Th. Henne u.a. (Hrsg.): Das Lüth-Urteil aus (rechts-)historischer Sicht

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Titel
Das Lüth-Urteil aus (rechts-)historischer Sicht. Die Konflikte um Veit Harlan und die Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts


Herausgeber
Henne, Thomas; Riedlinger, Arne
Anzahl Seiten
591 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Viktor Winkler, Internationales Max-Planck Forschungskolleg für vergleichende Rechtsgeschichte, Frankfurt am Main

Der überwiegend aus einer Tagung hervorgegangene Band ist doppelt interessant: Einmal zur Sache selbst, der wohl folgenreichsten Entscheidung in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts, zum Anderen aber zu Stand und Perspektive einer in jedem Wortsinn merkwürdigen Disziplin: der Rechtsgeschichte. Obwohl historisch vorgehend ist sie noch immer ganz überwiegend (wenn auch keineswegs ausschließlich) an den juristischen Fakultäten ansässig. Damit sitzt sie, um im Bild zu bleiben, nicht nur institutionell sondern auch methodisch zwischen den Stühlen. An einer Fakultät, die Studierenden eine normative Wissenschaft vermitteln soll, sucht sie nach empirischer Erkenntnis. Pedestrischer ausgedrückt: Wo alle sagen, wie es sein soll, spricht sie davon wie es gewesen ist. In dieser Beschreibung werden sich natürlich ‚moderne’ Vertreter/innen beider Disziplinen nicht wieder finden, in der Jurisprudenz nicht und in der Geschichtswissenschaft nicht. Aber das gefürchtete Gespenst einer historia magistra vitae, die methodischen Aporien, die mit dem Gegenwartsbezug einhergehen, sind damit für die Rechtsgeschichte doch auf den Punkt gebracht. Sie trieben und treiben die Disziplin um.1 Der vorliegende Band geht hier einen besonderen Weg. Das muss er aber auch. Das Lüth-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1958 ist eine, wenn nicht die tragende Säule der (Richter-) Rechtsordnung seit 1945 – und damit so nah an den normativen Fragen des geltenden Rechts, dass, anders als bei beliebten Gegenständen der Rechtsgeschichte wie dem römischen Kaufrecht, den frühneuzeitlichen Polizei-Ordnungen oder dem mittelalterlichen Handelsrecht, die Gretchenfrage nach der Applikation historischer Forschung nicht mehr einfach abgetan werden kann.

Inwiefern aber ändert gewonnenes historisches Wissen über die Lüth-Entscheidung unseren (täglichen) Umgang mit dieser Entscheidung, werden interessierte Jurist/innen fragen. Die Herausgeber, ein Historiker und ein Jurist, beantworten die Frage im Sinn eines dritten Wegs: Die Beiträge sollen und können die unmittelbare Anwendung des Urteils nicht abändern. Darüber, ob das Urteil juristisch ‚richtig’ ist oder nicht, will man nichts sagen. Aber auch in keimfreie Historisierung flüchtet man sich nicht. Stattdessen solle durch die Beiträge die „Darlegungslast“ verschoben werden: Wer sich auf das Lüth-Urteil beruft, müsse nunmehr sagen, ob er auch die dem Urteil zugrunde liegende Ratio, dessen Fundamente, Prämissen und Kontexte gleichsam mitnehmen will (S. 5).

