A. Tacke (Hrsg.): Heiligen- und Reliquienkult

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Titel
Ich armer sundiger mensch. Heiligen- und Reliquienkult am Übergang zum konfessionellen Zeitalter


Herausgeber
Tacke, Andreas
Erschienen
Göttingen 2006: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
542 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Brademann, Historisches Seminar, Universität Münster

Die Stiftung Moritzburg, Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt, hat seit dem Jahr 2003 drei wissenschaftliche Tagungen zu vornehmlich kultur-, kunst-, und kirchengeschichtlichen Themen der Zeit der Erzbischöfe Ernst (1476–1513) und Albrecht von Magdeburg (1514–1546) durchgeführt, jener Weichen stellenden Übergangsepoche des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts. Das vorzustellende Buch versammelte die Beiträge der zweiten, im Oktober 2004 auf der Moritzburg in Halle veranstalteten Tagung.

Wie schon beim Vorgängerband handelt es sich um eine ansprechende und hochwertige Publikation. Wiederum beschließen englische und französische Resümees den Band, erneut vermisst man jedoch leider auch eine inhaltliche Klammer in Form einer methodisch einführenden und inhaltlich bündelnden Einleitung. Der Anfangsaufsatz von Carola Fey über die Reliquienschätze deutscher Fürsten im Spätmittelalter kann dieses Defizit trotz seiner Materialfülle und methodischen Differenziertheit – so werden Anlässe der Wahrnehmung von Reliquien durch Memorialstiftungen betrachtet, Reliquiare und die liturgische Verehrung von Reliquien mit dynastischen Identifikationsinteressen in Verbindung gesetzt sowie allgemeine und individuelle Tendenzen in der Gestaltung der Reliquiare aufgezeigt – nicht ausgleichen.

Neu ist im vorliegenden Band die stärkere Einbeziehung von Theolog/innen, Germanist/innen, Mittelalter- und Frühneuzeithistoriker/innen. Auch wenn insgesamt die Vertreter der Kunstgeschichte dominieren, so verfolgen die Beiträge doch zumeist einen interdisziplinären Ansatz, weit entfernt von reiner Stilgeschichte, mit einer frömmigkeits-, sozial- und verfassungsgeschichtlichen Heuristik. Die Heiltümer werden in ihrer historischen Vielschichtigkeit beleuchtet und kontextualisiert. Das bezieht die Motivationen ihrer vornehmlich fürstlichen Sammler genauso mit ein wie die unterschiedlichen Modi ihrer Präsentation, ihre architektonische und mediale Repräsentation und die Rituale ihrer Verehrung. Auch die Entstehung von „Luthers Kritik an Heiligenkult und Wallfahrten“ im Kontext „ritualisierter Frömmigkeit des frühen 16. Jahrhunderts“, der Hartmut Kühne aus wissenssoziologischer Perspektive nachgeht, findet Beachtung. Sehr erfreulich ist die Integration auch einer musikhistorischen Perspektive, die Volker Schier mit Blick auf die akustischen Komponenten der Heiltumsweisungen in Halle einnimmt. Schier arbeitet erstmals die trotz ihrer Unauffälligkeit genuine Bedeutung der liturgischen Klänge für das Ritual und seine „potenzierte Gesamtempfindung“ heraus, die durch den von der Musik zu vervollständigenden „multisensorischen“ Charakter der Weisungen bewirkt wurde (S. 390). Inhaltlich etwas aus dem Rahmen fallen zum einen die verdienstvolle Untersuchung Johannes Tripps zu der bei liturgischen Umgängen in Halberstadt benutzten Drachenfigur sowie der beachtenswerte, 83 Seiten umfassende Aufsatz von Hanns Hubach, der anhand familien-, architektur- und stilgeschichtlicher Beobachtungen sowie unter Verwendung von Rechnungsbelegen nachweist, dass sich Matthias Grünewalds „Beweinung Christi“ nach 1525 auf der Vorderseite der Heiliggrabtruhe der Aschaffenburger Stiftskirche befand.

Der Aufsatz von Enno Bünz bietet einen Überblick zu der Heiltumssammlung des kursächsischen Landrentmeisters Degenhart Pfeffinger (1471-1519). Bünz’ Ausführungen zur Einbindung der Reliquien in die Repräsentationsbemühungen der Familie Pfeffinger in ihrer Familiengrablege in einer Filialkirche oberhalb Salmanskirchen in Oberbayern (S. 156ff.) zeigen, dass hier topografisch, weniger aber kulturell die residenzstädtisch-höfische Sphäre verlassen wurde. Der Beitrag von Christoph Volkmar befasst sich mit dem ambivalenten Verhältnis Herzog Georgs von Sachsen zum Annaberger Heiltum zwischen „landesherrlicher Förderung und persönlicher Distanz“ unter Rückgriff auf das Testament und verschiedene Instruktionen des Fürsten. Der Beitrag von Stefan Laube wartet mit der These auf, die Reliquiensammlung Friedrichs des Weisen sei „eine Sammlung neuen Typs“ gewesen, „die es vorher und nachher nicht gegeben“ habe (S. 172), deren „explosive Expansion“ auf eine Memorial-„Hybris“ des Kurfürsten hindeute und deren Gestaltung sich einer die Mannigfaltigkeit ihrer Einzelteile verbindenden „Hybridität“ wegen immer mehr von den Reliquien entfernt habe.

