Cover
Titel
Mao. Das Leben eines Mannes, das Schicksal eines Volkes


Autor(en)
Chang, Jung; Halliday, Jon
Erschienen
Anzahl Seiten
976 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Leese, School of Humanities and Social Sciences, International University Bremen

Selten ist einem Buch zur chinesischen Geschichte eine solche Aufmerksamkeit zuteil geworden wie der umfangreichen Mao-Biographie des Autoren-Ehepaars Jung Chang und Jon Halliday. Neben der logistischen und marketing-strategischen Meisterleistung dieser „Atombombe von einem Buch“1 ist vor allem der zeitliche und organisatorische Aufwand beeindruckend, welchen die Autor/innen für ihr Unterfangen in den vergangenen zwölf Jahren auf sich genommen haben. Das Quellenverzeichnis listet 363 Interviews mit Überlebenden aus dem Umfeld Maos und seiner Opfer auf. Beinahe alle zeitgenössischen Größen der internationalen Politik gaben Chang und Halliday bereitwillig Auskunft. Gleiches gilt für die rund fünfzigseitige Bibliografie: Noch nie ist ein Werk über Mao auf solch einer breiten Quellenbasis verfasst worden. Archive in elf Ländern, inklusive der zentralen Staatsarchive von Albanien und Bulgarien sowie nicht näher spezifizierte Archive in der Volksrepublik China und ein umfassendes Literaturverzeichnis westlicher und chinesischsprachiger Literatur machen den Anhang zu einer faszinierenden Lektüre, die jedem Chinaspezialisten noch unbekannte oder bislang nicht ausgeschöpfte Informationsquellen aufzeigen sollte.

Wenngleich im vergangenen Jahrzehnt mit den Biografien von Maos Leibarzt Li Zhisui (1994), den populär-wissenschaftlichen Darstellungen von Philip Short (1999) sowie Michael Lynch (2004) und den knappen Abhandlungen der Historiker Jonathan Spence (1999) und Timothy Cheek (2002) eine Vielzahl von Publikationen über Mao Zedong veröffentlicht wurden, nicht zu vergessen die offizielle zweibändige Biografie der Forschungsstelle zur Geschichte der Kommunistischen Partei Chinas (2003), bot die umfassende Quellenbasis Hoffnung auf bislang unbekannte Einsichten in das Leben des „Großen Vorsitzenden“. Unglücklicherweise enttäuscht das Buch die hochgesteckten Erwartungen auf allen Ebenen. Trotz des gewaltigen Anhangs handelt es sich bei der Biografie nicht um ein wissenschaftliches Werk im engeren Sinne, sondern um eine politische Anklageschrift. Durch detaillierte Schilderung von zahllosen Gräueltaten, die unter Maos Herrschaft begangen wurden, soll ein latent positives Bild der Öffentlichkeit von Mao als dichtendem Revolutionär zerstört werden. Dabei wird die moderne Geschichte Chinas reduziert auf die Psychopathologie eines monströs-genialen Übermenschen, der seine Zeitgenossen zu Statisten und strukturelle Faktoren zu bloßem Beiwerk degradierte.

Der Grundtenor des Buches lässt sich rasch subsumieren: Bereits in Maos Kindheit und Jugendzeit traten psychische Merkmale zutage, die Maos Laufbahn und seiner späteren Herrschaft ihr Gepräge gaben. In erster Linie ist hier der Unwille zu körperlicher Arbeit zu nennen, die Gleichgültigkeit dem Leiden anderer gegenüber (insbesondere dem Leiden der chinesischen Bauern) und ein extreme Selbstbezogenheit. In späteren Jahren kamen ein unbändiger Machtwille und eine sadistische Freude an Erniedrigungen und Gewalt hinzu: „Mao kam nicht über die Theorie zur Gewalt. Diese Neigung entsprang seinem Charakter“ (S. 63). Gestützt auf diese Eigenschaften zählten für Mao daher nur persönliche Bereicherung und Machtfülle, zunächst innerhalb der Partei, später auf internationalem Parkett durch Aufrüstung Chinas zur Nuklearmacht. „Maos größter Wunsch war es, die Welt zu beherrschen“ (S. 731).

