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Titel
Vom Wert des Notwendigen. Preispolitik und Lebensstandard in der DDR der fünfziger Jahre


Autor(en)
Schevardo, Jennifer
Erschienen
Stuttgart 2006: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 62,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ilko-Sascha Kowalczuk, Abt. Bildung und Forschung, Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes (BStU)

Die Kommunisten rechtfertigten ihre Versuche, eine neue Gesellschaft aufzubauen, mit dem Ziel, dass es in dieser Gesellschaft allen Menschen besser gehen würde. Jeder Mensch würde nach seinen Fähigkeiten leben, würde sich im Einklang mit angeblichen gesellschaftlichen Gesetzen entwickeln und seine individuellen Wünsche den kollektiven Bedürfnissen anpassen. In der Theorie hieß diese viele Menschen ansprechende Utopie: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Die Realitäten kommunistischer Gesellschaften freilich ließen jedoch umgekehrte Überzeugungen entstehen: denn in den kommunistischen Diktaturen bestimmte nicht selten – bei Kommunisten wie Antikommunisten, bei Herrschern wie Beherrschten fast gleichermaßen – das Bewusstsein das Sein.

Die Wirklichkeit des Kommunismus sowjetischen Typs hat der Volksmund frühzeitig in eine Witzkultur einfließen lassen, die diese erfahrene Realität spiegelt. In einem dieser unzähligen Witze kommt eine Frau in ein Geschäft und fragt: „Haben Sie Bettwäsche?“ Der Verkäufer antwortet: „Nein, wir haben keine Handtücher. Keine Bettwäsche gibt es nebenan.“ Hinter diesem Witz verbirgt sich eine Realität, die in ihrer Vielgliedrigkeit historisch schwer zu erklären ist. Denn in dieses fiktive Geschäft kam fast niemals ein Kunde und fragte: „Wie teuer ist […]?“ Der Preis spielt oft nur eine nebensächliche Rolle, fundamental war die Antwort auf die Frage: „Haben Sie […]?“ Das implizierte eine enorme Abwertung des Geldes und zwar nicht nur den materiellen Wert betreffend. Und zugleich nahm Geld auch im Kommunismus eine einzigartig singuläre Position ein, die sich auf dem Schwarzmarkt ebenso zeigte wie in der Sozialpolitik und nicht zuletzt in dem Umstand, dass in allen Staaten die D-Mark (West) oder der US-Dollar als zweite Währung, als „echtes“ Geld kursierten und eigene Wirtschafts-, Handels- und Dienstleistungsräume konstituierten.

Jennifer Schevardo hat mit ihrer Studie über Preispolitik und Lebensstandard in der DDR der 1950er-Jahre eine Reihe von Mechanismen der kommunistischen Planwirtschaft freigelegt und zugleich analysiert, wie die Verwalter der Mangelgesellschaft bemüht waren, die leeren Regale zu füllen, die schlechte Qualität vieler Waren zu kaschieren oder auch zu verbessern, auf Konsumnachfragen zu reagieren und letztlich den Lebensstandard der Menschen zu heben oder wenigstens die Illusion zu wecken, er wäre gehoben worden.

Schevardos Studie gliedert sich in sieben Kapitel. Neben einer Einleitung (Fragestellung, Methoden, Quellen, Forschungsstand, Struktur der Arbeit) und einer präzisen Schlussbetrachtung handelt die Autorin im zweiten Kapitel die theoretischen Grundlagen der kommunistischen Preispolitik ab. Diese Darstellung der marxistisch-leninistischen Wertbetrachtungen ist als theoretische Grundlage der Preisbildungspraxis aufschlussreich. Vor allem die Ausführungen über die parteiinternen Auseinandersetzungen über Marxsche Wertgesetze, Mehrwerttheorie und Preisbildungen zeigen, dass es innerhalb des kommunistischen Herrschaftsapparates divergierende Auffassungen über die Wirtschafts- und Finanzpolitik gab und diese Unterschiede von verschiedenen theoretischen Annahmen und Ausgangsüberlegungen konturiert wurden.