Man wünscht sich gelegentlich eine intensivere Beschäftigung mit den Fragen nach der Wirkung von Heiltümern sowie nach der wiederholt angesprochenen (S. 412, 14ff., 357ff.) Wahrnehmung der Kultadressaten. Kommunikation ist eine wechselseitige Angelegenheit und zeitigt Erfolg nur, wenn die Botschaft beim Empfänger ankommt. Ferner stellt sich die Frage, inwieweit die „mitteldeutsche Kultgeographie“ sich durch die reformatorische Kritik zu verändern begann, wie sehr die Reformatoren nicht nur gegen die Herrscher, sondern auch gegen die internalisierten Frömmigkeitsformen des ‚Volkes‘ zu kämpfen hatten. Kühnes erstaunlicher Befund, in Luthers Schriften fänden sich (absichtlich?) nur wenig Hinweise zum Reliquienkult in Mitteldeutschland, macht klar, wie sehr es sich lohnte, den Blick auf vorreformatorische Frömmigkeitsformen von den Färbungen gegenreformatorischer oder reformatorischer Sichtweisen zu befreien, wie dies in manchen jüngeren Arbeiten versucht wird. Mit dem Heiligenkult verband sich auf der anderen Seite auch für die Stadträte Prestige – das Verhältnis der residenzstädtischen Eliten zum fürstlichen Kult bleibt leider ausgeblendet. Warum und mit welchen Unterschieden konnten die ‚exportierten‘ Reliquien – wie sie Kerstin Merkel in ihrem Beitrag über „Die heilige Margarethe im katholischen Exil. Eine neue Wallfahrt für Aschaffenburg“ beschreibt und wie Bünz andeutet (S. 167f.) – anderswo ihre Wirkungskräfte beibehalten?

Für eine Herausarbeitung von Entwicklungslinien im Umgang mit den Heiligen im Spätmittelalter bietet der Band wichtige Anhaltspunkte, wenn etwa Fey die stärkere Historisierung der Schätze im späten 15. Jahrhundert andeutet oder das von Philippe Cordez erstellte „Korpus von illustrierten Reliquienlisten“ (S. 39) im Reich zwischen 1461 und 1520 eine quantitativ und stilistisch eindrucksvolle Parallelevolution von Wallfahrt und Medienwettbewerb belegt.

Ihr Material schöpfen die Beiträge vor allem aus dem mitteldeutschen Raum. Neben dem Wittenberger (Laube, Heiser) und dem Annaberger (Volkmar) steht dabei das Hallische Heiltum im Mittelpunkt, so in den Beiträgen von Livia Cárdenas, Nine Miedema, Matthis Hamann und Christof L. Diedrichs. Die Überlegungen von Miedema drehen sich um die viel diskutierte Verbindung von Stellvertreterablass und der Gründung des Neuen Stifts (1519). Höchst verdienstvoll für die hallische Stadtgeschichte sind auch die Ausführungen von Hamann, die zum ersten Mal ein Bild über die das ganze Jahr durchziehende und die Festkultur der Saalestadt prägende liturgische Verehrung des Heiligen Mauritius im Neuen Stift entwerfen und deren historische Kontinuität – aufschlussreich ist die Vorbildhaftigkeit des Missale Magdeburgense (S. 302, 307f.) – aufzeigen. Diedrichs betrachtet die durch spärliche Quellen belegten Heiltumsweisungen in Halle vor dem Hintergrund ihrer Nürnberger Pendants und betont dabei den ästhetischen Sinn Kardinal Albrechts für das „Gesamtkunstwerk“ des Neuen Stifts.

Vor allem der interdisziplinäre Ansatz sowie die häufigen Vergleiche mit oberdeutschen und habsburgischen Beispielen – neben Bünz und Diedrichs ist hier Sabine Heiser zu nennen, die das Wiener Heiltumsbuch von 1502 zum Wittenberger von 1509 in rezeptionsgeschichtliche Verbindung setzt – machen den besonderen Wert des vorliegenden Bandes aus. Seine Adressaten findet die Publikation nicht nur im Umfeld der hallischen Stadtgeschichte, sondern über die Residenzenforschung hinaus auch im Bereich einer ethnologisch geschulten oder stärker lebensweltlich orientierten Kirchen-, Verfassungs- und Dynastengeschichte. Nicht nur Cárdenas’ Aufsatz über „Albrecht von Brandenburg – Herrschaft und Heilige. Fürstliche Repräsentation im Medium des Heiltumsbuches“ macht deutlich, welche Rolle religiöse und magische Geltungsbehauptungen für das Funktionieren von Herrschaft spielten. Die Beiträge von Laube, der das Wittenberger Heiltum in die umfangreichen, mit humanistischen Bezügen verquickten Bemühungen des Kurfürsten zur Konstruktion dynastischer Legitimität und Kontinuität einbettet (vgl. S. 186ff.), und von Diedrichs, der das „Ereignis Heiltum“ und die Macht der Realpräsenz mit ihrer gemeinschaftsstiftenden und herrschaftslegitimierenden Kraft unter Zuhilfenahme des kulturwissenschaftlichen Ansatzes der „Performativität“ beschreibt, seien hier besonders hervorgehoben. Der Band stellt die primär religiösen Symbole und Rituale in ihren gesellschaftlichen Kontext, wodurch die Multivalenz dieser Kommunikationsformen und die vormoderne Durchdringung von Religion und Politik überdeutlich werden.

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