„Die DDR hatte eine der höchsten Selbsttötungsraten der Welt“ – in diesem Satz, mit dem Udo Grashoff seine Studie beginnt, steckte über viele Jahrzehnte ein explosives Potential sondergleichen. Wie zuletzt in dem Oscar-gekrönten Film „Das Leben der Anderen“ aufgegriffen, war und ist die Tatsache, dass sich jedes Jahr zwischen 5000 und 6000 DDR-Bürger das Leben nahmen, Gegenstand von Tabuisierung einerseits, Anklage gegen das totalitäre System andererseits. Die Suizide stehen noch heute für die „soziale Pathologie“ (Ehrhart Neubert) des Realsozialismus und sind damit Element eines bürgerrechtlichen Diskurses, der die DDR und ihre Bevölkerung in Kategorien der psychischen Deformation eines „Gefühlsstaus“ (Hans-Joachim Maaz) interpretiert. Der gelernte Biochemiker Udo Grashoff kommt selbst aus der bürgerrechtlichen Tradition, und doch hat er sich in seiner Analyse ganz aus ihr gelöst und ihre Deutung des Suizidgeschehens selbst als historisches Phänomen dechiffriert.
Im ersten Teil schließt Grashoff an die soziologische und medizinische Forschung an und rekonstruiert statistisch und in exemplarischen Fallstudien das tatsächliche Suizidgeschehen in der DDR. Dabei zeigt sich schon nach wenigen Analyseschritten, dass die scheinbar so signifikante Suizidrate nicht auf die politischen Verhältnisse zurückzuführen ist. Die Werte waren nämlich auf dem Gebiet der DDR schon seit Beginn der regelmäßigen Todesstatistik im 19. Jahrhundert stets überdurchschnittlich, insbesondere in Sachsen und Thüringen. Sie sind „Ausdruck langfristig relativ stabiler mentaler Prägungen sowie […] Folge der durch unterschiedliche Konfessionen geprägten Milieus, die sich hinsichtlich bestimmter Suizid-Risikofaktoren wie Scheidungsraten und negative Selbstattribution (das heißt: Schuldzuweisungen an die eigene Person) unterschieden“ (S. 120). Insbesondere die Differenz zwischen Protestantismus und Katholizismus wirkt hier gleich doppelt: In katholischen Milieus gilt der „Selbstmord“ als Sünde, was fromme Menschen davon eher abhält. Außerdem vertuschen dort Angehörige, Polizisten und Ärzte Selbsttötungen häufiger als Unfälle oder natürliche Todesfälle. Die Statistiken selbst sind also bereits mit Vorsicht zu behandeln. In der DDR wurde dieser Trend durch eine hohe Obduktionsquote verstärkt. Als langfristig wirksam und offenkundig ohne politischen Bezug erweisen sich auch die überdurchschnittlichen Anteile von Männern und alten Menschen.
Auch Detailstudien zu SED-Apparat, Gefängnissen, Nationaler Volksarmee und Schulen bestätigen Grashoffs Zweifel am politischen Charakter von Selbsttötungen in der DDR. Schon statistisch fehlt es diesen Bereichen an jeder Signifikanz. Gerade die Gefängnisse, in denen man besonders viele Suizide erwartete, weichen (zumindest seit den 1960er-Jahren) von Vergleichsdaten aus der Bundesrepublik deutlich nach unten ab, wo drei- bis viermal so viele Selbsttötungen zu beklagen waren. Dies ist offenbar der hohen Kontrolldichte in der DDR-Haft geschuldet und insofern paradoxerweise ein Resultat gerade der repressiven Elemente des Systems: „Die wichtigste Erklärung für die vergleichsweise niedrige Selbsttötungsrate in den DDR-Gefängnissen ist die nahezu totale Überwachung“ (S. 76).
Wie Grashoff betont, waren als Auslöser für Selbsttötungen zu mehr als der Hälfte „intrapsychische Motive (Krankheit, Schmerzen, Psychose)“ ausschlaggebend und auch hinter den „sozial bedingten“ Fällen standen überwiegend „zwischenmenschliche, zumeist familiäre Konflikte“ (S. 122). Zugleich untersucht er eine ganze Reihe von Ereignissen und Konfliktfeldern, von denen möglicherweise Anlässe für Selbsttötungen ausgegangen sein könnten: von den Reaktionen auf die sowjetische Besatzung 1945 bis zu „Nachwende-Selbstmorden“ von hohen DDR-Funktionären und Stasi-Zuträgern.
Abgesehen von der Suizidwelle zum Kriegsende lässt sich allerdings nach dem Urteil Grashoffs nur Weniges entdecken, das zu messbaren Auswirkungen auf das Suizidgeschehen führte. Selbst Agrarkollektivierung und Mauerbau lösten relativ wenige Selbsttötungen aus: „Versuche, die Situation mit der Zeit der Judenverfolgung oder der Selbsttötungswelle 1945 gleichzusetzen, waren und sind dementsprechend völlig unangemessen“ (S. 216). Als einzige Ausnahme stiegen nach dem Mauerbau 1961 die Raten in Ost-Berlin sowie den Bezirken Frankfurt/Oder und Potsdam signifikant an. Die Rede von einer Epidemie verweist Grashoff jedoch in den „Bereich der Rhetorik des ‚kalten Krieges’“ (S. 225). Ansonsten lässt sich ein Zusammenhang nur bei flucht- bzw. ausreisewilligen DDR-Bürgern herstellen. Auch hier spielten psychopathologische Aspekte möglicherweise eine wesentliche Rolle, doch Grashoff erkennt einen Schuldanteil der SED-Diktatur, die „denjenigen, die unerträglichen Lebenssituationen entfliehen wollten, die Chance verwehrte, diesen Weg auszuprobieren“ und „durch die Diskriminierung und Kriminalisierung der Ausreisewilligen bestehende Krisensituationen verschärfte“ (S. 156).
