: Denkmalsturz?. Brandts Kniefall. München 2005 : OLZOG Verlag, ISBN 3-7892-8162-X 178 S. € 18,50

: Der Warschauer Kniefall. Ritual, Ereignis und Erzählung. Konstanz 2006 : UVK Verlag, ISBN 3-89669-600-9 331 S. € 34,00

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Friedrich Kießling, Institut für Geschichte, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Willy Brandts Kniefall vor dem Warschauer Ghetto-Mahnmal ist weit seltener zum Gegenstand detaillierter wissenschaftlicher Forschung geworden, als man vermuten könnte. Zwar hat das Ereignis 2001 Eingang in den ersten Band der „Deutschen Erinnerungsorte“ gefunden, bis vor kurzem existierten ansonsten aber nur Aufsätze zu Spezialaspekten.1 Mit der Untersuchung von Michael Wolffsohn und Thomas Brechenmacher sowie der Dissertation von Christoph Schneider liegen nun zwei Monografien zum Thema vor. Was Erkenntnisinteresse und Methode anbelangt, könnten die beiden Arbeiten unterschiedlicher nicht sein. Während Wolffsohn und Brechenmacher nach der politischen Bedeutung fragen, die der Kniefall zeitgenössisch hatte, und dazu Archivmaterial aus fünf Ländern heranziehen, basiert Schneiders Analyse im Wesentlichen auf 74 Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln, die der Autor zum Anlass umfassender theoretischer Reflexionen nimmt. Wolffsohn und Brechenmacher interessieren sich für die politische Situation und die Kontexte von 1970, Schneider geht es um die komplizierte Symbolgeschichte einer der berühmtesten Gesten der deutschen Geschichte.

Einen „Denkmalsturz“ nennen Wolffsohn und Brechenmacher ihr Buch und stellen die darin liegende Provokation durch das angefügte Fragezeichen sogleich wieder in Frage. Die grundsätzliche Bedeutung des Kniefalls wird auch nicht bestritten. „Langfristig“, so Wolffsohn und Brechenmacher, „schuf Brandts Kniefall ein anderes, prägendes Bild: das Bild vom wirklich neuen, besseren, menschlichen Deutschland, nicht mehr polternd, gar mordend, sondern demütig.“ (S. 167) Um die unmittelbaren Zusammenhänge und Wirkungen von 1970 zu verfolgen, beschäftigen sich Wolffsohn und Brechenmacher zunächst mit der Vorgeschichte des Warschauer Besuchs und den Reaktionen in Polen, anschließend vor allem mit denen in den USA, Frankreich und Großbritannien. Schließlich wird den Wirkungen auf die deutsch-israelischen Beziehungen bzw. auf das Verhältnis zwischen der Bundesregierung und den Juden in Deutschland in einem eigenen ausführlichen Kapitel nachgegangen.

Hinsichtlich der kurzfristigen politischen Wirkungen bietet das Buch einige bemerkenswerte Akzentuierungen des bisherigen Bildes. Dass der Kniefall in Polen mit Zurückhaltung aufgenommen wurde, ist bekannt – dass er aber die „neue Ostpolitik“ gefährdet habe, geht über die bisherigen Interpretationen hinaus. Wichtiger sind jedoch die Passagen zum Vorfeld des Besuchs. Gestützt auf die Akten des Auswärtigen Amtes und den Nachlass Brandts im Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung können Wolffsohn und Brechenmacher plausibel zeigen, dass der Kniefall eine wichtige Vorgeschichte hatte. Das Verhältnis zwischen der Bundesregierung und Israel sowie zum Zentralrat der Juden in Deutschland war zu Beginn der sozialliberalen Koalition denkbar schlecht. Klaus Harpprecht, Brandts Freund und Berater, regte deshalb im Oktober 1970 brieflich eine „öffentliche Geste“ von Brandt an, um die diversen Querelen auszugleichen. Brandt bezeichnete den Vorschlag in seiner Antwort als „sehr erwägenswert“ (S. 23f.). Die Kranzniederlegung am Ghetto-Mahnmal ging dann auf den ausdrücklichen Wunsch des Kanzlers zurück (S. 20), und der Zusammenhang mit dem deutsch-jüdischen Beziehungen liegt auf der Hand. Anknüpfend auch an die – vor allem zeitgenössisch geführte – Diskussion, ob der Kniefall nun spontan oder geplant war, bilanzieren Wolffsohn und Brechenmacher: „Sollte der Kniefall geplant gewesen sein, was wir […] weder vermuten noch gar beweisen können (und wollen), hatte er eine Vorgeschichte, und der Bundeskanzler bezweckte Konkretes. War der Kniefall spontan, hatte er wie jede spontane Geste auch eine Vorgeschichte – dieselbe.“ (S. 160) Ganz „eindeutig bewusst“ sei jedenfalls die Entscheidung gewesen, „das Ghetto-Mahnmal überhaupt aufzusuchen“ (S. 161).

