Wir lieben St. Petersburg. Den Abglanz der vergangenen Pracht, die europäischste Stadt des imperialen Russland. Trotz der Sogwirkung Moskaus und der Wiederentdeckung der russischen Provinz lässt das Interesse an Petersburg nicht nach. Die entsprechende Forschung füllt Regale.1 Im vorliegenden Buch verspricht Emily Johnson, uns durch die Zeitschichten dieser Literatur zu führen. Anstatt einen weiteren Titel hinzuzufügen, der Altbekanntes neu aufbereitet, interessiert sie sich für die Wege der Erforschung dieser Stadt. In Bibliographien und Bibliothekskatalogen sind diese Wege unter der Überschrift 'Landeskunde' (kraewedenie) zusammengefasst. Wie diese Einheit entstand und was ihre Kohärenz ausmacht, ist Gegenstand dieses Buches.
Emily Johnson möchte die Landeskunde als eine Disziplin betrachten, die wie die heutigen "women's studies, African American studies, and gay and lesbian studies" (S. 5) als ein Feld von Identifikationen fungiert. Als ein Feld, in dem das Erkenntnisinteresse vor allem um das 'Selbst' kreist und das viel stärker als die ehrwürdigeren Disziplinen wie Physik oder Biologie in zeitgenössische Grabenkämpfe und Standortbestimmungen eingebunden war und ist. Ganz im Sinne von Michel Foucault richtet sich die Arbeit an die Gegenwart. Die Weichen sind auf einen gesellschaftskritischen Kurs gestellt, der die unhintergehbare Koppelung der Wissenschaft und ihrer Epistemologie an andere kulturelle und soziale Systeme problematisiert.
Der Fokus der Studie liegt auf dem Denkmalschutz, der Exkursionsbewegung und der Stadt- und Landeskunde von 1900 bis 1930. Souverän gelingt es Emily Johnson, von diesen Feldern ausgehend weite Linien zu ziehen. Mit groben Strichen zeichnet sie nach, wie die frühen Lobpreisungen der imperialen Errungenschaft eines Lomonossow nach dem Aufstand der Dekabristen 1825 von düsteren Tönen überschattet wurden: Petersburg als künstliche Stadt, als Bastion der unbelehrbaren Autokratie, die eines Tages von den Fluten der Newa überdeckt und spurlos verschwinden würde. Die Verbindung zwischen dem städtischem Raum und den unterschiedlichen Diskursen stellten, so Emily Johnson, die "Wegführer" (putiwoditeli) dar. Wie die "Heimatbücher" im Deutschen Reich hätten sie die Diskurse des Lokalen zusammengehalten.2 Anfangs nach westeuropäischen Mustern von Gelehrten wie Johann Gottlieb Georgi erprobt, entstanden die Stadtführer in Russland als ein eigenes Genre. Der "Topos des Spaziergangs" fand Eingang in die Feuilletons und in die Belletristik. Indem alle späteren Autoren sich auf die älteren Beschreibungen bezogen, verstetigten und erweiterten sie Sankt Petersburg als Wissenskomplex.
Einen Schub der Selbstbeschreibung lösten die fortschrittspessimistischen Kreise um Alexander Benois und um die Zeitschrift "Welt der Künste" (Mir iskusstwa) aus. Sie stemmten sich gegen die Moderne, die um 1900 das alte Petersburg sichtbar verdrängte. Die Residenzstadt hatte sich zur Metropole der Banken, Kaufhäuser, Fabriken und Mietskasernen entwickelt. Die Eklektik des Historismus überwucherte die Klarheit der neoklassizistischen Ästhetik. Künstler, Literaten, Intellektuelle machten sich auf, um ihre alte Stadt, mit ihren Schlössern, Parks, Denkmälern und Kunstschätzen neu zu beschreiben und zu konservieren. Als Foren dienten ihnen Zeitschriften, deren Themenhefte von umtriebigen Redakteuren wie Benois und von jüngeren Kulturhistorikern wie Wladimir Kurbatow oder Pjotr Stolpjanski vorbereitet wurden. Die Zeugnisse der verschwindenden Stadt, stellt Emily Johnson heraus, wurden erstmalig umfassend bibliographiert, katalogisiert, photographiert und auf Hochglanzseiten präsentiert. Die Kulturkonservativen gründeten eine Kommission, die teils von privaten Spendern, teils durch staatliche Zuwendungen unterstützt, sich in die Bauplanung einzumischen versuchte. Wo die Vermittlung scheiterte, warf sie ihr Machtwort in die Waagschale und polemisierte in Zeitungskampagnen gegen den "Vandalismus" der Moderne.
In einem weiteren Kapitel, das sich wie die gesamte Monographie leider auf der Ebene der 'Großen Männer' des Kulturbetriebes und ihrer Texte bewegt, zeigt Emily Johnson, dass die Abdankung des Zaren und der Sturm auf die Paläste 1917 den Denkmalschützern paradoxerweise zum Aufwind verholfen haben. Die Symbole der alten Macht zerbrachen und der Mob machte sich daran, in die Schlösser einzubrechen, sich zu bereichern, die sichtbaren Zeichen der alten Ordnung zu vernichten. Dieselben Personen, die das alte Petersburg beschrieben, traten an die Bolschewiken heran, die die Paläste in Museen umwandelten und sie damit schützten. Der Untergang der Autokratie eröffnete der Stadt neue Räume. Diese galt es zu erfassen und zu konzeptionalisieren. Die Chancen, die sich im Machtvakuum des Bürgerkrieges und der ersten Jahre der NEP-Zeit ergaben, arbeitet die Autorin am Beispiel des "Museums der Stadt" und der "Gesellschaft des alten Petersburgs" anschaulich heraus. Ebenso weist sie auf die Grenzen hin, die die rote Herrschaft dem ansteigenden Interesse an Ausstellungen, Vorträgen und Exkursionen zur 'alten Welt' bereits 1924 setzte. Am Vorabend der Kulturrevolution war die Massenbewegung der freiwilligen Stadtforscher nahezu vollständig sowjetisiert.