In 58 Kapiteln präsentieren Chang und Halliday zu Beginn nicht weniger als eine Komplettrevision der gängigen Kenntnisse über die Geschichte der Kommunistischen Partei Chinas. Das Gründungsdatum der Partei verlegen die Autoren bereits auf 1920, was eine Nicht-Beteiligung Maos zur Folge hätte. Der Lange Marsch wird als bewusstes Taktieren Maos zur Usurpierung der kommunistischen Führung geschildert, mit Billigung Chiang Kai-sheks. Der Begriff der Kontingenz spielt in der Analyse von Chang und Halliday keine Rolle. Ihre spektakulären Thesen, etwa der Ausbruch des japanisch-chinesischen Krieges 1937 sei Ergebnis der Manipulation des kommunistischen „Supermaulwurfs“ (S. 268) Zhang Zhidong gewesen oder die Leugnung jeglicher Kampfhandlung an der mythischen Dadu-Brücke, stützen die Autoren in erster Linie auf Memoiren und Zeitzeugengespräche. Im Falle der Dadu-Brücke berufen sich Chang und Halliday auf eine „rüstige“ 93-jährige, die damals an der Brücke einen Tofu-Laden betrieb (S. 205f.) und keinerlei Gewehrfeuer gehört haben will. Die Problematik der unkritischen Verwendung von Erinnerungen als Quellenmaterial wird jedoch an keiner Stelle reflektiert. Stattdessen werden die mündlichen Überlieferungen mit teilweise unbekanntem Archivmaterial und hochgradig tendenziösen Quellen kombiniert.

Eine kritische Aufarbeitung der von der KPCh gepflegten Mythen der Parteigeschichte ist zweifelsohne notwendig. Wenig hilfreich ist jedoch deren Ersetzung durch negative Mythenbildung. Derweil im Anhang die meisten Standardwerke aufgelistet werden, besticht das Buch durch die vollkommene Missachtung des neueren Forschungsstandes in der Argumentation. Chang und Halliday schreiben ihr Buch, als seien sie die Ersten, welche sich kritisch mit der Rolle Mao Zedongs auseinanderzusetzen wagen. Wenn beispielsweise die „Hundert-Blumen Kampagne“ ganz im Sinne der späteren Rechtfertigung Maos als taktische Maßnahme zur Vernichtung von Konterrevolutionären geschildert wird, mutet es grotesk an, dass in der Fußnote ausgerechnet MacFarquhars Standardwerk „Origins of the Cultural Revolution“ erscheint, in welchem das Gegenteil belegt wird.3 Die Zitate, mit denen Chang und Halliday Maos berühmte Rede über die korrekte Behandlung von Widersprüchen im Volk vor dem bislang unbekannten „Rat der Zentralen Volksregierung“ (gemeint ist die Oberste Staatskonferenz!) als Falle für Konterrevolutionäre deuten, entstammen allesamt Reden, die nach dem offiziellen Beginn der Kampagne gegen Rechtsabweichler im Juni 1957 gehalten wurden. Der zentrale Bedeutungswandel zwischen dem Zeitpunkt der eigentlichen Rede am 27. Februar 1957 und ihrem redigierten Wiederabdruck in der Volkszeitung rund vier Monate später wird nicht einmal beiläufig erwähnt.

Die Behandlung der „Hundert-Blumen Kampagne“ ist beispielhaft für die Argumentation des gesamten Buches. Unliebsame Belege, die eine komplexer angelegte Darstellung oder gar eine Beschäftigung mit den Inhalten von Maos Reden verlangt hätte, werden schlicht ignoriert. Das Fehlen jeglicher Analyse der Wirkungsmechanismen ist frappierend und verhindert den Vergleich mit anderen Diktaturen, zumal die Autor/innen die zeitgenössische Haltung der Bevölkerung gegenüber dem Regime als durchgehend ablehnend beschreiben. Einen positiven Wissenszuwachs verspricht am ehesten das von Jon Halliday aus ost-europäischen Archiven gewonnene Quellenmaterial zur Interdependenz von Außen- und Innenpolitik. Allerdings ist auch hier ein äußerst kritisches Vorgehen angebracht, was etwa bei der Schilderung des Ausbruchs der Koreakriegs deutlich wird, für welchen auf vergleichbarer Quellenbasis geschriebene Arbeiten vorliegen.