Im zweiten Teil geht Grashoff auf die kulturellen Implikationen des Umgangs mit Selbsttötungen unter den Bedingungen der DDR ein. Das atheistische Regime war nicht den religiösen Konnotationen unterworfen, folgte andererseits aber eigenen, nicht weniger rigiden Normen. Aus den Traditionen der Arbeiterbewegung und des Antifaschismus heraus war der Suizid allenfalls als Akt des kämpferischen Heroismus legitimiert. Andere Motive stellten hingegen eine „Herausforderung für die Integrationsfähigkeit der sozialistischen Gesellschaft“ (S. 300) dar, die beanspruchte, Bedingungen zu schaffen, in denen es keinen Grund mehr zur Lebensmüdigkeit geben würde.
Die Praxis des öffentlichen Umgangs mit Selbsttötungen blieb dabei Konjunkturen unterworfen. So spielte die SED etwa den Suizid des ZK-Sekretärs Gerhart Ziller 1957, der aufgrund der Machtkämpfe in der Führung durchaus negative Schlagzeilen erwarten ließ, zwar als „in einem Anfall von Depression“ (S. 305) geschehen herunter, meldete ihn aber umgehend und sachlich zutreffend in den Parteizeitungen. Dies galt im Prinzip auch für weitere prominente Fälle der Ära Ulbricht. Unter Honecker hingegen behandelte die Presse Selbsttötungen in Kreisen von SED-Funktionären gar nicht mehr oder tarnte sie als Unfälle, wie im Fall des Finanzministers Siegfried Böhm, der 1980 von seiner Frau in einem „Mitnahmesuizid“ erschossen worden war. Entgegen aller Intentionen verstärkte diese Tabuisierung allerdings die Verbreitung von Gerüchten über angebliche politische Hintergründe noch.
Jenseits der prominenten Fälle entspannte sich die Haltung des offiziellen Marxismus-Leninismus zum Phänomen der Selbsttötungen in einigen Phasen, wie etwa von 1968 bis 1976, so dass auch die medizinische Suizidforschung einige Fortschritte machte. Dann jedoch verschärfte das SED-Politbüro 1977 die Geheimhaltung sämtlicher epidemiologischer Suiziddaten. Der Beschluss stand offenbar im Zusammenhang mit dem Skandal um die Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz. Danach gelangten auch an abgelegener Stelle keine Daten mehr in die wissenschaftliche Öffentlichkeit – und Forschung und Prävention erlitten einen entsprechenden Rückschlag. Erst in den letzten Jahren der DDR lockerte sich diese Praxis wieder, verbunden mit einer merkwürdigen Konkurrenz zwischen kirchlichen und staatlichen Stellen um die Einrichtung von Telefonseelsorgestellen.
Da die SED nicht nur die bloßen Daten zum Tabu erklärte, sondern auch die durchaus vorhandenen Erkenntnisse über den weitgehend unpolitischen Charakter des Suizidgeschehens, lud sich das Thema auf Seiten der Opposition umso stärker auf: „Hier wurden Selbsttötungen als Zeichen des Versagens des Sozialismus interpretiert. Diese Interpretation erweist sich als verständliche, aber angesichts der langfristigen Konstanz der Selbsttötungsrate unzulässige Übertragung der Erfahrung einer von staatlicher Repression bedrohten Lebensperspektive auf die Gesamtgesellschaft.“ (S. 301) Dies galt auch für die andere Ersatzöffentlichkeit der DDR-Gesellschaft, die Belletristik, in der der „Selbstmord“ gleichermaßen als Symbol für den inneren Zustand des Sozialismus interpretiert wurde.
Mit seiner Studie hat Grashoff das Selbsttötungsgeschehen in der DDR und den Diskurs darüber in Partei, Forschung, Kirche und Opposition mit radikaler Gründlichkeit und einem eindeutigen Ergebnis analysiert. Er hat, nebenbei gesagt, dabei allen Versuchungen beim Verfassen einer Dissertation widerstanden und einen Text vorgelegt, der sprachlich bestechend klar und frei von Jargon und Fachsprache ist. Wer dieses Buch gelesen hat, weiß nicht nur, warum im Gebiet der DDR eine so hohe Suizidrate bestand, sondern er hat auch gelernt, dass es ein Fehler ist, auf kurzem Wege einen Zusammenhang zwischen politischer Repression und Lebensmüdigkeit herzustellen. Diesen Fehler haben, auf unterschiedlichem Kenntnisstand und mit entgegengesetzten Motiven, die SED-Führung mit ihrer Tabuisierung und die DDR-Opposition mit ihrer Anklage gemacht – und die heutige Forschung sollte ihn nicht erneut begehen. Selbsttötungen, so die Quintessenz, müssen vielmehr in den allermeisten Fällen als eine traurige Form jenes vielbeschworenen „Eigensinns“ behandelt werden, die aus dem gesellschaftlichen Leben auch einer kommunistischen Diktatur nicht wegzudenken ist.
Sollte in diesem Lande mal wieder ein Preis zu vergeben sein für eine historische Studie, die wissenschaftlich brillant und zugleich ein aufklärerisches Werk sui generis ist, dann hätte ihn Udo Grashoffs Buch über Selbsttötungen in der DDR dringend verdient.