Was die Wirkungen der Geste im Ausland und bei der deutschen jüdischen Gemeinschaft anbelangt, fällt das Fazit eindeutig aus: Der Kniefall näherte sich einem „Nicht-Ereignis“. Für die Regierungen in Frankreich, Großbritannien und den USA spielte er kaum eine Rolle. Ja, Brandts Geste wurde in den internen Dokumenten fast gar nicht erwähnt, während der Besuch selbst, samt deutsch-polnischer Vertragsunterzeichnung, selbstverständlich breit diskutiert wurde. Das gilt ebenso für die israelische Regierung. Auch für Israel zählten „Taten, harte Fakten“ (Wolffsohn und Brechenmacher denken nicht zuletzt an Finanzhilfen und Waffenlieferungen), weniger „weiche Worte oder schöne Gesten und reine historische Westen“ (S. 156). Und für die deutschen Juden ist der Befund der beiden Autoren ähnlich. „Die jüdische Gemeinschaft begrüßt jede Versöhnung, ganz gleich, in welchem Erdteil sie zustande kommt“, erklärte Werner Nachmann, der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, und reagierte damit tatsächlich höchstens „floskelhaft“ (S. 92). Der „Jüdische Pressedienst“ kritisierte trotz des Kniefalls, der Bundeskanzler habe in Polen wie schon Außenminister Scheel zuvor bei einem Besuch in Auschwitz (einer der Gründe für die Spannungen zur Bundesregierung) so gesprochen, als gehe dieser Ort nur Polen und Deutsche an; Brandt habe verschwiegen, dass die Hauptopfer Juden gewesen seien (S. 92).

Wenn aber der Kniefall auf allen Ebenen zunächst keine unmittelbaren Auswirkungen hatte, wie kam es dann zur außergewöhnlichen Präsenz dieser Geste heute? An dieser Stelle setzt Christoph Schneider mit seiner am Konstanzer Sonderforschungsbereich „Norm und Symbol“ entstandenen soziologischen Dissertation ein. Ihn interessiert, wie aus dem „Ereignis“ Kniefall das Symbol werden konnte, das die deutsche Nachkriegsgeschichte zumindest mitstrukturiert hat und das inzwischen in Warschau selbst Gegenstand einer Gedenktafel geworden ist. Historische Archive hat er dazu nicht bemüht und brauchte sie auch nicht, da es ihm entschieden konstruktivistisch um die Klärung der Bedingungen und Mechanismen der Verfertigung eines kollektiven Symbols geht. Eine beachtliche Leistung ist es bereits, dass Schneider für seine Fallstudie die einschlägige sozial- und kulturwissenschaftliche Literatur umfassend verarbeitet hat. Nacheinander stellt er die verschiedenen theoretischen Dimensionen einer kollektiven Symbolkonstruktion vor und diskutiert sie eingehend (Symbolbegriff, Performanz, Ritual, Narrativität, Verhältnis von Ereignis und Struktur).