Irritierend für ein sich wissenschaftlich gerierendes Werk ist der Gebrauch narrativer Strategien, um der Leserschaft keinen Zweifel zu ermöglichen, wer zu den „Guten“ und wer zu den „Bösen“ gehört. Erstere werden meist mit ihren chinesischen Vornamen genannt, Letztere hingegen durchgängig mit dem Nachnamen. Unerklärlich bleibt auch die konsequent durchgehaltene Verwendung von Spitznamen einzelner Kader wie „der Rote Professor“ für Wang Jiaxiang, „Kobra“ für Zhang Chunqiao oder „der Lange Luo“ für Luo Ruiqing. Die Suggestivtitel der einzelnen Kapitel: „Endlich: Oberster Parteiführer“ oder „Todesfalle für die eigenen Männer“ sind weitere Merkmale einer Erzählung, die Quellenkritik und komplexe historische Widersprüche einer klaren Plotstruktur unterordnet. Das Buch hat überdies einen fatalen Hang zur Boulevardisierung von Geschichte und delektiert sich in vielen Fällen an einer möglichst ausführlichen Schilderung von Morden, Vergewaltigungen und Intrigen (siehe etwa S. 708f.).

Ein zusätzliches Manko der deutschen Ausgabe ist die Übersetzung. Derweil das Original immerhin spannend zu lesen ist, stolpert der Leser in der deutschen Ausgabe nicht nur über den haarsträubenden Stil, der teilweise an einen Groschenroman erinnert (etwa „Gliedmaßen flogen in die Bäume, Blut und Gehirnmasse sprenkelten die Erde purpurrot“, S. 199), sondern vor allem über die inkonsistente Transkription chinesischer Namen, die anders als in der Originalausgabe ohne erkennbares Muster das klassische Wade-Giles System mit dem modernen Pinyin und Eigenkreationen mischt. Das größte Ärgernis aber ist der Anmerkungsapparat. Aus unerfindlichen Gründen hat man in der deutschen Ausgabe die inhaltlichen Stichpunkte entfernt, so dass auf eine Fußnote im Anhang nun bis zu einem Dutzend Titel- und Seitenangaben folgen, aus denen sich der geneigte Leser dann offensichtlich das passende Werk aussuchen soll. Durch handwerkliche Mängel ist somit auch der an und für sich herausragende wissenschaftliche Apparat in seinem Wert stark gemindert worden, auch wenn er nur eine Alibi-Funktion wahrnimmt.

Ein verlässliches historisches Standwerk ist die neue Mao-Biografie mitnichten, auch wenn das Buch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die am besten verkaufte Mao-Biographie aller Zeiten wird. Die provokativen und meinungsstarken Thesen in „Mao: The Unknown Story“ bieten jedoch Material für eine Vielzahl quellenkritischer Arbeiten, die einzelne Aspekte der Biografie eventuell bestätigen, vorausgesetzt Chang und Halliday machen ihre Quellen anderen Wissenschaftler/innen zugänglich und somit intersubjektiv überprüfbar. Es bleibt also zu hoffen, dass der kritische Impetus der Autor/innen aufgenommen wird und eine neue Generation zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit dieser zentralen Figur der modernen chinesischen Geschichte herausfordert.

Anmerkungen:

1 Siehe die Besprechung von Donald Morrison in Time Asia, abgedruckt auf der Rückseite des englischen Originals.
[2] Stranger Than Fiction, in: South China Morning Post, 1.Juli 2005, S. 14.
3 MacFarquhar, Roderick, The Origins of the Cultural Revolution, Bd.1, Contradictions Among the People, 1956-1957, London 1974, S. 131-189.

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