Die bisherige Forschung ist insoweit tatsächlich stumm geblieben. Die Geschichte des Bundesverfassungsgerichts ist kaum bearbeitet worden, zumal jene seiner Leitentscheidungen. Von juristischer Seite hat dies zuletzt Uwe Wesel versucht, freilich gemäß dem von ihm gepflegten Stil gekonnt essayistisch, assoziativ und betont unakademisch.2 Auch Jörg Menzels Sammlung der hundert wichtigsten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts bot einen ersten historischen Zugang aber noch keine wirkliche Historisierung; sie blickte gleichsam von ‚innen’ auf die Entwicklung der Verfassungsrechtsprechung.3 Eine Pionierarbeit stellt Heinz Laufers Rekonstruktion der Frühphase des Gerichts dar.4 Die Verknüpfung mit den juristischen Produkten Karlsruhes bot auch sie nicht. Dabei zeigt der vorliegende Band nachdrücklich die enge Beziehung der Lüth-Entscheidung nicht nur zum allgemeinen historischen Kontext, was zu erwarten war, sondern auch zu den Bedingungen des Gerichts selbst. Die primäre – und selbst gestellte – Aufgabe des Bundesverfassungsgericht bestand nach seiner Gründung im Jahr 1951 demnach vor allem in der Selbstbehauptung gegen den mächtigen Antipoden, der unweit in der gleichen Stadt residierte: dem Bundesgerichtshof. Dort war man mit großem Selbstbewusstsein unmittelbar nach 1945 zur so genannten Naturrechts-Renaissance übergangen und begründete mit einem „wiedererweckten“ Naturrecht nicht nur eine vermeintliche Remedur gegen vorige „Rechtsentartung“ sondern auch eine mächtige Rechtserkenntnisquelle, die gerade in politisch-moralisch höchst bedeutsamen Fragen die Autorität des Bundesgerichtshofs als exklusives Orakel zu implementieren suchte. Wenn das Bundesverfassungsgericht in der Lüth-Entscheidung die Grundrechte 1958 als „objektive Wertordnung“ definierte, geschah dies auch und gerade, um dem Karlsruher Nachbar die juristische Deutungshoheit zu entziehen, wie die Beiträge von Manfred Baldus, André Brodocz und Thomas Henne zeigen; denn mit ‚Lüth’ waren die noch ganz im Sinn der Wertphilosophie als material verstandenen Verfassungsentscheidungen jetzt nur noch aus dem Grundgesetz selbst, und sei es auch als Wertordnung, zu gewinnen, metajuristische Rechtsquellen, die am Bundesgerichtshof gehütet wurden, also gekappt. Das Grundgesetz wurde nun mal, das konnte auch das Schwestergericht nicht bestreiten, vom Bundesverfassungsgericht ausgelegt.

Aber noch viel mehr, vor allem an Staatsphilosophischem, hat das Bundesverfassungsgericht in seine berühmte Entscheidung „hineingepackt“, wie es der Dabei gewesene Wilhelm Hennis in seiner wunderbar lakonischen Erinnerung nennt (S. 193). Hier beginnt freilich der dritte Weg zwischen Applikation und Historisierung holprig zu werden. Etwas unbeholfen präsentiert sich daher nicht zufällig der Beitrag von Stefan Ruppert, der sich eigentlich vorgenommen hatte, die allseits unterstellten Bezüge zu der Integrationslehre Rudolf Smends zu untersuchen. Nichts Genaues weiß man nicht, könnte man seinen Versuch zusammenfassen. Denn, so Ruppert, „[a]m Ende fällt ein Resümee nicht leicht – zu groß ist auf der einen Seite die Ähnlichkeit der Formulierungen, zu groß aber auch der damit einhergehende Bedeutungswandel dieser Begriffe“ (S. 347). Die Passage könnte das eingangs erwähnte Grundproblem nicht besser beleuchten. Rechtstexte sind zweidimensional, und sie sind es stärker als sonstige Texte. Ihre Zweidimensionalität ist gewollt. Die (weitgehende) Immunisierung gegen Meta-Ebenen ist gerade ihr Zweck, die Immunisierung gegen Geschichte und Philosophie vielleicht ihr wichtigster. Das gilt auch für einen Urteilstext, wie jenen folgenreichen von der „objektiven Wertordnung“ der Grundrechte in der Lüth-Entscheidung. Versuche, solche Texte zu (re-)historisieren sind löblich und häufig reizvoll, dem juristischen Text können sie wenig anhaben. Was ändert es, könnte man fragen, wenn, wie der Band zeigt, in die Lüth-Entscheidung historisch-philosophische Prägungen eingeflossen sind, die im Kern anti-pluralistisch, anti-demokratisch und anti-totalitär und also heute obsolet sind? Sie sind eben nur eingeflossen und jetzt verkapselt in einem hermetischen Rechtstext, der als Text wirkt. Und als solcher hat er unbestreitbar die Veränderung der Nachkriegs-Rechtsordnung zu mehr Demokratie, mehr Pluralismus, mehr Meinungsfreiheit etc. bewirkt. Die „Ausstrahlungswirkung“ der Grundrechte im Sinn der Lüth-Entscheidung hat das Grundgesetz seit 1945 über eine (noch) nicht voll demokratische und keineswegs pluralistische Rechtsordnung gelegt und damit an jenen Ort, nach dem es ihrem eigenen Wortlaut entsprechend hingehört: an die Spitze der Rechtsordnung.