Beispielhaft hervorgehoben seien aus den vorzüglichen, auch für die Nichtsoziologen/innen klar verständlichen Überlegungen Schneiders Bemerkungen zum Aspekt des bedeutsamen „Augenblicks“ und zur Möglichkeit der Formabweichungen im Ritual. Der Augenblick, so Schneider, sei „nicht in der Geschichte“, sondern er „konstituiert Geschichte“. Er werde immer wieder „als der Punkt definiert, von dem Neues ausgeht – nicht Weiterbearbeitung und Fortführung von Althergebrachtem, sondern ‚Schöpfung‘ im genuinen Sinne“. Zudem sei wichtig, dass es sich um einen „Sprung“ handele, der sich „nicht in einen logisch nachvollziehbaren Kausalnexus einreihen lässt“ (S. 153). Das Ritual versteht Schneider als einen „Schwellenzustand“, in dem sich alte Ordnung und neue bzw. wiederherzustellende Ordnung überlagern. Rituale sind so einerseits „strukturiert und symbolisieren [...] bestehende soziale Strukturen“, andererseits besitzen sie aber einen „ereignishaften, charismatischen beziehungsweise einen Charisma-generierenden Höhepunkt“ (S. 157). Von hier aus stellt sich dann aber die Frage, inwieweit Rituale in ihrer Ereignishaftigkeit offen für Formabweichungen sind, was im Falle des Kniefalls im Rahmen einer – anders ritualisierten – Kranzniederlegung von besonderem Interesse wäre. Schneider geht davon aus, dass ein solcher Regelverstoß in der Struktur des Rituals zumindest angelegt ist. „Augenblick“ und Ritual können so helfen, das Phänomen Kniefall zu verstehen.

Dass der Rezensent nicht allen Schlüssen des Autors folgen mag, ist normal. Schwierigkeiten hatte ich zum Beispiel mit dem Identitätsbegriff, der offenbar allgemeinen Identitätstheorien entnommen ist, dann aber auf die „öffentlich-politische Identität“ angewandt wird, die durch die bundesdeutsche Publizistik hergestellt werde. Sollten hier dann nicht auch politische und journalistische Zusammenhänge und Mechanismen stärker bedacht werden (S. 21ff., S. 68f.)? Auch die Verbindung von Ritual und „Ereignis“ scheint mir in Schneiders Version noch nicht ganz aufzugehen. Insgesamt ist den Befunden zum „Prozess der Symbolgenerierung“ (S. 290) aber kaum zu widersprechen. Die zeitgenössischen Beschreibungen von 1970, die das Außergewöhnliche des Kniefalls hervorhoben, schufen die Basis dafür, dass der Kniefall später mit Hilfe von kulturell bereitliegenden Narrationsmustern zum Symbol bundesdeutscher Vergangenheitsbewältigung werden konnte. Die Erzählung ist also auf „besondere“ Ereignisse angewiesen. Umgekehrt erhalten die Vorkommnisse aber erst durch die Einbettung in eine Geschichte ihre volle Bedeutung. Im Falle des Kniefalls konnte das in Brandts Geste „verdichtete Bekenntnis zu eigener Schuld“ dann als der sakral aufgeladene, „karthartische Punkt“ gefeiert werden, „der den Weg hin zu wiederhergestellter Gemeinschaft zwischen Deutschland und seinen Nachbarn öffnete“ (S. 242). Nicht zuletzt demonstriert Schneider, wie hemmungslos Journalisten/innen bei späteren Gelegenheiten aus früheren Artikeln und Stellungnahmen abschrieben und bestimmte religiöse Aufladungen weiter ausbauten.

