriebe und ihre Leitungskräfte steckte. Die Planwirtschaft wird treffend als Herrschaftsinstrument einer Diktatur und als politisierte Ökonomie, zugleich aber auch als Ergebnis eines gesellschaftlichen Transformationsprozesses mit wirtschafts- und unternehmenskultureller Dimension charakterisiert. Die Werkleiter betrachtet Müller als „sozialistische Managerunternehmer“, deren Position mit Hilfe eines „doppelten Prinzipal-Agent-Modells“ erfasst werden könne, das durch politische und ökonomische Loyalitätsbezüge sowohl zur übergeordneten Polit- und Planbürokratie als auch zur teilautonomen sozialen „Subwelt“ des Betriebes gekennzeichnet sei (vgl. Schaubild 2, S. 58). Die Rekrutierung solcher vertikal wie horizontal vernetzter „Schlüsselpersonen“ warf demzufolge Probleme auf, die nicht allein mit kaderpolitischen Vorgaben gelöst werden konnten, sondern in hohem Maße von den beteiligten Akteuren/innen, ihren Zielen und Strategien, ihrem politischen, sozialen und kulturellen Kapital sowie dem konkreten institutionellen Umfeld abhingen.

In Anlehnung an ein von Peter Hübner erarbeitetes Entwicklungsmodell 1 geht Müller für seinen Untersuchungszeitraum von einem Zwei-Phasen-Modell aus. Die „Aufbruchphase“ von 1945 bis etwa Mitte der 1950er-Jahre war demnach von gravierenden institutionellen Umbrüchen und einem weit reichenden, aber nicht vollständigen Austausch der alten betrieblichen Funktionseliten zugunsten von „Pionieren der Planwirtschaft“ gekennzeichnet. In der anschließenden „Etablierungsphase“ bis in die ersten 1970er-Jahre konsolidierte sich die neue Institutionenordnung und wurde ein Generationswechsel zugunsten wesentlich jüngerer, meist „studierter Manager“ vollzogen. An dieses Ausgangsmodell knüpft Müller die bisher noch ungeklärten Fragen nach der tatsächlichen Reichweite des Elitentauschs, nach der Dauer des Übergangs zur zweiten Generation der Werkleiter sowie nach der sozialen und mentalen Prägung dieser neuen betrieblichen Funktionselite.

Nach kurzen Porträts der zu untersuchenden Betriebe nimmt Müller in einem ersten Analyseschritt die Leiternachfolge unmittelbar bei der Verstaatlichung in den Blick. Hier wünschte man sich stellenweise eine stärkere Bezugnahme auf die konkreten wirtschaftlichen Kontexte und kaderpolitischen Entscheidungen der übergeordneten Instanzen, um die wiederholt angesprochenen, aber doch diffus bleibenden, weil lediglich auf den Grad der Planerfüllung bezogenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten und die damit verbundenen Personalwechsel besser nachvollziehen zu können. Ein instruktiver systematischer Vergleich der fünf Fallbeispiele führt anschließend zu einem verallgemeinerbaren Sozialprofil „erfolgreicher“ Werkleiter der ersten Generation: Sie waren durchweg männlich und bei Positionsübernahme etwa 50 Jahre alt, ausgebildet als Techniker oder Ingenieure, hatten alle eine langjährige innerbetriebliche Sekundärsozialisation durchlaufen und sich gleich nach Kriegsende in verantwortlicher Stellung für den Wiederaufbau ihres Betriebes eingesetzt; außerdem zeichneten sie sich durch ein Mindestmaß an Loyalität gegenüber dem neuen politischen Regime aus. Müller nennt sie treffend die „Transformationsleiter“ und hebt hervor, dass sie gerade auf Grund ihrer langen betrieblichen Sekundärsozialisation und ihrer festen Verankerung in der jeweiligen Unternehmenskultur in der Lage waren, bei den in der frühen Transformation häufig anzutreffenden Konflikten zwischen Regime und Belegschaften zu vermitteln.