In den Kapiteln drei bis fünf untersucht Schevardo die Preispolitik zwischen 1948-1953, 1953-1958 und 1958-1961. Die Zäsuren sind einleuchtend: Währungsumtausch 1948, Volksaufstand 1953, Ende der Rationierungspolitik 1958 und Mauerbau 1961. Auf einer breiten Quellengrundlage wird analysiert, wie die systembedingten gravierenden Mängel der Planwirtschaft mittels einer zentral gelenkten Preispolitik abgemildert werden sollten und wie zugleich die Abschöpfung der Kaufkraft als Mittel dienen sollte, die Angebote zu verbessern. Im sechsten Kapitel geht Schevardo der Frage nach, wie die zentral gesteuerte Preispolitik den Lebensstandard der Menschen in der DDR konkret beeinflusste. Die Autorin errechnete hier als ein Ergebnis ihrer Studien, dass die Reallöhne stets niedriger waren als offiziell angegeben und dass der Lebensstandard ebenso unter dem Verkündeten lag. Beides mag nicht sonderlich überraschen, ist aber als wissenschaftlich abgesicherter Befund so detailliert erstmals verfügbar.

Schevardo hat eine Arbeit vorgelegt, die durch eine klare Sprache besticht. Besonders hervorzuheben ist der Umstand, dass mit dieser Studie eine genaue Analyse der Lebensumstände in den 1950er-Jahren in der DDR vorliegt. Der Prozess der Preisbildung, der nicht nur damals im Dunkeln lag, sondern auch heute schwer nachvollziehbar ist, wurde einleuchtend rekonstruiert und dabei herausgearbeitet, in welchen politischen, ökonomischen und sozialpolitischen Spannungsfeld politische Handlungsträger und wirtschaftliche Eliten agierten. Die Untersuchung macht einmal mehr deutlich, welche tiefen politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Einschnitte die Jahre 1953 und 1961 für das SED-System darstellten.

Kritisch wäre anzumerken, dass die Arbeit „blutarm“ bleibt. Eine Analyse, die mit mehrstelligen, letztlich abstrakten Millionenbeträgen operiert, bleibt unbefriedigend. Nur an ganz wenigen Stellen wird die Analyse mit Informationen über den konkreten Erfahrungsbereich der Menschen untersetzt (z. B. S. 95, S. 187, Fn 6). Was nützt es zu erfahren, dass etwa Mitte 1951 in der HO der Preis für ein Ei nur noch ein Viertel dessen betrug, was man gut zwei Jahre zuvor dafür bezahlte (S. 108)? Leider analysiert die Autorin weder systematisch die Einkünfte noch die realen Preise und erst recht nicht die interessante Frage, wer denn überhaupt bei einem Durchschnittseinkommen von 308 Mark (1952) ein Kilo Zucker für 12 Mark, ein Kilo Butter für 24 Mark oder ein Kilo Schweinefleisch für 15 Mark in der HO kaufen konnte. Lediglich an einer Stelle deutet die Autorin an, dass sehr viele Menschen von der HO und ihrem Angebot ausgeschlossen blieben (S. 110). Das hätte durchaus einer eingehenden Erörterung bedurft, weil es die Ambivalenzen der Preispolitik und der Sozialpolitik deutlicher aufgezeigt hätte.

