Die Frage, wie Lehrer zu Lehrern und Lehrerinnen zu Lehrerinnen wurden und werden, lässt sich nicht mithilfe von Gesetzen und programmatischen Schriften beantworten. Vielmehr verlangt diese Perspektive theoretisch nach einer Beschäftigung mit Sozialisationskonzepten und methodisch nach alltagsgeschichtlichen Quellen. Ausserdem muss ein derartiges Unterfangen auf eine bestimmte Region und einen überschaubaren Zeitraum eingeschränkt werden, um zu validen Ergebnissen zu führen.
All diese Anforderungen sind Hildegard Stratmann in ihrer Untersuchung „Lehrer werden“ bewusst und werden in den einleitenden Überlegungen reflektiert. Sie fokussiert auf die Ausbildung der Volksschullehrer und -lehrerinnen in Westfalen von 1870-1914, wobei die Lehrerinnen nicht in einem eigenen Abschnitt, sondern parallel zu den Lehrern betrachtet werden. Dies hat den Vorteil, dass geschlechtsspezifische Unterschiede nicht nur behauptet, sondern sofort empirisch überprüft werden können. Aufgrund der schwierigeren Quellenlage für die Lehrerinnensozialisation geschieht der Vergleich aber eher sporadisch.
Theoretisch greift Stratmann auf Ansätze der 1980er-Jahre zurück, die nicht mehr Kindheit und Jugend, sondern allgemein den „Vergesellschaftungsprozess des Individuums“ (S. 37) ins Zentrum ihres Sozialisationsbegriffs rücken. Diese Perspektive wird biographietheoretisch reformuliert, so dass verschiedene „Lernmilieus“ (S. 38) in ihrer chronologischen Abfolge zu untersuchen sind. Deshalb liegt es auch nahe, dass die Autorin auf Talcott Parsons Konzept der „peer group“ zurückgreift. Auf diese Weise können neben dem Herkunftsmilieu und der Ausbildungsstätte auch andere Sozialisationsfaktoren in den Blick genommen werden. Eine letzte theoretische Folie liefert die aktuelle Ritualforschung, die es Stratmann ermöglichen soll, auch eine kulturelle bzw. symbolische Dimension in die Interpretation der Quellen einzubeziehen.
Der Logik dieser theoretischen Überlegungen folgend gliedert sich das Buch in drei Teile. Zunächst wird anhand der Sozialisationsstätten Familie, Schule und den Präparandien die „Zeit vor der Ausbildung“ (S. 43) thematisiert. Für die Familien wird die geographische, soziale und mentalitäre Herkunft der Lehramtsanwärter dargestellt.
Ähnlich wie für die Herkunftsfamilie stützt sich die Autorin für den Sozialisationsfaktor „Schule“ vor allem auf autobiographisches Material. Die Schilderungen in den Erinnerungen werden nahezu durchgängig als die empirische Realität und nicht als nachträgliche Konstruktionen genommen. Die geschilderten Erfahrungen der später etablierten Lehrer könnten aber auch stattdessen eine Grammatik der Erinnerung abbilden, und nicht tatsächlich Einblick in die Sozialisationspraxis vor der Ausbildung geben. Es ist wahrscheinlich, dass im Nachhinein geglättet, romantisiert oder dramatisiert wurde, was für eine andere Fragestellung durchaus ein spannender Gegenstand ist, der aber ganz anders kontextualisiert werden müsste.
Im zweiten, umfänglichen und zentralen Teil des Buches konzentriert sich die Darstellung auf die Sozialisation innerhalb der Seminarien. Stratmann unterscheidet zu grossen Teilen sauber zwischen den Ansprüchen seitens der Seminarleitung und der tatsächlichen Umsetzung der Vorgaben durch die Seminaristinnen und Seminaristen. Die verschiedenen Ge- und Verbote werden differenziert dargestellt, Hausordnungen, Stundenpläne und andere interessante normative Quellen einbezogen. Die Autorin verweist auf die Eigenständigkeit der Seminarien gegenüber den preussischen Behörden und den Interessenskonflikt von staatlichen und geistlichen Ansprüchen. Interessanterweise wird aber daraus nicht der Schluss gezogen, die Existenz eines ‚universellen Erziehungsanspruchs’, der angeblich ein „konstitutives Merkmal der Lehrerbildung“ (S. 109) gewesen sei, aufzugeben. Dieser wird vielmehr verstärkt, indem Stratmann auf einer zweiten Ebene nicht nur die Sozialisation der Lehrerinnen und Lehrer untersuchen will. Sie behauptet zusätzlich, dass über die Volksschullehrerbildung die „Steuerung der Teilhabe ländlicher Schichten an bürgerlichen Verhaltensweisen und Wertungen“ (S. 305) organisiert worden sei. Dieser Widerspruch von einem vermeintlich universellen Anspruch und einer Eigenständigkeit der einzelnen Organisationen durchzieht den gesamten Hauptteil des Buches. Dabei beweist Stratmann an vielen Stellen, dass sie sich der Differenziertheit der tatsächlichen Verhältnisse bewusst ist. Diese noch mehr herauszuarbeiten und auch theoretisch zu reflektieren, hätte die vorliegende Untersuchung weitaus ergiebiger werden lassen können.