Während die ersten drei Kapitel einigermaßen konsistent erscheinen, brechen die folgenden vier Kapitel auseinander. Der Hauptteil der Untersuchung – zur Exkursionistik im Palmyra des Nordens und ihren Vorreitern Iwan Grews und Nikolai Anziferow – zerfällt in lose verbundene Einzelfragmente. Argumentationslinien werden mitten im Kapitel abgebrochen, um Dutzende Seiten später wieder aufgenommen zu werden. Im Kapitel "Kraevedenie in St. Petersburg" wartet der Leser lange auf die Verbindung zur vorhergehenden Darstellung der Exkursionsbewegung in den frühen 1920er-Jahren. Emily Johnson macht hier klar, dass der an die Akademie der Wissenschaften angeschlossene Dachverband aller Regionalkundler recht wenig mit den Denkmalschützern und den Urbanisten von Petersburg gemein hatte. Warum, fragt man sich, nimmt dann die Geschichte dieser Institution einen derart prominenten Stellenwert in der Arbeit ein? Das Rätsel löst die Autorin im folgenden Kapitel nur teilweise auf: Nach der Sowjetisierung der eigenen Institutionen Mitte der 1920er-Jahre suchten die Exkursionisten Schutz in der Organisation der Regionalkundler, ohne jedoch darin eine wichtige Rolle gespielt zu haben. Erst in der Zusammenfassung liefert Emily Johnson eine plausible Erklärung für ihren Aufbau: Die Einheit zwischen den Vertretern der ästhetisierenden Urbanistik und der positivistischen Landeskunde stellten Zeitgenossen viel später her. In der Tauwetterperiode und vor allem gegen Ende der Sowjetunion erschien der Begriff 'Landeskunde' als Synonym für ein Wissenssystem, das sich nicht durch Regimetreue diskreditiert hatte: Die 'Säuberung' der Lokalforscher in den 1930er-Jahren wurde nachträglich zu einem gemeinsamen Nenner erhoben. Die Vielfalt verschmolz retrospektiv zu einer Wissenschaftsdisziplin und zu einem alternativen Feld kultureller Praktiken.
Die auseinander gerissenen Kapitel zu Exkursionsmethodik und zur literarischen Landeskunde verlieren sich in Einzelheiten zu den Arbeiten Anziferows. Die werkimmanenten und geisteshistorischen Einsichten in die literarische Stadttopographie mögen aufschlussreich sein, doch hier fehlt es an einer breiteren Einordnung. Fragen wie die Neuentdeckung des "Petersburg-Textes" durch die Semiotiker der Tartu-Schule in den 1980er-Jahren werden auf das ohnehin überladene Schlusskapitel verschoben. Johnsons zentrale These, die Landeskunde sei als ein Derivat der gesellschaftlichen Selbstverständigung in Russland entstanden, die seit den Slawophilen und Westlern der 1830er-Jahre über die Bedeutung der einzelnen Städte und Regionen verhandelt wurde, ist zwar ungemein spannend. Während die Gesellschaft in den USA sich selbst in Diskursen der Ungleichheit (ethnische, rassische, geschlechtliche) verhandelte, so Emily Johnson, sprach und spricht Russland über sich in der Verhandlung des Lokalen. Doch diese These, die endlich den pathetischen Topos der 'Regionen in Russland' entzaubern könnte, geht nicht aus der Studie hervor. Petersburg ist nicht Russland. Russland ist nicht Petersburg. Die Petrograder Urbanistik lässt sich nicht einfach zu "the discipline's leading edge" (S. 9) Russlands erheben, ohne die Landeskundler der Gouvernements einzubeziehen. Dass die Lokalforscher in den Provinzen bereits im 19. Jahrhundert eigene Traditionen herausgebildet haben und eigene Wege der Erforschung gegangen sind, legen andere Studien nahe.3 Transfers von Methoden und Denkstilen können nicht als Einbahnstraßen gedacht, Überlagerungen, Eigenlogiken und Rückkoppelungen nicht einfach ignoriert werden. Eine kulturhistorische Wissenschaftsgeschichte der Landeskunde in Russland liegt hier nicht vor, zu stark sind die Thesen von der Ausnahmestadt Petersburg abgeleitet. Wohl ist es aber Emily Johnson gelungen, uns eine "Idee von Kraewedenie" zu vermitteln.
Anmerkungen:
1 Zu nennen wären etwa: Buckler, Julie A., Mapping St. Petersburg: Imperial Text and Cityshape, Princeton 2005; Schlögel, Karl, Petersburg: Das Laboratorium der Moderne 1909-1921, München 2002.
2 In Anlehnung an: Confino, Alon, The Nation as Local Metaphor: Wurttemberg, Imperial Germany, and National Memory, 1871-1918, Chapel Hill 1997.
3 Vgl. Berdinskikh, Viktor, Uezdnye istoriki: Russkaia provintsial’naia istoriografiia, Moskau 2003.