Auch dass die Autorin mit keinem Wort das im Oktober 1952 erlassene „Gesetz zum Schutze des Volkseigentum“ erwähnt, scheint nicht einleuchtend. Dieses Gesetz prägten erziehungsdiktatorische Merkmale. Mit seiner Hilfe sollte den Menschen die neue sozialistische Eigentumsmoral eingeschärft werden. Bis Ende 1953 verurteilten die Richter entsprechend diesen gesetzlichen Vorgaben weit über 10.000 Menschen, zumeist Arbeiter, zu hohen Zuchthausstrafen. Das ist in diesem Zusammenhang deshalb interessant, weil die Verurteilten vor allem aus einkommensschwachen Kreisen kamen, sich die Waren in der HO nicht leisten konnten und zugleich die zugeteilten Waren nicht ausreichten. Wie die Gerichte in solchen Fällen vorgingen, zeigt exemplarisch ein Ausschnitt aus einem Urteilsspruch des Kreisgerichtes Greifswald vom 24. Februar 1953. Ein Fuhrunternehmer erhielt ein Jahr Zuchthaus wegen Diebstahls. In der Begründung hieß es: „Am 27. 1. 1953 hatte der Angeklagte mit seinem Fuhrwerk [...] Spirituosen in der Stadt Greifswald auszufahren und dabei auch HO-Verkaufsstellen zu beliefern. [...] Er hatte zusammen mit seinem Begleiter eine mit Spirituosen gefüllte Kiste in die Verkaufsstelle hineingetragen und befand sich mit der leeren Kiste auf dem Rückwege, als er in dem Lagerraum eine Reihe von Mettwürsten hängen sah. Ohne große Überlegung riss er kurzentschlossen eine Mettwurst herunter [...] Wenig später wurde der Diebstahl [...] bemerkt, der Angeklagte [...] zur Rede gestellt und die Tat von ihm sofort zugegeben. Die Wurst wurde sofort an die HO zurückgegeben. Als Motiv gab der Angeklagte an, er habe beim Anblick der vielen Mettwürste an die zu Hause herrschende Notlage gedacht. Von seinen 7 Kindern seien noch 6 zu Hause. [...] Sein monatliches Einkommen betrage nur 220,- bis 250,- DM netto. Seine Kinder müssten zu Abend oft Marmeladestullen essen [...]“1

Zuweilen hätte es der Arbeit auch gut getan, wenn historische Hintergründe stärker berücksichtigt worden wären. So konstatiert die Autorin zwar, dass 1952 die landwirtschaftliche Produktion stark einbrach und es deshalb 1953 zu einer Versorgungskrise kam (S. 106-107), sie geht aber nicht auf die Ursachen dieser Agrarkrise ein, die immerhin mit ein Auslöser der gescheiterten Revolution vom Juni 1953 wurde und eine Erklärung dafür bietet, warum hunderte Dörfer am Aufstand beteiligt waren. Etwa 15.000 Bauern verließen nach der 2. SED-Parteikonferenz 1952 mit ihren Familien ihre Höfe und flüchteten in den Westen, viele so genannte Neubauern gingen in die Stadt, so dass eine große landwirtschaftliche Nutzfläche brach lag. Die Abwanderungsgründe waren im Falle der Bauern politischer Natur, die Agrarkrise war also „hausgemacht“. Ein Hauptgrund dafür lag in der politisch-ideologisch instrumentalisierten Steuer- und Preispolitik. Dass die Autorin das Schicksal des Handels- und Versorgungsministers Karl Hamann unerwähnt lässt (S. 117), ist nicht nachvollziehbar. Hamann sollte immerhin für die Handels- und Versorgungsmisere verantwortlich gemacht werden.

Trotz dieser kritischen Anmerkungen hat Jennifer Schevardo dennoch ein wichtiges Buch vorgelegt, das viele neue Einblicke in die Wirtschafts- und Sozialgeschichte der DDR gewährt. Es ist nicht eine große neue These, die dieses Buch charakterisiert, sondern die genaue Rekonstruktion historischer Vorgänge, die – man kann es erahnen – eine erhebliche Kärrnerarbeit voraussetzte. Die von der Verfasserin erstellten Befunde zeigen zudem, wie die Wirtschaftseliten unterer Strukturebenen geradezu von den politischen Entscheidungsträgern „gezwungen“ wurden, Bilanzen zu verfälschen und alten Wein in neue Schläuche zu gießen. „Wichen die Betriebe jedoch auf Grund von Lieferproblemen auf billigere Ersatzstoffe aus, wurden die Preise nicht mehr gesenkt, so dass die Betriebe höhere Gewinne hatten, obwohl die Qualität ihrer Produkte nachließ.“ (S. 163)

Jennifer Schevardos Studie zeigt im Übrigen auch, dass es der SED-Führung nicht gelang, „die Erwartungen der Bevölkerung zu antizipieren“ (S. 16). Selbst wenn sie diese aber realistisch wahrgenommen hätte, wären sie systembedingt nicht zu erfüllen gewesen. Insofern blieb das Projekt, den Kommunismus mittels einer auf die Bedürfnisse der Menschen orientierten Wirtschafts-, Konsum- und Sozialpolitik zu legitimieren, nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch von Beginn an uneinlösbar.

Anmerkung:

1 Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (Hrsg.): Unrecht als System. Teil II. Bonn 1955, S. 210.

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