Stattdessen bleibt das Verhältnis von Norm und Praxis binär codiert. Es gibt nur die Möglichkeit, dass sich die Seminardirektoren, Oberlehrer und Lehrer bzw. die Seminaristinnen und Seminaristen affirmativ anpassen – oder dass es zum Konflikt kommt. Weitere Formen der „intelligenten Anpassung“ kommen gar nicht erst in den Blick. Dies hat einerseits mit der oben skizzierten Perspektive zu tun, andererseits aber mit dem zentralen Quellenmaterial der Arbeit. Stratmann wertet neben dem erwähnten autobiographischen Material vor allem die Korrespondenz des Provinzialschulkollegiums in Münster aus. Zentral sind hier vor allem die Disziplinarakten, aus denen sich zwar nicht die Sozialisation, wohl aber die konfliktträchtige Abweichung von den vorgegebenen Normen rekonstruieren lässt. Das Material eignet sich ausgezeichnet, um herauszufinden, welche Belange leichter zu Konflikten führten, wie diese ausgetragen wurden und was nie Gegenstand dieser Auseinandersetzungen war.
Dieses Potenzial wird aber leider nur andeutungsweise genutzt. Zwar werden über viele Seiten in anschaulichen Anekdoten der zum Teil massive Alkoholkonsum, die eigenwillige Kleiderwahl der Seminaristen, die Aufnahme sexueller Beziehungen und vieles mehr geschildert. Doch dienen die Darstellungen neben der sicherlich gelungenen Illustration des Seminarslebens zumeist der Schilderung eines Konflikts. Die in den Disziplinarakten geschilderten Vorgänge liessen sich aber auch anders interpretieren, was in den Darstellungen Stratmanns zum Teil durchscheint. So enthalten die Akten nicht nur die Bezeichnung des Vergehens der Seminaristen, sondern auch die anschliessende Korrespondenz zwischen den verantwortlichen Stellen und der Herkunftsfamilie und die Darstellungen durch den Beschuldigten selbst. Anhand einer Rekonstruktion dieser Kommunikationsprozesse liesse sich die These eines universellen Erziehungsanspruches, der durch die Seminarien gewährleistet worden sei, kritisch prüfen. Nur dann stünde neben der These, die Volksschullehrer seien „Multiplikatoren bürgerlicher Kultur“ (S. 305) gewesen auch diese Konzeption der Bürgerlichkeit selbst zur Disposition.
Im dritten Teil behandelt Stratmann kurz die Zeit der Seminaristen nach ihrer Ausbildung als Junglehrer. Anhand der erwähnten autobiographischen Quellen werden die Beziehungen der Lehrer zu ihren Kollegen, zum anderen Geschlecht, zur Herkunftsfamilie und anderen Gruppierungen dargestellt. Spätestens jetzt wird klar, dass die Sozialisation der Volksschullehrer nicht wirklich im Zentrum der Arbeit steht. Die in diesem Kapitel angesprochenen Fragen sind sicherlich interessant, wie auch die Frage nach der Sozialisation eine umfassende Untersuchung mit den entsprechenden Quellen wert ist. Nur passt die Frage, die auch die Struktur der Arbeit vorgibt, nicht recht zu den Quellen und der letztlich von der Autorin geleisteten Arbeit.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Rekonstruktion der Sozialisation von Lehrerinnen und Lehrern zwar ein ausgesprochen spannendes Forschungsfeld darstellt, das von Stratmann aber nicht wirklich untersucht wird. Hierzu fehlen schlicht die notwendigen Quellen. Trotzdem bietet ihre Arbeit eine Fülle von interessanten Aspekten, die eine neue Untersuchung des vermeintlich an den Seminarien durchgesetzten universellen Erziehungsanspruchs der preussischen Obrigkeit ermöglichen könnte. Die Disziplinarakten stellen dazu eine reichhaltige Quellengattung dar, die noch – soweit vorhanden – durch weitere Quellen wie Tagebücher und Briefwechsel zu ergänzen wäre. Auf diese Weise könnte das Verhältnis der preussischen Obrigkeit zu den Seminarien einerseits und des Seminars zu seinen Seminarsdirektoren, Seminaristen, Oberlehrern und Lehrern sowie zur Herkunftsfamilie, den Pfarrern und den Bewohnern im Umfeld des Seminars andererseits nachvollzogen werden. Für dieses zukünftige Projekt hat Hildegard Stratmann gute Vorarbeit geleistet.