Schon bisher konnte als gesichert gelten, dass der Kniefall zeitgenössisch weniger auffiel, als es heute angenommen wird. Die beiden Untersuchungen bestätigen diesen Befund aufs Neue. Auch Schneider geht davon aus, dass die konkreten Deutungen des Kniefalls erst sehr viel später formuliert wurden. Damit enden aber die Gemeinsamkeiten der beiden Arbeiten auch schon fast. Positiv könnte man sagen, dass sich die Studien – die eine politikhistorisch, die andere soziologisch und kulturwissenschaftlich geprägt – ideal ergänzen. Gerade weil sie so unterschiedlich sind, werden allerdings auch die jeweiligen Grenzen deutlich: Bei Wolffsohn und Brechenmacher hätte man sich gewünscht, dass der Zusammenhang zwischen Symbol und „harter“ Politik ernster genommen worden wäre. Einige Hinweise in dieser Richtung gibt es dabei durchaus. Zum Beispiel weisen die Autoren darauf hin, dass die moralische Geste die politische Position der Bundesrepublik selbst gegenüber den USA stärkte (S. 45f.). Ähnliches gilt für das deutsche Verhältnis zu Israel; gleichzeitig mit dem Kniefall versuchte die Regierung Brandt, den Begriff einer „Normalisierung“ der Beziehungen durchzusetzen. Überhaupt scheint mir die Doppelung von selbstsicherem, ja machtbewusstem Auftreten und der großen Bereitschaft zur Schuldanerkennung ein besonders interessantes Merkmal der sozialliberalen Außenpolitik zu sein. Gerade anhand des Kniefalls hätten solche realpolitisch-symbolischen Zusammenhänge gezeigt werden können.

Bei Schneider wiederum geht es den Leser/innen – wenn der Vergleich erlaubt ist – ein wenig wie während der Lektüre von Herman Melvilles „Moby-Dick“. Wer eine dramatische Begegnung mit dem weißen Wal erwartet hat, wird auf eine harte Probe gestellt. Auf den ersten 800 Seiten des Romans erfährt man viel über Hafenstädte und Walfangschiffe, über Beschreibungen von Walen, Bilder und wissenschaftliche Abhandlungen sowie über diverse Walarten. Auf eine Begegnung mit dem titelgebenden Moby Dick wartet man jedoch bis fast zum Schluss vergeblich. Schneider würde daran wohl die erkenntnistheoretische Frage knüpfen, ob die Reflexion über Wale und den Walfang oder die Beschreibung eines konkreten Exemplars der Spezies mehr Erkenntnisse verspricht – und vermutlich antworten, dass beides nötig sei. In Schneiders eigenem Buch erfährt man in immer neuen theoretischen Wendungen und auf beeindruckendem argumentativem Niveau viel über Rituale, Narrativität und die Theorie von Symbolkonstruktionen. Am Ende drängt sich dann aber doch der Eindruck auf, dass bei allen Verdiensten der Studie die Anwendung auf den konkreten Fall vielleicht etwas zu kurz gekommen ist.

Anmerkung:
1 Krzemiński, Adam, Der Kniefall, in: François, Etienne; Schulze, Hagen (Hgg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, München 2001, S. 638-653; Rother, Bernd, Willy Brandt – Der Kniefall von Warschau, in: Fröhlich, Claudia; Kohlstruck, Michael (Hgg.), Engagierte Demokraten. Vergangenheitspolitik in kritischer Absicht, Münster 1999, S. 299-308; Bingen, Dieter, Die Deutschland- und Ostpolitik Willy Brandts im Spiegel der polnischen Publizistik 1966–1974, in: Tessmer, Carsten (Hg.), Das Willy-Brandt-Bild in Deutschland und Polen, Berlin 2000, S. 95-109; Hein-Mooren, Klaus Dieter, Spontan oder geplant? Bemerkungen zu Willy Brandts Kniefall in Warschau, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 55 (2004), S. 744-753; drei Beiträge in: Giesen, Bernhard; Schneider, Christoph (Hgg.), Tätertrauma. Nationale Erinnerungen im öffentlichen Diskurs, Konstanz 2004; Kießling, Friedrich, Täter repräsentieren: Willy Brandts Kniefall in Warschau. Überlegungen zum Zusammenhang von bundesdeutscher Außenrepräsentation und der Erinnerung an den Nationalsozialismus, in: Paulmann, Johannes (Hg.), Auswärtige Repräsentationen. Zur Selbstdarstellung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg, Köln 2005, S. 205-224; zuletzt Wenger-Deilmann, Astrid; Kämpfer, Frank, Handschlag – Zeigegestus – Kniefall. Körpersprache, Gestik und Pathosformel in der visuellen politischen Kommunikation, in: Paul, Gerhard (Hg.), Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006, S. 188-205.

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