Insoweit erscheint der Beitrag historischen Erkennens gerade für die Lüth-Entscheidung ambivalent. Sie hat einen Beigeschmack. Schmecken wird ihn der/die kundige Jurist/in auch bei manchen Beiträgen im vorliegenden Band immer dann, wenn über historische Erkenntnis ein vermeintliches Sein dem verfassungsrechtlichen Sollen nicht nur bei- sondern entgegengestellt werden soll. So erklärt Rainer Wahl in seinem Beitrag nicht nur historisch „Lüth und die Folgen“ (S. 371ff.) sondern kritisiert erkennbar und ganz gegenwärtig die pluralistische, vielfach anti-etatistische Stoßrichtung des Gerichts seit „Lüth“ vom Standpunkt eigener juristischer Vorprägungen, geht es Ilse Staff (auch) um eine Reanimierung der Staatsphilosophie von Hermann Heller (S. 315ff.), geht es Frieder Günther (auch) um die schnelle Abfertigung der 1968er und ihrer Kritik an der Vätergeneration (S. 301ff.), geht es Thorsten Hollstein (auch) um eine Rehabiliterung des Juristen Hans Carl Nipperdey für heutige Diskussionen über die Grenze zwischen Privatrecht und Verfassungsrecht (S. 249ff., 269). Die Probleme einer Geschichte von Recht bleiben also virulent. Einem historisch ungebildeten Juristen wird die Lüth-Entscheidung mit einem Schleier des Nichtwissens vielleicht gar nicht so spektakulär vorkommen. „Lüth“ hatte nicht viel mehr behauptet, als dass die Grundrechte für alle Rechtsgebiete eine Grundentscheidung darstellen. Das aber steht, ganz schlicht, in Artikel 1 des Grundgesetzes: „Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“ Ein Blick ins Gesetz fördert auch hier die Rechtskenntnis. Ob die Rechtsgeschichte dies auch tut, muss sie sich, solange sie an juristischen Fakultäten gelehrt und erforscht wird, auch weiterhin fragen lassen.

Anmerkungen:
1 Zuletzt etwa: Rückert, Joachim, Wozu Rechtsgeschichte?, in: Rechtsgeschichte 3 (2003), S. 58-65.
2 Wesel, Uwe, Der Gang nach Karlsruhe. Das Bundesverfassungsgericht in der Geschichte der Bundesrepublik, München 2004; zuvor schon in dem schmalen aber gewohnt geistvollen Büchlein: Wesel, Uwe, Die Hüter der Verfassung, Frankfurt am Main 1996, mit freilich noch knapperem historischem Material.
3 Menzel, Jörg (Hg.), Verfassungsrechtsprechung. Hundert Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in Retrospektive, Tübingen 2000.
4 Laufer, Heinz, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß. Studien zum Bundesverfassungsgericht der Bundesrepublik Deutschland, Tübingen 1968.

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