In einem zweiten Analyseschritt nimmt Müller die ab Mitte der 1950er-Jahre zu beobachtende Etablierung „studierter Manager“ genauer in den Blick. Besonders interessant zu lesen sind hier die Teilkapitel, die sich mit der Fusion zweier zuvor eigenständiger Betriebe zum VEB Leipziger Buchbindereimaschinenwerke (LBW) 1959/60 befassen (S. 238-274). Bisher liegt meines Wissens keine Darstellung einer planwirtschaftlichen Fusion und der daraus resultierenden internen Leitungsprobleme vor, die solche Tiefenschärfe erreicht. Auch für diesen zweiten Untersuchungsteil liefert Müller abschließend einen systematischen Vergleich der fünf Fallbeispiele und kommt so zu einem Sozialprofil der erfolgreichen „studierten Manager“: Sie waren durchweg männlich und bei Positionsübernahme ausgesprochen jung (zwischen 1921 und 1930 geboren), hatten ihre berufliche Sozialisation erst nach Kriegsende erfahren und wiesen oft schnelle, steile Karriereverläufe auf. Sie konnten nicht nur eine Lehrausbildung, sondern zusätzlich ein technisches, ingenieurwissenschaftliches und/oder ökonomisches Hochschulstudium vorweisen, das sie ausschließlich an einer Bildungseinrichtung der SBZ/DDR absolviert hatten. Durch SED-Mitgliedschaft und Übernahme von Parteifunktionen wiesen sie außerdem durchgehend eine große Nähe zum politischen Regime auf.

Im Vergleich zu den „Transformationsleitern“ fällt auf, und das ist eines der wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung Müllers, dass die „studierten Manager“ zwar wesentlich enger in die vertikalen Netzwerke der Partei- und Planbürokratie eingebunden waren, der Stellenwert einer innerbetrieblichen Sekundärsozialisation für ihre Rekrutierung und Bewährung in der Praxis aber nur leicht an Bedeutung verloren hatte. Infolge der latenten Überpolitisierung der planwirtschaftlichen Entscheidungs- und Handlungsfelder wurde die Existenz und Pflege horizontaler, teilautonomer betrieblicher Netzwerke allerdings immer wieder als unzulässiger „Betriebsegoismus“ gegeißelt und bekämpft. Für die „studierten Manager“ hatte das zur Folge, dass sie als „Schlüsselpersonen“ zwischen der übergeordneten Partei- und Planbürokratie einerseits und der sozialen Subwelt des Betriebes andererseits immer weniger als „personelle Brücke“ zur überkommenen Unternehmenstradition fungieren konnten; sie verkörperten statt dessen immer stärker den Bruch mit den alten Wirtschaftseliten. Die Wirkung des Übergangs von den „Transformationsleitern“ zu den „studierten Managern“ war paradox: In dem Bestreben, die zentralen planwirtschaftlichen Macht- und Einflussmöglichkeiten auf die Betriebe sicherzustellen, wurden die Handlungsspielräume der systemloyalen Akteure auf der betrieblichen Ebene, die zur effektiven Lösung ökonomischer Probleme dringend notwendig gewesen wären, empfindlich eingeschränkt und damit der Druck zur betrieblichen Improvisation und zum informellen Arrangement erhöht – was auf Dauer auch die zentrale Verfügungsmacht und Einflussnahme begrenzte. Doch diese Entwicklung, die sich ab Mitte der 1970er-Jahre in einem sozialen Abschluss der wirtschaftlichen Funktionseliten niederschlug, liegt bereits außerhalb des eigentlichen Untersuchungszeitraums der vorliegenden Studie. Armin Müller hat mit ihr einen produktiven Anstoß gegeben, der nicht nur die zeithistorische ostdeutsche Elitenforschung bereichert, sondern der auch die wirtschaftssystemübergreifende Unternehmensgeschichte, sei sie deutsch-deutsch oder international vergleichend angelegt, voranbringen kann.

Anmerkungen:
1 Vgl. Hübner, Peter, Industrielle Manager in der SBZ/DDR. Sozial- und mentalitätsgeschichtliche Aspekte, in: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), S. 55-80; ders., Durch Planung zur Improvisation. Zur Geschichte des Leitungspersonals in der staatlichen Industrie der DDR, Diss., in: Archiv für Sozialgeschichte 39 (1999), S. 197-233.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension